1989-1999
Die Wende als Ausdruck neoliberaler Verallgemeinerung 

von Mario Candeias

7-8/02
 

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Das Jahr 1989 und mit ihm die deutsch-deutsche (Wieder)Vereinigung sind Ausdruck eines historischen Bruchs, der seinen Ausgang 20 Jahre zuvor nahm. Wir erlebten mit der >samtenen Revolution< in Tschechien und der DDR nicht nur den Zusammenbruch des SED-Staates und später des gesamten >real-existierenden Sozialismus< in Ost- und Mitteleuropa, sondern auch die Abwicklung des westdeutschen und westeuropäischen Fordismus.

Krise des Fordismus in Ost und West

Bereits gegen Ende der 60er Jahre gerät das fordistische Akkumulationsmodell in die Krise (Candeias 1998: 83). Ausgehend von den USA ist ein struktureller Rückgang der Kapitalrentabilität in fast allen kapitalistischen Zentren zu verzeichnen. Grundlegend dafür ist, daß sich die im fordistischen Akkumulationsprozess liegenden Produktivitätsreserven zu erschöpfen begannen. Dies führt zu einem (tendenziellen) Fall der Profitrate, der innerhalb der institutionellen Formen der fordistischen Regulationsweise nicht mehr ausgeglichen werden kann: eine Überakkumulationskrise, in welcher >die Kapitalintensität schneller steigt als die Arbeitsproduktivität wächst und der daraus resultierende Anstieg der Kapitalkoeffizienten einen Rückgang der Profitrate bewirkt< (Hübner 1988: 40). Auf die Krise des fordistischen Akkumulationsregime reagieren Unternehmen mit einer forcierten Rationalisierung der Produktion und zahlreichen Entlassungen. Unter dem Druck der entstehenden Arbeitslosigkeit und niedriger Wachstumsraten können Lohnkosten beschnitten, die Entwicklung der Löhne von der Steigerung der Produktivität grundsätzlich abgekoppelt und die institutionelle Stellung der Gewerkschaften redimensioniert werden. Die sinkenden Wachstumsraten und zunehmende Sozialkosten durch Rationalisierungsmaßnahmen und damit verbundenen Entlassungen untergraben aber die Fundamente des herrschenden ausgabenorientierten, staatsinterventionistischen Regulationsmodus. >Der institutionalisierte sozialstaatliche Verteilungsmechanismus und die strukturkonservierenden Subventionspolitiken der monopolistischen Regulation konnten nicht mehr aus starken Sozialproduktzuwächsen finanziert werden und erzeugten damit ihrerseits [z.B. über höhere Abgaben, d.A.] einen zusätzlichen Druck auf die Profitrate< (Hirsch 1995: 84). Die sozialstaatlich-keynesianische Regulationsweise, die über Jahrzehnte die Stütze der Kapitalakkumulation dargestellt hatte, wird damit zu deren Hemmnis. Die Verbindung von ökonomischer Krise und Krise der fordistischen Regulation führt zu einer instabilen, tendenziell stagnativen Akkumulationsrate. Das Ungleichgewicht zwischen Akkumulationsregime und Regulationsweise führt zur Entwicklung eines historischen Bruchs und zur Aufkündigung des sozialen fordistischen Kompromisses. 

Folge des Krisenzusammenhangs von Überakkumulation und Profitratenverfall war ein zunehmender Überschuss an liquiden Mitteln, die nicht reinvestiert wurden und auf diese Weise zur unkontrollierten Expansion der Weltfinanzmärkte führte Das in Folge des Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems (Candeias 1998: 84) etablierte Regime flexibler Wechselkurse, ergänzt durch liberalisierte und deregulierte Weltfinanzmärkte, führte keineswegs zu der von neoliberaler Seite erwarteten Stabilisierung der krisenhaften Entwicklung. Die Aufblähung der internationalen Geld- und Kapitalmärkte führte vielmehr zur Persistenz eines hohen Realzinsniveaus und zur Blockade produktiver Investitionen. Während auf diese Weise die monetäre Akkumulation in Form wachsender Geldvermögen voranschreitet, verbleibt die reale Akkumulation in Form produktiver Investitionen und wirtschaftlichen Wachstums bis heute in einer stagnativen Situation. Monetäre und reale Sphäre sind also entkoppelt (ebd.: 95). Die fordistische Entwicklungsweise war also bereits in den 70er Jahren in eine strukturelle Krise geraten, >in which a downturn does not correct itself endogenously, and which therefore requires basic changes in the institutions that regulate the accumulation process and establish the conditions for profitability... leading... to the construction of a new social structure< (Gordon u.a. 1983: 152). 

Auch das sowjetische oder ostdeutsche Plansystem kann letztlich als >halbierter Fordismus< analysiert werden. Dessen technologisches Paradigma war die Übernahme eines (unvollendeten) Taylorismus verbunden mit einer starren Rigidität der Arbeitsverhältnisse (Unkündbarkeit), ausgehandelt zwischen staatlichem `Management´ und Lohnarbeitern innerhalb der Staatspartei – der soziale Kompromiß des real-existierenden Sozialismus. Das Akkumulationsregime bestand aus einem Modell nachholender Industrialisierung mittels Importsubstitution, geschützt durch hohe Zollschranken und ein staatliches Aussenhandelsmonopol. Die Dynamik des Produktionsprozesses wurde allerdings auf die Entwicklung von Produktionsgütern (Abteilung I) konzentriert, während die Produktion von Massenkonsumgütern (Abteilung II) vernachlässigt wurde. Die Dynamik des fordistischen Systems im Westen ergab sich aber gerade aus der Kopplung von Massenproduktion und Massenkonsumtion. Der Übergang von einem extensiven zu einem intensiven Akkumulationsregime konnte in den staatskapitalistischen Ländern des Ostens nie vollzogen werden. Aber >tayloristisch durchrationalisierte Dauerleistungen sind den Arbeitern nicht abzuverlangen, wenn das Konsumgüterangebot keine persönlichen Gratifikationen, selbst in der entfremdeten Form von Warenfetisch... bereithält... Der televisionäre Systemvergleich bringt dies täglich zu Bewußtsein< (Altvater 1992: 43). Bereits ab 1950, spätestens seit den 60er Jahren kamen die Beschränkungen dieses Modells gegenüber dem westlichen Fordismus zum tragen.1 Die durch die ökonomische Krise aufgerissenen Versorgungslücken konnten mittels Importen, unter Rückgriff auf externe Kredite vorübergehend geschlossen werden. Mit der Aufnahme von Krediten aus dem kapitalistischen Ausland wurde die Dissoziation vom Weltmarkt allerdings zu einem unhaltbaren Unterfangen. Nun mussten Devisen erwirtschaftet werden, um den Schuldendienst leisten zu können. War dies in den 70er Jahren bei durchgehend schwankenden aber niedrigen Zinsraten möglich, so änderte sich die Situation zu Beginn der 80er Jahre dramatisch. Der Zinsschock, der die Länder der Dritten Welt in die Schuldenkrise stürzte, machte auch vor dem real-existierenden Sozialismus nicht halt. Der Schuldendienst führte zur Überforderung der ökonomischen Leistungsfähigkeit. Somit hat die Aufnahme von Krediten die krisenhafte Zuspitzung der Lage nur verzögert bzw. verschleiert und wurde letztlich selbst zum beschleunigenden Faktor des Zusammenbruchs. Frühzeitige Versuche das System zu reformieren, wie der Prager Frühling 1968, wurden durch die realen Machtverhältnisse immer wieder blockiert. Letztlich sind real-sozialistische Systeme nicht wegen des Mangels an materiellen Wohlstand gescheitert, sondern an der mangelnden Flexibilität der Anpassung von gesellschaftlichen Institutionen an Krisentendenzen, die zu lange verdeckt worden sind. Beschleunigt wurde der Zerfall der Sowjetunion maßgeblich auch durch die deutsche Vereinigung, die die schwindenden Kräfte des Imperiums zur Gewährleistung der Ordnung ihrer Satelliten deutlichst vor Augen führte. 

Neue soziale Bewegungen in West und Ost haben zum Schwinden des ideologischen Kitts von Fordismus und Staatssozialismus entscheidend beigetragen. Die Schwäche des Ostens war, dass er diese Kräfte nicht integrieren und somit ihre gesellschaftliche Reformkraft nicht nutzen konnte. In Tschechien, Polen, Ungarn und der DDR fegten sie das alte System hinweg. Im Westen hingegen konnten die >68er< in die Erneuerung des Systems integriert werden. Gemeinsam war ihnen, dass sie gegen Verkrustungen des Alten, des Fordismus hier und des Staatssozialismus dort, gerichtet waren. Ihre Kraft erlahmte (zu Beginn der 90er Jahre) mit dem verschwinden ihrer Entstehungsursachen. Neue soziale Bewegungen haben auf diese Weise an der Überwindung überkommener Strukturen und Institutionen mitgewirkt, doch immer gefährdet beim Marsch durch die Institutionen radikale Positionen abzuschmelzen und anschließend ohne Kraft ein neues soziales Projekt zu implementieren. >Das Alte stirbt [während] das Neue... noch nicht zur Welt kommen kann< (Gramsci 1991, Bd.2: 354). Was bliebe, wäre zugespitzt die Zuarbeit neuer sozialer Bewegungen bei der Durchsetzung neuer/alter (neoliberaler) Regulationsformen, >begleitet von einem dünnen Strom radikaler Kritik< (Roth 1998: 113) -- also im Sinne Gramscis die Einverleibung oppositioneller Gruppen in einen neuen herrschenden Block.3

Die neoliberale >Revolution<

Der Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus war Voraussetzung für die Durchsetzung und Verallgemeinerung eines neoliberalen Projektes. Ohne alternative Form der Vergesellschaftung, auch in ihrer repressiven und ideologischen Ausprägung, besteht für das System der Marktwirtschaft keine Notwenigkeit zur Rücksichtnahme auf soziale u.a. Interessen mehr. Mit dem Bankrott des Staatssozialismus scheinen auch alle emanzipativen Projekte und Utopien desavouiert, auch wenn sie sich explizit gegen einen ^Sozialismus^^ sowjetischer oder ostdeutscher Provenance wendeten. Mit der Krise des Fordismus in Ost und West wird nicht nur die sozialistische sondern auch die keynesianische Planung der Wirtschaft an den Pranger gestellt. In dieser Situation gelingt es dem Neoliberalismus auf der Basis einer ökonomischen Theorie, als deren herausragendste Vertreter Friedrich von Hayeck und Milton Friedman benannt werden können,4 die öffentliche Wahrnehmung weitestgehend zu beeinflussen und für sich einzunehmen. Die neoliberale Utopie entfaltet dabei revolutionäre Kräfte. Krise des Fordismus und Massenarbeitslosigkeit bieten die Grundlage für die Errichtung des neoliberalen Fundaments: die strukturelle Gewalt der Arbeitslosigkeit macht eine wachsende Reservearmee, „die keine ist, weil Arbeitslosigkeit isoliert, atomisiert, individualisiert, demobilisiert und entsolidarisiert“ gefügig (Bourdieu 1998: 113). Die Prekarisierung der Arbeit, Verunsicherung und Angst vor Entlassung lähmen auch die große Mehrheit der Beschäftigten. Die Zersplitterung verallgemeinerter und standardisierter in individualisierte und deformalisierte Arbeitsverhältnisse führt zum Verlust des >revolutionären Subjekts< der Linken, zur Schwächung der Gewerkschaften und somit zur hegemonialen Stabilisierung des Neoliberalismus. Kennzeichen der konservativen Revolution des Neoliberalismus ist dabei nicht nur die planmäßige Zerstörung bestehender Strukturen und die Restauration vergangener. Es geht nicht um die Beschwörung einer verklärten Vergangenheit, sondern um die positive Besetzung des Zukunfts- und Fortschrittsbegriffs5 verbunden mit einer >Umwertung der Werte< (Baumann 1999). Der Abbau von Sozialstaat und Arbeitnehmerrechten wird begleitet von einer technologischen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dem Wegfallen der Sicherheit eines festen Arbeitsplatzes wird die >Befreiung der Kraft und der Kreativität des Individuums< (Hans-Dietrich Genscher, FR 4.5.85) entgegengestellt. Die Untergrabung politischer Einflußrechte wird erkauft über die Präsentation einer wunderbaren neuen Warenwelt: der citoyen wird zum Bürger wird zum Konsumenten. Die Erosion nationalstaatlicher Handlungsmöglichkeiten wird betrieben über eine Propagierung des Weltbürgertums in Form ökonomischer und kultureller Globalisierung und der Vielfalt der Lebensstile. Die ökonomische Freiheit, so Hayeck, wird als >Vorbedingung für jede andere Freiheit< konstitutiv. Gleichzeitig gelingt es nationalistische Kräfte einzubinden durch eine Verbindung von >Computer und Lederhosen< (Stoiber). >Die Verbindung liberaler Werte mit dem traditionellen Fundus religiös-moralischer und nation- sowie familienzentrierter Werte< (Herkommer 1998: 20) macht das Spezifische der neoliberalen Revolution aus. Der Neoliberalismus stellt sich also mitnichten als reine Destruktivkraft (Bourdieu 1998: 110) oder als >konservative Restauration< (Bischoff u.a. 1998: 9) dar. Er entfaltet durchaus produktive Kräfte: die Rücknahme extremer Arbeitsteilung in der Produktion kann die Arbeit der Beschäftigten von Monotonie befreien, neue Produktionsformen ihr Wissen integrieren; Computerisierung und Automatisierung können uns von schwerer körperlicher Arbeit entlasten; Internationalisierung von Kultur- und Warenwelt uns vor nationaler Borniertheit bewahren, Entstaatlichung uns von Bevormundung retten und die Suche nach neuen kollektiven Formen befördern. Die Früchte dieser Kräfte werden jedoch ungleicher verteilt als jemals zuvor in diesem Jahrhundert.  

Der Faktizität der neoliberalen Sichtweise wird durch die diskursive und konkrete Konstruktion von Sachzwängen zur Geltung verholfen. In Reaktion auf die Krise des Bretton-Woods-Systems zu Beginn der 70er Jahre beschlossen die nationalen Regierungen, das Regime der festen Wechselkurse aufzugeben. Damit setzten sie, flankiert von weiteren Abkommen wie dem GATT und der WTO, eine Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang, die wir heute als Globalisierung bezeichnen. Reagan, Thatcher und mit ihnen Kohl u.a. setzen (mit unterschiedlicher Radikalität) im weiteren Verlauf eine Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung durch, die den Kräften des Marktes Freiheiten eröffnen und staatliche Eingriffe massiv begrenzen sollte. Der Typus der medialen Politiker hat es gelernt, den Wählern die Mechanismen der Globalisierung als Naturgesetze zu vermitteln. Die vermeintliche >Entideologisierung< im Namen von Naturgesetz und ökonomischen Sachzwängen >erweist sich als die erfolgreichste Finte der herrschenden Ideologie, um sich gegen öffentlichkeitswirksame Kritik zu immunisieren< (Zinn 1998: 38). Der berühmt berüchtigte Finanzspekulant George Soros schreibt zutreffend: >Der Marktfundamentalismus ist inzwischen so mächtig, dass alle politischen Kräfte, die sich ihm zu widersetzen wagen, kurzerhand als sentimental, unlogisch oder naiv gebrandmarkt werden< (1999: 27). Einzelstaatliche Maßnahmen gegen die Funktionsweise der Märkte, eine Stärkung politischer Logik gegenüber der Logik des Marktes, so will es scheinen, wären glatter Selbstmord. Politiker, die sich immer noch der Illusion ihrer Macht und ihres Einflusses hingeben, haben, so Bundesbankchef Tietmeyer, noch nicht begriffen, >wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden<.6 >Der Neoliberalismus zeigt sich uns schließlich im Schein der Unausweichlichkeit< (Bourdieu 1998: 40). Geschmückt mit den Insignien der Modernität, im Namen von Freiheit, Fortschritt und gesellschaftlichen „Reformen“ erscheint gegenüber dieser neoliberalen Utopie jedes wirklich fortschrittliche Denken und Handel im Sinne einer Emanzipation aller Menschen, als Festhalten an überkommenen fordistischen Strukturen, als Rückkehr zum Zwang kollektiver Institutionen, mithin als rückwärtsgewandt und reaktionär. Ähnlich der marxistisch-leninistischen Staatsdoktrin des real-existierenden Sozialismus wird die wissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit durch den Neoliberalismus zum Dogma, zur >Religion< (Alan Freeman) erhoben. Planmäßig wird die Struktur von Fordismus und Wohlfahrtsstaat zerstört und gleichzeitig ein ökonomisches Regime errichtet, das mit seiner ideologisch-theoretischen Beschreibung übereinstimmt. Es gibt keine weißen Flecken mehr auf dem Globus: alternativlos und weltweit hat sich der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form zu einem globalen System von Waren- und v.a. von Finanzmärkten entwickelt, wie es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest vorschwebte.

Deutsch-deutsche Vereinigung: Katalysator des Neoliberalismus

In den 80er Jahren fiel der Bruch mit der Vergangenheit der fordistischen Regulationsweise in Deutschland doch weniger markant aus als beispielsweise in Großbritannien oder den USA. Die Erfordernisse der deutsch-deutschen Vereinigung boten nun günstige Bedingungen für die Durchsetzung und Verallgemeinerung des neoliberalen Projektes in Deutschland. 

Zunächst bot die Erweiterung des Binnenmarktes durch die Vereinigung Möglichkeiten der weltwirtschaftlichen Rezession von 1990/91 zu entgehen. Eine boomende Konsumnachfrage ermöglichte die (vorübergehende) Auslastung westdeutscher Überkapazitäten. Die  Sonderkonjunktur, die dem westdeutschen BIP ein Wachstum von 4,5 % bescherte, offenbarte allerdings kurz darauf ihre negativen Seiten. Die Konsumwelle konnte nicht vollends durch westdeutsche Unternehmen abgedeckt werden und löste auf diese Weise einen Importsog aus. Zum ersten mal (seit der Rezession von 1981) musste Deutschland ein Handelsbilanzdefizit hinnehmen. Doch nicht wegen der drastischen Steigerung der Importe, sondern aufgrund des massiven Einbruchs der Exportwirtschaft war das Defizit problematisch. Diese Schwäche des zeitweiligen ^Exportweltmeisters^^ war Ausdruck einer Restrukturierungskrise, welche die USA und Großbritannien bereits 1990/91 erfaßte. Während diese Länder 1991/92 konjunkturell wieder aus dem schlimmsten heraus waren, geriet Deutschland vereinigungsbedingt erst jetzt in die Krise. Die deutsche Vereinigung hatte also für einen asynchronen Verlauf der weltwirtschaftlichen Rezession geführt. Nun aber wurde aus Sicht der Unternehmen eine Modernisierung umso dringlicher und um so tiefer sollten die erforderlichen Einschnitte erfolgen.  

Mit der deutschen Währungsunion und dem dadurch bedingten Zusammenbruch der osteuropäischen Exportmärkte für ostdeutsche Unternehmen setzte, begleitet von der desaströsen Privatisierungspolitik der Treuhand, eine massive Deindustrialisierung Ostdeutschlands ein. Die in dieser Höhe nur mit den Peripherien Südeuropas vergleichbare Massenarbeitslosigkeit in den FNL7 stellte eine geeignete Voraussetzungen zur Senkung sozialer Standards dar. Dort, wo Reindustrialisierung in Form einer Errichtung isolierter Produktionsenklaven in einem Prozess der Restrukturierung europäischer Produktionsnetze (Candeias 1999) stattfand, konnten lohnpolitische Zugeständnisse abverlangt, eine Deformalisierung und Individualisierung der Arbeitsverhältnisse betrieben und neue Formen der Arbeitsorganisation, der ^lean production^^ mit flexiblen Arbeitszeiten durchgesetzt werden. Tarifstrukturen konnten aufgeweicht werden durch das Austreten der Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden. Für Unternehmen bot sich nun nicht mehr nur im europäischen oder globalen, sondern auch im deutschen Raum der Zugriff auf eine Peripherie. Die Existenz einer ^inneren Peripherie^^ übt angesichts ökonomischen Wachstumsschwäche, Krise überkommener fordistischer Strukturen und wachsender Arbeitslosigkeit auch im Westen immer stärkeren Druck auf bestehende soziale Errungenschaften aus. Die Verallgemeinerung des Neoliberalismus, durch >institutionelle Rigiditäten< bislang erschwert (Altvater/Mahnkopf 1993: 192), konnte nun auch in Westdeutschland entfaltet werden: Lohndifferenzierung, Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit und die Diversifizierung räumlicher und sozialer Strukturen in Deutschland  - >weniger aus objektiven ökonomischen Gründen als aufgrund einer politischen Ideologie, die die Vereinigung zu ihrem Vehikel macht< (Ziebura u.a. 1992: 188). Enorme Transferleistungen (Sozialleistungen, steuerliche Abschreibungsmodelle und massive Subventionierung von Investitionsmaßnahmen mit Förderquoten zwischen 40 und 60%) in die FNL werden als Vorwand für die Durchsetzung einer massiven Spar- und Stabilitätspolitik, für Sozialkürzungen und Umverteilung zugunsten von Unternehmen und Vermögensbesitzern genutzt. Sinkende Steuereinnahmen bei gleichzeitig steigenden sozialen Kosten führen zu einer zunehmenden Verschuldung der öffentlichen Haushalte, die potentiell das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte gefährdet. Unter dem Regime flexibler Wechselkurse und liberalisierter und deregulierter Finanzmärkte erlangen die Bedingungen monetärer Stabilität aber entscheidende Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Dieser >stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse< wirkt disziplinierend auf soziale Gruppen, die andere, nicht stabilitätsorientierte Interessen verfolgen: Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Arbeitslose und sozial Benachteiligte. Die Konstruktion monetärer ökonomischer Sachzwänge wird von den neoliberal-konservativen Kräften zur >Abwicklung< (ebd.: 180) des westdeutschen Fordismus und Durchsetzung ihrer angebotsorientierten Politik genutzt.  

Die Dominanz der Bundesbank im Europäischen Währungssystem setzt auch andere Zentralbanken dem Zwängen einer Stabilitätspolitik aus. 1991 wird der Vertrag von Maastricht verhandelt und schließlich im Februar 1992 verabschiedet. Um den neu entstandenen deutschen Koloss noch stärker in den europäischen Integrationsprozess einzubinden und neuen, aus der Vereinigung erwachsenden hegemonialen Tendenzen der Deutschen und ihrer D-Mark im voraus zu begegnen, waren, so Hellmut Schmidt (1999), die generell weniger stabilitätsorientierten Partner in der EU in den Verhandlungen gewillt, die von den Deutschen favorisierten harten Konvergenzkriterien zur europäischen Währungsunion und die starke Unabhängigkeit einer Europäischen Zentralbank zu akzeptieren. Die Bundesbank selbst >sah die meisten ihrer Ziele im Vertragswerk von Maastricht verwirklicht<, die europäische Währungsunion erfüllt >fast unverändert den Vorschlag... von Bundesbankpräsident Pöhl< (Bernholz 1998: 819). Auf diese Weise wurde die Abwicklung des europäischen Modell des Wohlfahrtsstaates, der bislang dem Druck des neoliberalen Projekts stärker zu widerstehen suchte als die USA oder Großbritannien, zementiert und eine bestimmte Form monetaristischer Stabilitätspolitik institutionalisiert (Candeias 1999). Auch die in den letzten Jahren überall in Europa an die Macht gekommenen sozialdemokratischen Parteien trachten nicht mehr danach dem neoliberalen Projekt entgegenzuwirken und ökonomische Sachzwänge aufzubrechen, sondern ordnen sich den harten „constraints“ monetärer Stabilität im europäischen Währungsraum unter. Die schlimmsten Grausamkeiten eines konservativen Neoliberalismus werden nun sozialverträglich abgefedert, um die Funktionsfähigkeit nationaler Wettbewerbsstaaten auf globalisierten Märkten zu gewährleisten. Die herrschende ökonomische Logik wird nicht hinterfragt, sondern durch einen sozialdemokratischen Neoliberalismus hegemonial abgesichert. 

Die Wende von 1989 ist also keineswegs als Wende zur alten >sozialen Marktwirtschaft< westdeutschen Typs zu verstehen, sondern vielmehr als Wende zu einem gesamtdeutschen und europäischen Neoliberalismus. Sie ist Ausdruck einer neoliberalen Revolution die zu Beginn der 80er ihren Lauf nahm, sich Anfang der 90er entscheidend stabilisieren konnte und sich heute anschickt unter sozialdemokratischer Führung hegemonial zu werden.  

Literatur: 

Altvater, E. (1992): Die Zukunft des Marktes, Münster
Altvater, E./Mahnkopf, B. (1993): Gewerkschaften vor der europäischen Herausforderung, Münster
Altvater, E./Mahnkopf, B. (1996): Grenzen der Globalisierung, Münster
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (1994): Memorandum `94. Wirtschaftsreformen statt Standortparolen, Köln
Baumann, Z. (1999): Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg
Bischoff, J./Deppe, F./Kisker, K.P. (1998): Das Ende des Neoliberalismus?, Hamburg
Bourdieu, P. (1998): Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz
Bernholz, P. (1998): Die Bundesbank und die Währungsintegration in Europa, in:
Deutsche. Bundesbank, 50 Jahre Deutsche Mark, München
Candeias, M. (1998): Von der Krise des Fordismus zu monetären Instabilitäten auf den Weltfinanzmärkten, in: INITIAL Heft
 6/1998
Candeias, M. (1999): Regimewettbewerb. Die Neuordung des Verhältnisses von Zentren und Peripherien, in: INITIAL, Heft
 4/1999
Gordon, D.M./Weisskopf, Th./Bowles, S. (1983): Long Swings and the Nonreproductive Cycle, in: American Economic Review, Vol. 73, No. 2
Gramsci, A. (1991ff.): Gefängnishefte, Hamburg
Herkommer, S. (1998): Rückblick auf eine Epoche, in Bischoff, J./Deppe, F./Kisker, K.P.: Das Ende des Neoliberalismus?,
 Hamburg
Hirsch, J. (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat, Hamburg
Hübner, K. (1988): Flexibilisierung und Verselbständigung des monetären Weltmarktes, in PROKLA Heft 71
Ingrao, P./Rossanda, R. (1996): Verabredungen zum Jahrhundertende, Hamburg
Lipietz, A. (1997): Die Welt des Postfordismus, in: Sozialismus Supplement Heft 7-8/1997
Röttger, B. (1997): Neoliberale Globalisierung, Münster
Schmidt, H. (1999): Auf der Suche nach der öffentlichen Moral, DVA??
Soros, G. (1999): Die Krise des globalen Kapitalismus, Berlin
Ziebura, G./Bonder, M./Röttger, B. (1992): Deutschland in einer neuen Weltära, Opladen
Zinn, K.G. (1998): Ideologie als materielle Macht, in Bischoff, J./Deppe, F./Kisker, K.P.: Das Ende des Neoliberalismus?,
Hamburg 

Editorische Anmerkungen:

Der Text erschien in: Das Argument 232, Heft 5/1999 und ist eine Spiegelung von
http://www.berlinerdebatte.de/forschung/projekte/SOZMOD/Candeias%20Fordismus.doc