Arm in der Hauptstadt
Dem Berliner Senat liegt der erste Armutsbericht vor
Soziale Desintegration schreitet voran


Von Lennart Laberenz

7-8/02
 

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Das Berlin ach so arm ist, hören wir jeden Tag. Und da wundert es auch nicht, dass BerlinerInnen ziemlich arm sind. Das jedenfalls ergab der erste Bericht zu Armut und sozialer Ungleichheit, den die Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, Heidi Knake-Werner(PDS) vorvergangene Woche vorstellte. Knake-Werner ist eine eher gelassene Frau. Gelegentlich hat diese Gelassenheit etwas hilfloses, wirkt in aller Freundlichkeit etwas unsicher; sucht nach Worten und verliert sich im Nachdenklichen. Eine Frau der markanten Worte ist sie kaum, was wahlweise als Vorteil, oder Schwäche gesehen werden kann. Nein, von der „Verslummung der Innenstädte“ möchte sie eigentlich nicht sprechen. Dabei wäre ihr dies kaum zu verübeln gewesen. Tatsächlich sind die vorgetragenen Statistiken auch keine Überraschung, wie etwa die sozialpolitische Sprecherin der Grünen Elfi Jantzen bemerkt: „Wir kennen die Tendenzen seit der Erhebung des Sozialatlanten 1998“. Insbesondere bei den Fragen nach politischen Konsequenz der Strukturdaten dominierte schließlich Knake-Werners händeringende Unsicherheit. Es zeigt sich, dass der Senat konzeptuell in den letzten vier Jahren nicht vom Fleck gekommen ist. „Ich kann mir da jetzt viel denken,“ fangen Knake-Werners Sätze an, die alsbald in amorphen Stichwortsammlungen eher mäanderten, als dass sie geplant wirkten. Kein Konzept, nirgends. Dabei ist die Lage – wie sollte es anders sein – verheerend.

Auf der Basis von 1999er Zahlen des Mikrozensus bedeutet Armut in Berlin nach OECD-Standard (dem sogenannten Äquivalenzeinkommen, dass 50% weniger als das relative Durchschnitteinkommen so definiert) monatlich 546Euro oder weniger zur Verfügung zu haben. Für Berlin sind dies 12,8% der Bevölkerung, umgerechnet etwa 435 000 Menschen oder jedEr Achte in der Stadt. Für den alten Westteil der Stadt werden 14,2% gemessen, im Osten sind es 10,6%. Die Spaltung begründet sich in der geringeren Ausdifferenzierung der ostdeutschen Lohnentwicklung. Insgesamt liegt Berlin damit gegenüber dem Bundesdurchschnitt um 2,7% vorne. Tatsächlich, so Knake-Werner, „die Stadt nimmt sicher eine herausragende Stellung ein.“ Und das, obwohl bei genauerem Hinschauen der Einkommensdurchschnitt 150 Euro unter dem Bundesdurchschnitt gemessen wird.

Wirklich katastrophal steht es um die westlichen Innenstadtbezirken bestellt. In Kreuzberg sind 26,4% der Haushalte betroffen, im Wedding noch knapp ein Viertel (23,4%) und im Tiergarten fast jeder fünfte (17,7%). Die Qualifikationen sind dabei die alten und weit über Berlin hinaus gültigen: Kinder sind ein erstes Armutsrisiko, in Berlin leben 133 898 Kinder (von knapp 570 000) unter der Armutsgrenze. Armutslebensläufe werden hier vorgeprägt. In der Stadt leben 15,1% der Jugendlichen als Sozialhilfeempfänger. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 6,8%. Und der Politik der rosa-roten Koalition kann nicht mit Unrecht der Vorwurf der Konzept- und Perspektivlosigkeit, wie auch der sozialpolitische Sprecher Gregor Hoffmann von der CDU bemerkt. Das tut er bezüglich der Sparmaßnahme relativ weitschweifig, während Jantzen bei den gleichen Aspekten zum Punkt kommt: „Mit dem Haushaltsentlastungsgesetz wird eine perverse Politik weitergetrieben. Bei den Kindertagesstätten werden statt vorher 16 bald 22 Kinder pro ErzieherIn kommen, auf 160 Kinder kommt dann eine Freistellung für Leitungsaufgaben.“ Hier erhöht sich die Zahl um 40%, aber grade Kita-LeiterInnen sind es, die Eltern in die Erziehungsmaßnahmen miteinbeziehen, die gegen die steigenden Verwahrlosungserscheinungen ankämpfen, in dem sie beispielsweise einfach Frühstück oder Kleidung für Kinder aus armen Elternhäusern organisieren.

Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren und ältere alleinstehende Frauen sind weitere Risikogruppen. Diese Komplexe werden noch einmal verschärft, wenn dazu das Sozialmerkmal der Migration kommt. In Berlin lebten im gleichen Jahr 1999 rund 387 000 MigrantInnen, rund 126 000 davon waren türkische BerlinerInnen. Die absolute Mehrheit der MigrantInnen wohnt in Kreuzberg, Neukölln, Wedding oder dem Tiergarten. Keine zufällige Überschneidung. 151 775 MigrantInnen sind nach dem Bericht aus dem Hause Knake-Werner arm.

„Familien nichtdeutscher Herkunft“, wie das Amtsdeutsch diese soziale Schicht benennt, leben also mit hoher Wahrscheinlichkeit in Berlin an oder unter der Armutsgrenze, sie ballen sich in Armutsgettos, die alsbald innerstädtische Slums genannt werden können. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass es schlechtere soziale Infrastruktur und Arbeitsmöglichkeiten gibt. Die Wohnviertel verkommen, Perspektivlosigkeit erzeugt Frust, Gewalt und Zerstörung. Die Brennpunkte entwickeln dabei soziale und kulturelle Schließungsdynamiken. Das hochgradig selektive und diskriminierende Schulsystem fragt hauptsächlich vorgegebene bildungsbürgerliche Dogmen ab, die allgemeine Sprachvermittlung selbst bei Muttersprachlern, so zeigte die PISA-Studie, ist schlichtweg katastrophal. Der Anteil der Kinder aus Akademikerhaushalten stieg um die Jahrtausendwende auf 52%, während Kinder, deren Eltern einen Hauptschulabschluss vorweisen nur zu einem Viertel an den Universitäten vertreten sind.

Dies bedeutet für MigrantInnen eine doppelte Diskriminierung. Deutschland verzichtete vierzig Jahre lang bewusst auf wirkungsvolle Integrationspolitik und negierte aus grundkonservativem Weltverständnis den Status des Einwanderungslandes schlichtweg. Dafür wurde der „Gastarbeiter“ erfunden, er sollte der Wirtschaft helfen, die dreckigen Jobs übernehmen, etwas mehr verdienen als zu Hause und dann gefälligst dorthin wieder zurückkehren. Alle die blieben hatten sich dem normativen deutschen Kulturideal unterzuordnen – Jägerzaun und Mercedes sollten Richtschnur bleiben.

Nun steht Deutschland und insbesondere Berlin vor den Trümmern dieses Selbstverständnisses. In den Armutsgebieten in Kreuzberg reproduzieren sich fast schon Parallelgesellschaften. Zwar spielen bei der Möglichkeit der Integration verschiedene Dinge eine elementare Rolle, so etwa der normative Anspruch an die MigrantInnen, das Einreisealter, die soziale Schichtenzugehörigkeit usw. Dennoch zeigen die Zahlen eine relativ eindeutige Tendenz: Knapp zwei Drittel (61, 7%) der Berliner MigrantInnenkinder besuchen die Hauptschule, die AbbrecherInnenquote liegt mit 26,6% doppelt so hoch wie beim gesamten Durchschnitt. Während rund ein Drittel aller Berliner SchülerInnen das Abitur machen, sind es nur 10,9% MigrantInnen. Von den Eltern ist zumeist wenig Hilfe zu erwarten – hier sind sprachliche Barrieren, wie auch kulturelle Differenzen mitunter zu groß. Dazu, so erhob der Berliner Sozialwissenschaftler Klaus Kohlmeyer, ist die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher in Deutschland generell gesunken. Daraus resultieren steigende Desintegrationstendenzen. Anfälligkeiten für religiösen Extremismus und kulturelle Schließungen sind vor allem Ergebnisse von der Unmöglichkeit von MigrantInnen sich in der Gesellschaft anders zu etablieren und ihre Identität zu sichern.

Wichtige Ansatzpunkte für Integrationsleistungen, unterstreichen sowohl Hoffmann als auch Jantzen, sind sprachlicher Natur. Dass hier die große Koalition nach 1998 die dramatische Situation allenfalls zu konservieren versuchte, spielt beim CDU Abgeordneten keine Rolle. Und doch weisen Jantzen und Hoffmann auf die gleichen Probleme der Haushaltspolitik hin: tatsächlich wird nun im nächsten Jahr grade bei vorschulischen Bildungseinrichtungen, bei Sportvereinen und freien Trägern, die die Funktion der Sprach- und Bildungsvermittlung trotz vollmundiger Versprechen auf den Innenstadtkonferenzen in den letzten Jahren erheblich gekürzt. „Der Senat,“ zeigt sich Jantzen frustriert, „kürzt bei den Bezirken die Infrastrukturmittel und legt Sonderprogramme auf.“ Wie Heftpflaster sollen die kurzfristige Blutungen unterbinden, Probleme werden erkannt und vertagt. „Wir würden ja mitwirken,“ lamentiert Hoffmann, „aber das ist ein einziges Stochern!“ Das verbale Schulterzucken beider führt im wesentlichen dahin, wo auch Knake-Werner hinzeigt, wirkliche Problemlösungen sind wohl auf der Bundesebene anzustreben.

Hier scheinen Probleme demnächst aber vielleicht noch anders verwaltet zu werden: Als unlängst der bayrische Kanzlerkandidat Edmund Stoiber klar gegen eine Integration der Türkei in die EU Stellung bezog, begründete er dies mit der Tatsache, dass er „die europäischen Außengrenzen nicht bei Syrien oder dem Irak sehe.“ Es geht also um eine kulturelle Reinhaltungsgrenze. Nicht nur ein fraglicher Indikator, sondern wohl die logische Fortführung der Politik die einem Großteil von MigrantInnen strukturell den Weg in die Gesellschaft verbaut.

Die Reichtumsrangliste wird schließlich vom Stadtteil Zehlendorf angeführt, auf rund 640 Einwohner kam hier Mitte der 90er Jahre ein Einkommensmillionär. Der Armutsbericht verzeichnet 5,3% aller Haushalte als von Armut betroffen. Kaum verwunderlich, dass hier die großen Villen und Parks mit uraltem Baumbestand zu finden sind, in die sich gerne auch jene Manager der Berliner Bankgesellschaft, die in der Konsequenz von Korruption, halbseidener Günstlingswirtschaft und profilierte Vergabestelle für Steuergeschenke von Prominenten Pleite ging, einmieten. Der Senat, politisch hochgradig verstrickt, übernahm grade eine Bankbürgschaft von bislang 21,67 Mrd. Euro. Und die Manager leben in Zehlendorf zu Sonderkonditionen.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns am 26.7.2002 diesen Artikel mit der Bitte um Veröffentlichung. Er wurde am 3.8.2002 aktualisiert.