konkret Heft 08/2001

Bilder keiner Ausstellung
Wie Medien und Kulturpolitik den DDR-Maler Willi Sitte ausmanövrierten

von Rayk Wieland

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In den Jahren nach 1989 zieht sich Willi Sitte, der große und, wenn das zu sagen geht, repräsentative Maler der DDR, in sein Atelier zurück, um zu arbeiten. Anders als prominente Kollegen, die empfangene Orden und Auszeichnungen meinen abstoßen zu müssen, verzichtet er darauf, seine Abrechnung mit dem "DDR-Regime" zu machen. Er arbeitet an einem Zyklus von Zeichnungen, der, "Herr Mittelmaß" betitelt, Sittes drastisch ausfallende Kommentare zum Wendegeschehen versammelt. Im Grunde sind diese Zeichnungen Illustrationen, wenn nicht Karikaturen. Im Zentrum steht (hockt / sitzt / liegt) ein entblößter Mann, jener "Herr Mittelmaß" (mitunter auch "Herr Dr. Mittelmaß"), in dessen Physiognomie und Habitus Blödheit und Opportunismus allzu deutliche Spuren hinterlassen haben. So zeigt "Herr Mittelmaß beim angestrengten Nachdenken" (1990) einen auf dem Rücken schlafenden Mann, der seine Hände satt und selbstzufrieden auf die Wampe legt. "Herr Mittelmaß in Beeinflussung" (1990) hat übergroße Ohren, in die von beiden Seiten schemenhafte Köpfe ihre "Beeinflussungen" eintrichtern. In "Herr Dr. Mittelmaß bewundert die Avantgarde-Weltkunst" (1990) trägt Herr Dr. Mittelmaß eine Brille und befindet sich in devot-verzückter, hockender Haltung vor einer Vitrine, in der ein Scheißhaufen ruht. In "Herr Mittelmaß findet immer Anschluß" (1990) sieht man den eilfertigen Protagonisten einer Menschenmenge folgen, die rechts aus dem Bild drängt. Und in "Herr Mittelmaß wittert Morgenluft" (1990) sitzt der wieder mit großen Ohren und diesmal auch mit einer langen Nase, die nach oben gereckt wird, ausgerüstete Mann vor einer Mauer, hinter welcher eine Fahne im Wind flattert. Die Zeichnungen verraten einiges: über Willi Sittes biographische Situation, über Stil und Kunstverständnis und über seine politische Reflexionen des Niedergangs der DDR.

Die Figur des Herrn Mittelmaß hat der Maler offenbar erfunden, um sie zu denunzieren. Er ist der Depp, den die Demokratie gebiert, der Mitläufer, der Unselbständige, der Herdenmensch oder, kunstimmanenter, der Dilettant, der Drittklassige, der Minderwertige, der das Schicksal der DDR besiegelt und seither das Sagen hat. Sitte erklärt in dem Zusammenhang 1994 in einem Interview: "Plötzlich merkten diese Menschen (hier: an der Hochschule für industrielle Formgestaltung in Halle, wo Sitte Professor und bis 1987 Direktor der Sektion Bildende und Angewandte Kunst war; R.W.), daß der freiberufliche Künstler in der Marktwirtschaft zum Freiwild wird und daß eine Festanstellung eine Absicherung ist. Dann kamen diese Evaluierungskommissionen, die mit ihren Stasilisten von Hochschule zu Hochschule zogen und sagten: Der raus, der kann bleiben. Leute aus der zweiten und dritten Reihe, die nie aufgefallen waren, weder als Künstler noch sonst irgendwie, waren plötzlich da, man staunte Bauklötze, und die anderen flogen, unabhängig davon, was sie geleistet hatten, raus." Es ist nur konsequent, wenn Sitte das Mittelmaß auch in der Arbeiterklasse entdeckt und mit ihm abrechnet: "... Halle war immer ein roter Bezirk, auch Chemnitz, Magdeburg. Es ist für mich erschütternd, daß in der Mehrheit bürgerliche Landräte und Bürgermeister gewählt wurden. Arbeiterklasse! Diesen Arbeitern habe ich Denkmale geschaffen! Huldigungen. Und dieses Bild ›Erdgeister‹ habe ich 1990 gemacht. Sie stecken alle mit den Köpfen im Dreck ... Erledigt. Das ist mein letztes Bild zum Thema Arbeiterklasse. Dazu mach' ich nichts mehr. Die Menschen haben mich bitter enttäuscht. Ich hab Illusionen gehabt, das geb' ich zu. Illusionen darf man haben, aber manchmal im Leben sind sie sträflich." Halten wir also fest: Willi Sitte hat sich nicht getäuscht, sondern die Menschen haben ihn bitter enttäuscht. Die Arbeiterklasse rechtfertigte das Vertrauen nicht, das der Malkünstler in sie gesetzt hatte. Ah ja.

Die ganze Mittelmaß-Idee ist rundum mittelmäßig, die Polemik platt und problematisch. Bildtitel und Zeichnungen des Zyklus' sind völlig redundant und erhellen wenig mehr als den Dünkel des Malers. Daran ändert nichts, daß Sitte hier wie bei vielen anderen seiner Arbeiten weitere symbolische Bildebenen, technische Finessen, skizzierte Alternativen und akurat durchgearbeitete Kompositionen anbietet und so einen gewissen formalen Überschuß erzeugt. Dieser beeindruckende Überschuß, eine Konstante in Sittes Werk und oft das "Barocke" seiner Bildsprache genannt, steht quasi quer zur obsessiven Allegorik, die er pflegt und die nicht selten trivial und plakativ wirkt. Es geht von der Nacht zum Licht, von links unten nach rechts oben, vom Ernst zum Lachen, von der Sonnenfinsternis zum Regenbogen, aus den Gräbern und Schlachtfeldern (unten) in eine lichte Zukunft (oben). 1988/98 fertigt Sitte in einem Auftragswerk für die Metallgesellschaft AG (Achtung: Auftragskunst!) das monumentale Tafelbild "Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen" an, das noch einmal sämtliche Elemente dieses Bilderbogenkitsches aufbietet.

Seither scheint die Sonnenfinsternis oder die verdunkelte, sich verdunkelnde Sonne, im genannten Bild noch in der Mitte postiert und ein historisches Übergangsstadium auf dem Weg in eine ökologisch prekäre, aber noch von einem Regenbogen überdachte Welt anzeigend, zum zentralen Bildmotiv Sittes geworden zu sein. Sowohl im "Überwechsler" (1991) als auch in "Die ›Investoren‹ kommen" (1995) signalisiert sie finstere Zeiten, und es geht, was den Bildaufbau betrifft, von rechts oben wieder rückwärts nach links unten.

Warum Sitte nach allem, nach seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit, seiner Abkehr von der einstmals gehuldigten Arbeiterklasse und der seinem Niveau nicht entsprechenden Mittelmäßigkeit, eine Ausstellung seines Werks ausgerechnet im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg anpeilte, ist schwer zu eruieren. Die Initiative dazu ging jedenfalls nicht von ihm, sondern, bereits 1993, vom Germanen-Museum aus, dessen Archiv für bildende Kunst vorhat, nach dem Marbacher Vorbild für Literatur ein Künstlerarchiv zu errichten. Als Gegenleistung für Sittes schriftlichen Nachlaß stellte es eine Werkschau für den Sommer dieses Jahres in Aussicht, ein Vertrag wurde geschlossen - und, im vergangenen Dezember, gebrochen. Der Verwaltungsrat des Museums, dem der bayrische Kultusminister Zehetmair vorsteht, stoppte die Pläne seines Kurators und ordnete ein vorgelagertes "wissenschaftliches Symposion" zum offenbar gemeingefährlichen "Fall Sitte" an. Dabei wurde er, der "FAZ" zufolge, unterstützt vom "Naumann-Ministerium", aber nicht unterstützt von Sitte, der die Ausstellung absagte.

Ein bemerkenswerter Akt von Zensur gewiß, ein merkwürdiger zumal, da Sitte seit Mitte der fünfziger Jahre regelmäßig in der Bundesrepublik ausstellt, auch nach 1989 etliche Male im Westen gezeigt worden ist. Bei den Vernissagen in den achtziger Jahren sprachen Gerhard Schröder und Hans Eichel noch freundliche Grußworte. Hat inzwischen - ohne daß es bemerkt wurde - eine neue Zeitrechnung begonnen? Wird jetzt auch die russische Avantgarde-Kunst verboten? Müssen Brecht und Eisler umgebettet, die frühen Enzensberger und Walser im Ausland bezogen werden? Ist es schon wieder so weit? Sollte im Jahr 2001 tatsächlich indiziert sein, was noch zu Adenauers Zeiten unbeanstandet blieb? Das wäre ja immerhin ein Anhaltspunkt.

Die Argumente, mit denen die Presse der Zensur beispringt, sind infam. Sitte wird, natürlich, mit Arno Breker verglichen. Er sei, schreibt etwa die "Berliner Morgenpost", "nicht nur der Arno Breker der DDR (gewesen), sondern auch ein eifriger Exekutor der DDR-Direktiven". Da Sitte Stasi-Verbindungen nicht nachgewiesen werden können, gibt der DDR-Kunstkritiker vom Innendienst Christoph Tannert im "Spiegel" zu bedenken, "daß Sitte niemand war, der im Auftrag der Stasi arbeiten mußte" - aber nur, "weil der Mann noch mächtiger als die Stasi war". Noch mächtiger als die Stasi? Und noch fürchterlicher als Arno Breker? Ja, dann sollte vielleicht Gerhard Schröder sich schon mal zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag begeben, um das Urteil für seine Beihilfe zu Sitte-Ausstellungen zu erwarten.

Sieht man genauer hin, bleibt wenig, was einer Werkschau in der deutschen Provinz im Wege stehen sollte. Sittes Lebenslauf ist weit entfernt von einer glatten Funktionärskarriere. Jahrgang 21, studiert 1940 an der "Hermann Göring Meisterschule für monumentale Malerei", die er nach einem Jahr wegen Protesten verlassen muß. Er wird zum Kriegsdienst einberufen, 1944 desertiert er und erlebt das Kriegsende als Partisan in Italien. Seit 1947 ist er SED-Mitglied, gerät aber mit seinen Bildern in die Formalismus-Debatte und ab vom "Bitterfelder Weg". In dieser Zeit malt Sitte expressiv oder wie Picasso. Mitte der sechziger Jahre kann er auf fast 20 Jahre Schikanierung, Ausstellungsverbote, Observation durch die Stasi und politische Diskreditierung zurückblicken. Die Parteiführung störten die formalistischen Modernismen, der Collage- und Montagestil der Bilder. Das ändert sich bald, aber nicht weil Sitte sich ändert. Seit 1974 ist er Präsident des Verbands bildender Künstler der DDR, außerdem Volkskammerabgeordneter und ZK-Mitglied. Er nutzt seinen weitreichenden Einfluß einerseits, die Autonomie des Verbands zu verteidigen, und andrerseits, Dissidenten Möglichkeiten zum Arbeiten, aber nicht zum Auftrumpfen zu verschaffen. Etlichen ermöglicht er Auslandsreisen und -ausstellungen, etlichen nicht. Er genießt Privilegien, die andere nicht genießen, klüngelt mit Kurt Hager und mit Peter Ludwig um Aufträge. Und er hält bis zum bitteren Ende Stücke auf den Sozialistischen Realismus, so wie er ihn versteht: "Der ganze sensationslose Alltag des Arbeiters, seine einmalige und unverwechselbare Individualität sollen sichtbar werden", schreibt er 1988 in der Verbandszeitschrift "Bildende Kunst", "darum müssen wir uns stärker bemühen. Sollten nicht gerade die besten realistisch schaffenden Künstler Lust darauf haben, hier auf Entdeckungen zu gehen? Eine echte Avantgarde wäre hier gefragt."

Die "echte" Avantgarde, jedenfalls ihrem Selbstverständnis nach, war zu diesem Zeitpunkt, 1988, längst in den Westen ausgereist und schiß dort, zum Entzücken des "Herrn Mittelmaß", in die Vitrinen. Maßgeblich ihren Interventionen dürfte der Ausstellungsstopp zu verdanken sein. Die Stasi agierte im Umgang mit abweichenden bildenden Künstlern ruppig und griff zu Atelierverwüstungen oder zerschredderte Kunstwerke. Sitte, für diese Zustände nicht zuständig, repräsentierte sie jedoch. Und ging den Künstlern, die sich lange vor ihm schlau gemacht hatten, mit seinem Arbeiterquatsch auf die Nerven.

Auf dem eben in Nürnberg beendeten "Symposion", das nun ohne nachfolgende Ausstellung veranstaltet wurde, ging's folgerichtig weniger um Sittes Bilder als um DDR-Kulturpolitik, deren Archäologie mit grobem Gerät in Szene gesetzt wurde. Ein "Schlachtfest", berichteten einige Zeitungen mit sichtlichem Stolz auf die zivilisierten Umgangsformen der Deutschen, sei es nicht geworden, obwohl "... die Leichen im Keller von Willi Sitte ... plötzlich auftauchten" ("Tagesspiegel"). Wer aber sind die Leichen in Sittes Keller? Es sind - man hatte es gehofft und befürchtet: "Wolf Biermann, Bärbel Bohley, Eberhard Göschel oder (!) A. R. Penck", die allesamt auch irgendwie den Eindruck machen, als hätten sie zu lange Zeit dort gelegen.

Vor dem Hintergrund des Symposions betrachtet, gewinnt das erwähnte Werk "Erdgeister" (1990) an Plausibilität. Nur scheint es weniger Sittes Abrechnung mit der Arbeiterklasse ins Bild zu setzen als, umgekehrt, eine Abrechnung, die Sitte gegenwärtig erfährt. Es zeigt im Hintergrund schwarze Statuen, die mit dem Kopf nach unten bis zum Oberkörper eingegraben sind und im Vordergrund einen herabstürzenden entblößten Mann, der evtl. auch in den Erdboden gerammt werden und das Schicksal seiner "Denkmäler/Huldigungen" teilen soll. "Sie stecken alle", so sein Kommentar, "mit den Köpfen im Dreck." Er, Sitte, jetzt wohl oder übel auch.

Eine differenzierte Darstellung des Auftragswesens in der DDR-Kunst ist nachzulesen in: Paul Kaiser/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Junius Verlag, Hamburg 1999, 700 Seiten, 88 Mark

Rayk Wieland überführte in KONKRET 7/01 Gregor Gysi nach Jordanien

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