Eine Regierungskoalition, die die wirkliche
Entwicklung in der Gesellschaft nicht zur Kenntnis nehmen will, gerät in
Gefahr, sich von den sozialen Konflikten und der
politisch-gesellschaftlichen Debatte zu entfremden. In eine solche Falle
läuft die Regierung Schröder, wenn sie vor Pessimismus und Schwarzmalerei
angesichts des abgeflachten Wirtschaftswachstums warnt. Die sechs
führenden Wirtschaftsforschungsinstitute hatten zuvor ihre
Wachstumserwartungen für das laufende Jahr von 2,1% des BIP auf 1,3 bis
1,7% reduziert. Das DIW will selbst eine rezessive Entwicklung nicht
ausschließen. Anders als die anderen Forschungsinstitute sieht das DIW
nicht mehr eine konjunkturelle Erholung in der zweiten
Jahreshälfte.
Schon bei oberflächlicher Betrachtung sind Zweifel an
einer Fortführung der konjunkturellen Aufwärtsbewegung angebracht: –
Die Preissteigerungsrate erreicht mit 3,5% einen mehrjährigen Höchststand.
Man kann es drehen und wenden wie man will: die Arbeitseinkommen bleiben
deutlich hinter den Preisen zurück. Dies ist zwar für die
Produktionskosten und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit
günstig, aber die Schwäche des privaten Verbrauchs wird dadurch
verfestigt. – Durch die Entwertung des Euro, und damit der DM, wurde
die Konkurrenzfähigkeit der ausgeführten Waren und Dienstleistungen
verbessert. Aber die massive Abschwächung der US-Konjunktur, die
Stagnation in Japan und die ökonomisch-finanziellen Probleme einiger
Schwellenländer (Türkei, Argentinien, Brasilien) haben den bundesdeutschen
Exportmotor gedrosselt. – Das veränderte Wirtschaftsklima schlägt sich
in deutlichen Produktions- und Umsatzeinschränkungen nieder. Nach der
Informations- und Kommunikationsindustrie (vor allem Chip-Hersteller)
melden auch die Automobil-, Chemie- und Elektroindustrie Absatzprobleme.
Die hiesige Automobilindustrie hat ihr Absatzziel angesichts der
Exportabschwächung und des schrumpfenden Inlandsmarktes unter das
Vorjahresergebnis zurückgenommen. Die Produktionsleistung der Bauindustrie
lag im April 14% unter dem Vorjahresniveau.
Trotz all dieser
eindeutigen Hinweise für eine wirtschaftliche Talfahrt hält die
Bundesregierung an ihrem Optimismus fest. Finanzstaatssekretär Diller
(SPD): »Nach allem gibt es keinen Anlass, die konjunkturelle Entwicklung
schwarz zu malen.« Der Vorwurf der Schwarzmalerei wird von der
hegemonialen Schicht der politischen Klasse stets erhoben, um eine
öffentliche Debatte über die Ausgestaltung der Wirtschafts- und
Finanzpolitik zu unterbinden. Fakt ist: Für das zweite Quartal 2001
erwarten die meisten Experten ein Nullwachstum und angesichts dieser
Stagnation ist das Ziel von ca. 2% Zuwachs des BIP nicht zu erreichen.
Auch die schon unter der Regierung Kohl propagierte Formel von der
Wachstums- oder Konjunkturdelle wurde wieder
ausgemottet.
Schröders Benchmark
Die rot-grüne
Regierungskoalition hat noch ein Jahr Zeit, um ihr zentrales Versprechen
einzulösen. Die Arbeitslosigkeit solle »unter die Zahl von 3,5 Millionen«
gedrückt werden, versprach Bundeskanzler Schröder; vor allem an dieser
Zahl wolle er sich messen lassen. Zur Zeit liegt die Arbeitslosenzahl bei
3,8 Millionen und nach Einschätzung von Arbeitsmarktexperten deutet der
leichte Anstieg der Arbeitslosigkeit im laufenden Jahr darauf hin, dass
ohne außerordentliche Anstrengungen die Vorgabe des Kanzlers nicht zu
erreichen ist. Vor allem Finanzminister Eichel will seine mühselig
austarierten Sparhaushalte nicht aufweichen lassen: Für zusätzliche
Konjunkturförderungen soll es sowenig Geld geben wie für eine Ausweitung
der Arbeitsmarktförderung. In Erwartung eines fortgesetzten
Konjunkturaufschwungs hat Eichel alle Zuschüsse für die Bundesanstalt für
Arbeit zurückgefahren und wollte mit der Ausweitung des Aktionsradius des
»aktivierenden Staates« die Leistungen für Lohnersatzzahlungen weiter
verringern.
Die bisherigen Effekte der Steuersenkungspolitik
(Steuertarif, Kindergeld, Familienförderung) sind faktisch verpufft. Ihr
Volumen dürfte im laufenden Jahr gut einen Prozentpunkt des nominalen
Bruttoinlandsprodukts erreichen. Aber eine Ausweitung des privaten
Verbrauchs kann es angesichts der überlieferten Verteilungsverhältnisse,
der ausgeweiteten Belastung durch Sozialabgaben und der hohen
Inflationsrate nicht geben. Von der Möglichkeit einer Konjunkturförderung
durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm ist die rot-grüne Regierung
grundsätzlich abgerückt, so dass im Fall einer weiteren Beschleunigung der
Abwärtsentwicklung allein durch das Vorziehen der nächsten
Steuersenkungsschritte eine begrenzte Gegensteuerung erfolgen kann. Die
Regierung hofft darauf, dass der Konjunkturmotor in den USA rasch wieder
auf Touren kommt und somit eine eigenständige Anstrengung unterbleiben
kann.
US-Wirtschaft vor einer Rezession?
Der
langjährige Wirtschaftsboom in den USA in den 90er Jahren ist vor allem
durch die Binnennachfrage und - deutlich geringer - durch eine Expansion
der Investitionen getragen worden. Die privaten Konsumausgaben sind von
1992-2000 weitaus stärker gestiegen als die Einkommen der privaten
Haushalte: Während die verfügbaren Einkommen um 47% stiegen, nahm der
private Konsum um 61% zu. Die Folge: die Sparquote der privaten Haushalte
ging von +8,7% auf -1,2% im ersten Quartal zurück.
Durch drastische Zinssenkungen, eine expansive
Geldpolitik und rückwirkend zum Jahresbeginn in Kraft gesetzte
Steuersenkungen will die neue US-Administration eine sanfte Landung der
Konjunktur erzwingen. 70% des auf 1,35 Billionen Dollar bemessenen
Steuersenkungsprogramms bis 2011 fallen erst ab dem Jahr 2006 an;
gleichwohl werden in diesem Jahr an einen Teil der US-Steuerzahler
Regierungsschecks über 300 oder 600 Dollar als Erstattung einer zu hohen
Steuerbelastung versandt. Nach Berechnung des Budget Office des
US-Kongresses (CBO) »ergäbe das etwa einen Effekt von 50 Mrd. US-$ in
diesem und 75 Mrd. US-$ im nächsten Jahr. Dies entspräche rechnerisch
einer Konjunkturstimulierung in Höhe eines halben Prozentpunktes des
nominalen Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr und eines dreiviertel
Prozentpunktes im nächsten Jahr.«1 Zusammen mit den deutlichen
Zinssenkungen stellen die rasch umgesetzten Steuersenkungen durchaus
wirksame Maßnahmen zur Stützung des privaten Verbrauchs und damit der
Konjunktur dar. In den 90er Jahren entwickelten die US-Ökonomen die
Faustformel, dass auf nationaler Ebene ein Vermögenszuwachs von einem
Dollar bei den privaten Haushalten eine Expansion des Konsums von 3-5%
auslöste. Die spannende Frage lautet freilich, ob bei den sich
abzeichnenden Verlusten beim Geld- und Aktienvermögen und einem
ausgeschöpften Sparprozess diese Tendenz fortgeschrieben werden kann. Zu
Recht bemerkt das DIW, »dass es kaum noch möglich sein dürfte, die
Sparquote der privaten Haushalte weiter zu vermindern - genauer, das
Geldvermögen weiter abzubauen. Die US-amerikanischen Haushalte können
ihren Konsum nicht unbeschränkte Zeit ›auf Pump‹ finanzieren. Vielmehr
dürften zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit, weniger stark steigende
verfügbare Einkommen sowie gedrückte Aktienkurse und Dividenden über kurz
oder lang dazu führen, dass die privaten Haushalte weniger ›entsparen‹
oder sogar wieder Nettogeldvermögen bilden werden. Dies wird für sich
genommen die Expansion des privaten Verbrauchs weiter
beeinträchtigen.«2
Die große Kündigungswelle - auch aus
dem Bereich der New Economy - steht der US-Wirtschaft erst noch bevor. Der
Umsatz der Chip-Industrie dürfte in diesem Jahr um über 50% einbrechen:
verlangsamte Auslieferung der PCs und ein deutlicher Anstieg der
Lagerbestände. Die Produktionsprobleme in der Automobil- und chemischen
Industrie sind bekannt. Die Hoffnungen, dass es durch massive
Zinssenkungen und eine begleitende Fiskalpolitik rasch zu einer
Überwindung des konjunkturellen Periodenwechsel kommen würde, haben sich
verflüchtigt.
Szenario für 2002
Angesichts der hohen
Inflationsrate hat sich die Europäische Zentralbank (EZB) nicht getraut,
den Zinssatz von 4,5% zurückzunehmen. EZB-Präsident Duisenberg sieht zwar
den Scheitelpunkt der Preissteigerungen erreicht und bleibt auch für das
Wirtschaftswachstum in der Euro-Zone optimistisch. Von der Gefahr einer
Rezession will jedoch niemand sprechen. Dominant ist nach wie vor die
Einschätzung, dass der Tiefpunkt in der Abschwächung der US-Konjunktur
erreicht ist und die beiden Wirtschaftsblöcke (Japan, Europa) von der
bevorstehenden Aufwärtsbewegung partizipieren werden. Schiebt man dieses
Prinzip Hoffnung beiseite, dann ist es eher berechtigt, von einer weiteren
Eintrübung der Konjunkturlage im weltwirtschaftlichen Verbund auszugehen.
Die neu formierte japanische Regierung geht davon aus, dass während der
nächsten zwei bis drei Jahre in Japan harte Strukturanpassungen
durchgesetzt werden. Das bisherige offizielle Wachstumsziel von 1,7% des
BIP ist faktisch kassiert. Für den angestrebten Übergangszeitraum könne
bestenfalls ein Wirtschaftswachstum von 0-1% realisiert werden. Erst nach
der Wertberichtigung des riesigen Schuldengebirges bei Banken,
Versicherungen und Immobilienfirmen könne man von einer Beschleunigung der
Akkumulationsrate auf 2-3% ausgehen.
In den USA ist die neue
Administration bereit, weitere Konjunkturspritzen einzusetzen, und die
fiskalische Konstellation lässt dies zu. Gleichwohl ist es eher
unwahrscheinlich, dass mit solchen Interventionen eine Erneuerung eines
konsumgetragenen Aufschwungs erzwungen werden kann. Eine weitere
Abschwächung in der Euro-Zone und vor allem der Bundesrepublik ist daher
zu erwarten. Die rot-grüne Regierungskoalition wird also nicht nur wegen
ihrer Verteilungspolitik, der Teilprivatisierung der Alterssicherung und
des bevorstehenden Umbaus der Krankenversicherung, sondern auch wegen der
elementaren Defizite in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und
Verteilungspolitik unter Druck geraten.
Joachim Bischoff ist Redakteur
von Sozialismus.
1 DIW-Wochenbericht 23/2001, US-Wirtschaft im
Abschwung, S. 350. 2 Ebda, S. 349.
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