Ein tiefer Einschnitt

Klaus Schütz(*) erinnert sich an das Jahr 1961
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....Was nun den Wahlkampf von Willy Brandt im Jahre 1961 betrifft, so konnte er nicht wie vorgesehen ablaufen. Geplant war er bis ins Detail, doch letzten Endes blieb er ein Torso. Der erste Teil der »Deutschlandreise« hatte den Kandidaten, wie gesagt, in die größeren Gemeinden und mittleren Städte geführt. Jetzt sollte eine vergleichbar intensive Kampagne in den Großstädten folgen. Denn dort würde die Wahl entschieden werden, so hofften wir.

Die erste Phase wurde mit einem großen Deutschlandtreffen in Nürnberg beendet. Am 13. August wollten wir in die zweite, entscheidende Phase gehen. Aber dann war alles vorbei. Wir waren unterwegs nach Kiel, das erste Mal im Sonderzug. Früh um fünf hielt der Zug in Hannover. Brandt mußte ans Telefon. Walter Ulbricht hatte begonnen, die Mauer zu bauen.

Das war ein tiefer Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte der Deutschen. Eigentlich wußten wir zwar alle, daß dies nur die logische Folge all dessen war, was sich über die Jahre entwickelt hatte. Ost und West steckten ihre Positionen ab, sozusagen endgültig. Und eigentlich wußten wir auch, daß Deutschland und Berlin schon seit 1948 faktisch gespalten waren. Ost-Berlin wurde kommunistisch regiert, West-Berlin hatte eine demokratisch legitimierte Führung und gehörte zum westlichen System. Aber trotz alledem: Der Mauerbau hat die Deutschen in ihrer großen Mehrheit zutiefst erschüttert. Und er hat viele Berliner in beiden Teilen der Stadt in ihrem persönlichen, in ihrem familiären Leben hart getroffen.

Über die Vorgeschichte dieser Aktion werden uns die Historiker wohl bald endgültig Aufschluß geben können. Dann werden wir wissen, wer diese monströse Idee hatte und wie es dazu kam, sie zu realisieren. Zwei Dinge werden diese Entscheidung beeinflußt haben: einerseits die Einsicht der sowjetischen Führung, daß eine weitere Expansion in Europa unmöglich sei, daß es vielmehr oberstes Ziel sein müsse, das einmal Erreichte festzuhalten, vielleicht sogar um jeden Preis. Zum anderen der Versuch der gerade gewählten Kennedy-Administration in Washington, die Machtverhältnisse in Europa, so wie sie nun einmal waren, als Ausgangspunkt ihrer Beziehungen zur anderen Supermacht zu sehen.

Es trafen sich somit zwei Modelle der Außenpolitik. Sie waren nicht unbedingt kongruent. Aber der Punkt, an dem sie aufeinander trafen, war Berlin. Hier standen sich beide Supermächte direkt gegenüber, und die Deutschen waren fest an die eine oder die andere Seite gebunden. 

Es ist viel darüber gemutmaßt worden, ob der Bau der Mauer von den Sowjets gar in Absprache mit oder mit Kenntnis der Kennedy-Administration erfolgt ist. John McCIoy war kurz zuvor im Auftrag des Präsidenten bei Nikita Chruschtschow auf der Krim gewesen. Ich habe mich mit McCIoy viel später sehr offen darüber unterhalten. Danach ist bei jener Begegnung zu keinem Zeitpunkt über Absperrungen, geschweige denn über eine Mauer gesprochen worden. Es war aber offensichtlich, daß Chruschtschow weiterhin sehr unzufrieden war mit der Lage in und um Berlin. Andererseits war McCIoy davon überzeugt, daß sein Gastgeber ausgesprochen daran interessiert war, zusätzliche Spannungen im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten nach Möglichkeit zu vermeiden.

Für mich steht aufgrund dieser und anderer Äußerungen fest, daß Washington von dem Mauerbau genauso überrascht worden ist wie wir in Berlin und daß es eine wie immer geartete Komplizenschaft von selten der Amerikaner nicht gegeben hat, zu keinem Zeitpunkt. Zu fragen ist allerdings, ob die Position der neuen Administration nicht gerade zu einem solchen Schritt eingeladen hat?

Diese Frage bleibt. John F. Kennedy hatte im Frühsommer 1961 zu West-Berlin drei Essentials verkündet: über die alliierte Präsenz und die Zugangswege, über die Unversehrbarkeit des Territoriums und über die Lebensfähigkeit. Alle drei bezogen sich auf West-Berlin, nicht auf die Rechte und Pflichten der Westmächte in ganz Berlin, also auch im Ostsektor. Diese Essentials klangen kräftig, und es war nichts gegen sie einzuwenden. Auch da nicht, wo sie, wie bei dem Begriff Lebensfähigkeit«, interpretationsbedürftig und eigentlich nebulös waren.

Der entscheidende Punkt war die ausdrückliche Beschränkung auf West-Berlin. Das war gewiß auch gedacht, um Vertrauen bei den Berlinern und bei den Deutschen insgesamt zu fördern, etwa nach der Devise: Ihr könnt euch darauf verlassen, die Sicherheit West-Berlins bleibt gewährleistet. Ob es auch dazu gedacht war, der »anderen Seite« zu signalisieren, wo die eigenen Interessen liegen und wo sie exakt enden? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sich die Sowjetunion und ihr deutscher Partner am 13. August 1961 ihre »Freiheit« genommen haben. Sie haben durchgesetzt, was sie für ihr Recht hielten, offenbar in der Gewißheit, unbehindert von den drei Westmächten handeln zu können.

Dreißig Jahre später ist es klarer, als wir es damals wußten: Im Kreis um Kennedy gab es eine Einschätzung der Lage, bei der der Bau der Mauer in Berlin sehr wohl auch eine »beruhigende Funktion« hatte. Ausgangspunkt dafür war, daß im Sommer 1961 Flüchtlinge in großer Zahl über die offene Grenze nach West-Berlin gekommen waren. Zehntausende Tag für Tag, in ihrer Mehrheit die technische und administrative Intelligenz Ost-Deutschlands. Diese Fluchtbewegung könnte, so die Meinung einiger Berater in Washington, den Druck auf die sowjetische Führung verstärken, endlich etwas zu tun, um West-Berlin völlig vom Westen zu trennen. Selbst auf die Gefahr hin, eine neue Krise zu initiieren.

Anscheinend war Kennedy von dieser Lageanalyse beeindruckt. Und obwohl er es zu keinem Zeitpunkt öffentlich gezeigt hat, war er in gewisser Hinsicht eben auch erleichtert, als dann die Mauer stand. Denn sie würde die Sowjetunion von dem permanenten Druck befreien, im Interesse der inneren Stabilität der DDR abermals dem Westen mit Gewaltmaßnahmen drohen oder diese sogar tatsächlich ergreifen zu müssen.

Aus welcher Perspektive der 13. August 1961 auch immer beurteilt wird, für Berlin und die Berliner war der Mauerbau ein schwerer Schlag. Die Tatsache, daß sich die Menschen aus beiden Teilen der Stadt nicht mehr begegnen konnten, traf besonders hart. Da wurde erst deutlich, wie einheitlich diese große Stadt im Bewußtsein vieler Bürger trotz allem noch immer war. Die kommunistischen Maßnahmen schnitten tief in den Organismus der Stadt, mit nachhaltigen Folgen. Es kam zu einer schweren Krise. Viele zweifelten an den Worten der Westmächte und an ihrer Standfestigkeit. Ein Exodus in Richtung Bundesrepublik setzte ein.

Ein Beispiel: Im Dezember 1961 war ich zum Mitglied des Senats von Berlin gewählt worden. Bei jeder Sitzung lag dem Senat eine neue, streng vertrauliche Übersicht über die Fortzüge aus Berlin auf dem Tisch. Die Bilanz war katastrophal. Eine beachtliche Zahl von West-Berlinern verließ die Stadt, Woche für Woche.

Brandt war in diesen Wochen die herausragende Persönlichkeit, mehr noch als zuvor. Er hat gesprochen, als Konrad Adenauer schwieg. Die Augen der Welt waren auf ihn gerichtet, aber auch die der Deutschen in beiden Teilen des Landes. Gleichzeitig lief der Wahlkampf für den Bundestag, sozusagen fahrplanmäßig. Nur einer fehlte: der Spitzenkandidat der sozialdemokratischen Opposition. Willy Brandt war in Berlin. Erst zwei bis drei Wochen nach dem Mauerbau flog er jeweils nachmittags mit einer kleinen Sondermaschine nach West-Deutschland. Er sprach dort auf Massenkundgebungen in den Großstädten. Spät nachts ging es wieder zurück nach Berlin....

....Der Bau der Mauer bescherte West-Berlin die schwerste Krise seines Teilstadt-Daseins. Die Menschen, die bislang zumindest darin sicher waren, daß die Amerikaner in der Stadt fest verankert waren, wurden schwankend. Sie sahen, daß die Sowjetunion es gewagt hatte, einseitig ihre Politik durchzusetzen, und das mit Erfolg. Sie sahen darin eine Niederlage des Westens, und sie hatten recht.

Da halfen auch keine Beruhigungspillen, etwa die Entsendung einer amerikanischen Kampfeinheit nach Berlin. Sie wurde zwar mit Jubel begrüßt, aber mehr Sicherheit hat sie nicht vermittelt. Oder der Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson. Er kam am 16. August als direkte Reaktion auf einen Brief, den Brandt an Präsident Kennedy geschrieben hatte. Er wurde freundlich begrüßt. Aber die »morale« der Berliner, die in einer solchen Situation so gern beschworen wurde, hat er nicht wesentlich verbessert.

Kennedy hatte sich insbesondere über einen Satz aus dem Brandt-Brief geärgert: Berlin fordere »no words, but action«. Einen derartigen Rat mochte er schon deshalb nicht gern hören, weil ihm seine Opposition im Kongreß und in den Medien sowieso schon »Schlappschwänzigkeit« unterstellte. Sein Vizepräsident variierte dann das Thema auf seine Weise. Ihm gefielen bestimmte Aschenbecher der Berliner Porzellan-Manufaktur. Er wollte mehrere hundert kaufen, und zwar sofort. Als ihm gesagt wurde, dies würde längere Zeit in Anspruch nehmen, deutete er auf Brandt. Der würde die Sache schon regeln: »No words, but action« sei gefragt.

Ähnlich ging es zu, als Johnson am Sonnabendnachmittag Schuhe kaufen wollte. Es kam erschwerend hinzu, daß er unterschiedliche Schuhgrößen hatte. Hier aber konnte geholfen werden, das Schuhgeschäft Leiser wurde geöffnet. »Action« war gefordert, der Mann bekam seine Schuhe.

Die deutsche Politik wiederum hatte kaum Möglichkeiten, um auf den Mauerbau zu reagieren. Fast als Ritual forderten einige den Abbruch des Interzonenhandels mit dem Argument, damit sei der Stacheldraht für die Grenzbefestigung gekauft worden. Ich will hier nicht die Historie dieses Handels beschreiben und den Streit um ihn. Nur soviel ist klar: Jeder, der auf der westlichen Seite damit direkt befaßt war, mußte sehr bald erkennen, daß der Interzonenhandel als Waffe im Kalten Krieg nur bedingt einsatzfähig war. Er hatte seinen Wert für beide Seiten, auch für unsere. Ich habe längere Zeit mit diesen Dingen zu tun gehabt, als Berlins Bevollmächtigter beim Bund und als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Es war wichtig, als »ultima ratio« die Kündigung des Interzonenhandels androhen zu können, aber das Drohen war nützlicher als das Praktizieren.

Die Reaktion von Bundeskanzler Adenauer auf den Mauerbau war zwiespältig: einerseits starke Worte in Wahlreden; andererseits besprach er mit dem sowjetischen Botschafter, daß die Lage nicht unnötig verschärft werden dürfe. Er selbst zögerte lange, nach Berlin zu kommen. Dort kündigte er Maßnahmen des Bundes an, um die Wirtschaft zu stärken. Viel ist aber letztlich nicht herausgekommen. In Erinnerung blieb den Berlinerinnen und Berlinern lediglich die »Zitterprämie« von hundert Mark pro Kopf. Als der Vorschlag bekannt wurde, empörten sich einige über diese Würdelosigkeit und erklärten, das Geld nicht anzunehmen. Das Fazit war: So gut wie alle haben sich den Betrag abgeholt.

Auch wir in Berlin hatten kein Programm, wie der offensichtlichen Vertrauenskrise in der Stadt wirkungsvoll zu begegnen sei. Eines war sicher: Es würde mehr als je zuvor darum gehen, den Begriff »Lebensfähigkeit« mit Inhalt zu füllen. Dabei würden wir uns auf zwei Bereiche der Politik konzentrieren müssen: Die Wirtschaft West-Berlins mußte mehr als bisher zu einem zentralen Thema der deutschen Politik werden, und die Integration West-Berlins in die Bundesrepublik mußte vorangetrieben werden, soweit die Vorbehalte der drei Westmächte dies erlaubten. Dieser zweite Bereich umfaßte genau die Aufgabe, der ich mich hinfort zu widmen hatte...

*) Klaus Schütz, 1967-1977 regierender Bürgermeister von Berlin, steht nicht im Verdacht etwas anderes als ein "kalter Krieger" gewesen zu sein. Und dennoch beurteilt er relativ nüchtern - ganz im Gegensatz zum derzeitigen Talkshow-Gejaule von Gysi bis Merz - den "Mauerbau" auf dem Hintergrund des weltweiten Systemkonflikts als logische Konsequenz aus der Teilung der Stadt von 1948. Der Text wurde per OCR-Scan dem Buch von Klaus Schütz, Logenplatz und Schleudersitz, Frankfurt/M 1992, S.91 entnommen.