Hitler - das sind immer die anderen

7-8/02
 

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Die neueste Ausgabe der Zeitschrift "Bahamas" (Nr. 38) ziert das Bild eines Teilnehmers der Pro-Palästina-Demo am 13. April in Berlin. Der Mann, das Palästinensertuch um den Hals geschlungen, trägt auf seinen Schultern ein Kind in Militäruniform, das ein Schild in der Hand hält: "Stoppt das Töten unserer Kinder!" Der Bahamas-Redaktion reichte das jedoch nicht - mit ein paar digitalen Federstrichen wurde dem Mann sein Schnauzbart so weit zurechtgestutzt, bis nur noch ein markanter "Hitler-Bart" übrig blieb, dazu noch ein eindeutiger Seitenscheitel (http://www.redaktion-bahamas.org/).

Damit stellen sich die RedakteurInnen in eine lange Reihe mit Helmut Kohl, Rudolf Scharping, Joseph Fischer und noch etlichen mehr. Während Kohl 1986 Michail Gorbatschow noch (nur?) mit Joseph Goebbels verglichen hatte, ist die Geschichte in Riesenschritten weiter geeilt. Rudolf Scharping sah beim Krieg gegen Jugoslawien überall Konzentrationslager, Joseph Fischer wollte so gerne mit deutschen Soldaten ein weiteres Auschwitz verhindern. Die Boulevard-Presse griff die Vorlage gerne auf und schrieb geifernd von Milosevic als "Hitler". Dahinter steckt immer auch der Wunsch der ganzen Welt zu beweisen, dass der Holocaust nicht einmalig war. Dass die Deutschen nicht nur jetzt wieder, sondern schon immer eine ganz normale Nation gewesen sind - mit Fehlern, selbstverständlich, und (hören wir da ein leises leider?) auch Niederlagen.

Es gibt an den pro-palästinensischen Demos eine Menge auszusetzen. Nicht nur, dass die Stimmung dort häufig rasant ins Anti-israelische und von dort ruckzuck ins Antisemitische kippt. Auch die Verschwörungstheorie, die dort gerne zur Welterklärung benutzt wird - böse USA spielen mit der ganzen Welt nach ihren Regeln, arme Europäer würden ja gerne viel besser, müssen aber hilflos zuschauen - bietet scheunentorgroße Angriffsflächen für Kritik. Aber das reicht der Bahamas offenbar nicht: Pro-Palästina = Anti-Israel = Hitler ist die Gleichung. Das ist dann nicht weniger dumm und plump als der Fingerzeig auf Uncle Sam, der die ganze Welt ins Unglück stürzt.

Abgesehen davon, dass - wie in fast jeder Debatte - eine starke Behauptung schlechter ist als ein schwaches Argument, halten wir diese Gleichsetzung in doppelter Hinsicht für falsch:

1. Wird damit ungewollt der Holocaust relativiert. Hitler? Da gibt es doch Millionen davon, zeigt uns der Bahamas-Titel. Etliche Zehntausende liefen ja allein in Berlin auf der Demo rum. Die Deutschen? Na ja, kann ja sein, damals, vor so vielen Jahren, da waren wir das vielleicht, aber schaut her, heute sind die PalästinenserInnen die Bösen. Oder eben, wahlweise je nach politischer Richtung, die Serbinnen und Serben, die Irakis, die... Die Folge: Wenn jedeR, von der FDP über die CDU mit einem Schlenker über die Grünen bis zu den Burschenschaften oder der Polizei als "FaschistIn" tituliert wird, wie es gerne in manchen linken Kreisen getan wird, dann fehlen irgendwann die treffenden Begriffe für echten Faschismus. Weil wir immer noch glauben, dass es einen Unterschied zwischen Joseph Fischer und, nur so als Beispiel, Jean-Marie Le Pen gibt, sollte sich der auch in den Begriffen niederschlagen. Wer aber den Nationalsozialismus inflationär als Argument-Ersatz bemüht, der muss es wohl richtig finden, wenn sich die Fraktionen im Nahost-Konflikt brüllend gegenüber stehen: "Sharon ist - ein Mörder und Faschist" gegen "IDF in Ramallah, das ist die wahre Antifa." Hitler, das sind immer die anderen.

2. Wissen wir über den Mann auf dem Foto eigentlich gar nichts. "Stoppt das Töten unserer Kinder!" Was ist an dieser Forderung, an dieser Parole eigentlich antisemitisch oder faschistisch? Soll das umgekehrt in der Bahamas-Lesart bedeuten, dass die Forderung "Lang lebe Israel" - an der abgesehen von der grundsätzlichen Debatte über die Notwendigkeit von Nationalstaaten rein gar nichts auszusetzen ist - beinhaltet, gleichzeitig gegen ein Ende des Tötens zu sein? Richtig ist, dass auf der Berliner Demo zahlreiche Antisemiten herumliefen, die an ihrer Einstellung mit "Juden raus!"-Rufen keinen Zweifel ließen. Aber wer, außer der Bahamas-Redaktion, weiß, ob dieser Mann dazu gehörte? Und selbst wenn: Zu einem echten Hitler fehlt da noch eine ganze Menge. Neben einem Weltkrieg mit Millionen Toten, unter anderem die Verfolgung von Sinti und Roma, der Mord am so genannten "lebensunwerten Leben" und vor allem die Shoa, der Massenmord an den europäischen Juden.

Daran ändert auch nichts, dass die NPD die Kritik an Israel teilt und sogar gerne mitdemonstriert (wenn man sie wie in Greifswald lässt). Es muss doch zumindest zur Kenntnis genommen werden, dass die Motive eines palästinensischen Demonstranten bzw. einer palästinensischen Demonstrantin ganz andere sein können, als die eines deutschen NPDlers oder einer NPDlerin. Der Palästinenser oder die Palästinenserin wünscht sich vielleicht einfach deshalb ein Ende der Kämpfe, weil Familienangehörige in dieser Region, die faktisch zu einem Kriegsgebiet geworden ist, leben und um deren Leben er oder sie sich sorgt. Wer unterstellt, bei den mehreren zehntausend Menschen, die in Berlin demonstrierten, würde es sich samt und sonders um geistige Nachkommen des deutschen Nationalsozialismus handeln, der sollte vielleicht einen kurzen Realitätsabgleich durchführen.

Wer so argumentiert (sic!) wie die Bahamas auf ihrem Titelbild, der muss dann auch zu dem Schluss kommen, dass die Menschen auf der Pro-Israel-Demo am 14. April in Berlin alles christliche FundamentalistInnen waren. Sie müssten so die Forderungen der dort massiv vertretenen "Partei Bibeltreuer Christen" (http://www.krasse-zeiten.de/foto.php?dir=israel020414) teilen, zum Beispiel verlangen, dass "kriminelle Asylsuchende" auszuweisen sind und Abtreibung als "Tötung" verboten wird (http://www.pbc.de/). Und vielleicht sind ja PBC und NPD auch gar nicht so weit auseinander. In einem Flugblatt des Bundesvorstandes hieß es 1999: "10 Millionen heimtückisch im Mutterleib getötete Kinder seit Kriegsende auf deutschem Boden schreien zum Weltenrichter und verklagen uns erneut. Hitler hatte Krematorien, heute macht es die zuständige Klinik. Anstelle von Massengräbern genügen heutzutage Mülltonnen. Früher die Juden - entrechtet und wehrlos: 'Untermenschen'. Heute die noch Ungeborenen." (http://www.antifaschistische-nachrichten.de/1998/13/019.htm) Was hätte die Bahamas-Redaktion wohl für diese Israel-Solidaritätsaktion für ein Titel-Thema geplant, wem würden sie dann ihr Bärtchen ankleben? So gesehen darf eigentlich niemand mehr auf große Demo gehen - schließlich könnten Meinungen dabei sein, die nicht 100-prozentig geteilt werden, und man sich selbst am Ende als Hitler ausstaffiert auf dem Titelbild eines Szene-Zirkulars finden.

Besonders perfide an der Bahamas-Montage ist, dass - bewusst oder unbewusst - ausgeblendet wird, dass dieser Mann, sollte er sich nach Guben, Königs Wusterhausen, Rathenow oder in eine andere "national befreite Zone" (oder auch nur eine fast beliebige Berliner Eckkneipe) trauen, von seinen vermeintlichen "Kameraden" kein freundliches "Sieg Heil!" entgegengeschleudert bekommen dürfte, sondern vermutlich eher den Wunsch "Ausländer raus!" Dazu kommt körperliche Bedrohung, Gewalt, bis zum Mordversuch. Die wahren Nazis, das sind dann eben doch noch die Deutschen, die sich ihren Hitler-Bart nicht auf der Bahamas anschauen, sondern das "Führer-Bild" im Partykeller hängen haben.

Die Bahamas-Redaktion wollte wohl vor allem provozieren. Das ist ihr sicher gelungen. Leider gehört Provokation in der derzeitigen innerlinken Debatte zum Nahost-Konflikt nicht zu den Dingen, die besonders vermisst werden.

Wir melden uns vor allem auch deshalb zu Wort, weil das retuschierte Titelbild auf einem Foto von uns beruht. Es wurde ungefragt genutzt, verändert und abgedruckt. Wir haben unsere Videos und Fotos bisher im Internet kostenlos "linken und nichtkommerziellen" Medien zur Verfügung gestellt. Dass ein Heft, das für vier Euro über die Ladentheke geht, kaum mehr "nichtkommerziell" ist, darüber wollen wir mit der Bahamas nicht diskutieren, schon gar nicht vor irgendwelchen Gerichten streiten. Es dürfte sie sowieso kaum interessieren - weil sie auch die Bedingung "bei Quellenangabe" galant ignorierten. Wir werden unsere Konsequenzen ziehen und künftig jede Weiterverbreitung ohne ausdrückliche Genehmigung ausschließen, weil wir nicht wollen, dass unsere Arbeit für jeden Scheiß zu haben ist.

Berlin, 2. Juni 2002
krasse zeiten (http://www.krasse-zeiten.de/)

Editorische Anmerkungen:

Der Text ist eine Spiegelung von
http://www.krasse-zeiten.de/texte.php?dir=02-bahamas