Ein Marktnetz voller Getreide
Privateigentum und seine sakrale Bedeutung fuer die Landwirtschaft 

von Alexej Pawlow  (Nishni Nowgorod)

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Nach dem Sieg des Kremls an den Duma- und Praesidentenwahlen ist nun die Privatisierung des russischen Landsguts unvermeidlich geworden. Auch wenn die Regierung zur Zeit mit ganz anderen Problemen in der Politik und Wirtschaft, wie die Steuererleichterung oder Oligarchenerziehung, beschaeftigt sein scheint, wird sie in ihrem Wirtschaftsprogramm ohne Ausverkauf der Grundstuecke unmoeglich auskommen. Auf heutiges Wirtschaftswachstum kann sie sich ja nicht verlassen. Dieses kann nicht lange andauern, da es sich lediglich auf dem Ersatz der sich verteuerten Importgueter, und nicht auf der soliden Basis der neuen Investitionen und Technologien beruht. Die Erdoelpreise koennen  auch nicht ewig hochschweben. Die meisten lukrativen Fabriken und anderen Kapitalgueter sind bereits vom korrupten Beamtentum verklopft. Was bleibt nun den Politikern, wenn sie vorhaben, ihren Wohlstand zu halten?  

Die umsichtigsten und begabtesten russischen Politiker haben schon lange fuer den freien Verkauf des Landes geworben und sogar entsprechende Schritte vorgenommen. Das Engagement fuer das private Landeigentum gilt heute in Russland nicht umsonst als Zeichen der grossen Intelligenz.  

Ein gutes Beispiel: Der Saratower Gouverneurs Dmitri Ajazkow, der landesweit fuer aussergewoenliches Intelligenzvermoegen und eindruckvolle Aussagen bekannt ist. Dem US-Praesidenten William Clinton, z.B., hat er mal beim Publikum verraten, er beneide Monica Lewinski. Logisch, dass ausgerechnet Ajazkow, der alles, inklusive die Medien, in seinem Bezirk streng kontrolliert, als erster in Russland das Gesetz ueber den freien Verkauf der Grundstuecke im Bezirk Saratow verabschieden liess. 

Das Bezirksgesetz wurde allerdings ausser Kraft gesetzt, da es in einem krassen Widerspruch zum heutigen foederalen Gesetz steht. Die Foederation wird aber bald  dem weisen Ajazkow folgen, unter dem Motto:Die Marktwirtschaft ist  die einzig moegliche Basis fuer die hochproduktive Landwirtschaft. Ausserdem: Nur wenn man den Markt fuer Land schaffe, koenne man Investoren anlocken und die Wirtschaft bluehen lassen. 

Kein Wunder, dass Ajazkow und seine Gesinnungsgenossen keine solchen zarten Gefuehle zum chinesischen Staatsoberhaupt spueren, wie zum W.C.: Das rote China mit seinem beneidenswerten Investitionsklima laesst von dieser Theorie nicht viel uebrig.  

Es sei denn, die Rede ist von Investoren ganz anderer Art. Nachdem man riesige russische Landflaechen von korrupten Beamten oder verarmten Bauer so gut wie geschenkt gekriegt hat (so war es ja bei der Privatisierung der Betriebe, wenn den schlecht oder gar nicht bezahlten Mitarbeitern ihre Vouchers fuer eine Flasche Wodka abgenommen wurden), darf man doch als ein vollberechtigter Privateigentuemer nicht nur Kapital in sein Landsgut hineinstecken. Mann kann dort sehr wohl auch andere interessante Dinge deponieren. Atommuell, zum Beispiel.  

Auch das andere beliebte Argument der Bezwinger der kommunistischen und ueberhaupt jeglichen Wirtschaft auf russischem Gebiet ist inzwischen ziemlich verblasst. Seit Jahren  hoeren wir von ihnen, dass das Privateigentum auf Grundstuecke die einzig moegliche  Voraussetzung der konkurrenzfaehigen Landwirtschaft sei. Indes musste man jedoch erfahren, dass die konkurrenzfaehigen westeuropaeischen und US-amerikanischen Bauern und Fischer im Kampf mit konkurrenzunfaehigen osteuropaeischen Importen nur hinter  staatlichen protektionistischen Huerden ueberleben koennen.

Noch schlimmer: Es zeigen sich bereits die ersten Sproesse der Privatisierungskampanie in  der russischen Landwirtschaft. Beispielsweise, im Bezirk Nishnij Nowgorod, der seit Jahren den schwerverdienten Ruf "des Polygons der Reformen" traegt. (Was war es fuer eine glaenzende Idee, einen Polygon ausgerechnet auf der Stelle zu schaffen, wo Menschen leben!)

1993 wurde hier als ein Riesenshow das Nemzow-Jawlinski-Program "SeRNO" gestartet. "SeRNO" ist eine Abbreviatur fuer die "Agrarreform des Bezirks Nishnij Nowgorod" und heisst gleichzeitig "Getreide" auf Russisch. Jawlinski und Nemzow, ein Ideologe und ein Praktiker, prophezeiten, dass die Bauer, die nach Jahrzehnten der unangenehmen Sowjetmacht durch die Privatisierung wieder zu dem angenehmen "Gefuehl eines Eigentuemers" (auf gut deutsch, "Gier") finden, ihren Hintern schnell in Bewegung setzen und uns mit der schnell steigenden Produktivitaet erfreuen.  

Eventuell bestaetigt sich diese Prognose, wenn man alles bis auf die letzte Kolchose privatisiert. Bis man nicht so weit ist, muss man leider feststellen, dass das verdammte Leben doch komplizierter ist, als sich sogar Wirtschaftsgenies denken konnten, und dieses verdammte Leben uns wieder betrogen hat.  

Seit 1993 sind Anbauflaechen im Bezirk insgesamt um 300 Tausend Hektar geschrumpft,  darunter die fuer Getreide um 25%, die fuer Gemuese zweimal, fuer Kartoffeln sechsmal, fuer Flachs 15-mal. Die Farmer- und Einzelbauerwirtschaften, die als Lokomotive des landwirtschaftlichen Wachstums gedacht wurden, besitzen 4% der Anbauflaechen, stellen aber nur 1% des Bruttoprodukts in der Branche her.  

Die Dorftrottel, die bei sich die segensreiche Gier nicht entwickeln konnten, verlassen ihre Kolchosen und fliehen in die Staedte. Diese Tendenz gab es noch zu Sowjetzeiten. Zwischen 1976 und 1986, z.B., ist die arbeitsfaehige laendische Bevoelkerung im Bezirk um 110 Tausend zurueckgegangen. Die Zahl der Arbeitstaetigen wurde jedoch nicht beeinflusst.

Die blieb staendig auf dem Niveau von 230 bis 240 Tausend. Nur die versteckte Arbeitslosigkeit hat sich nach und nach vermindert.  

Diese Zeiten sind jetzt vorbei. Zwischen 1992 und 1996 ist die Zahl der Arbeitstaetigen um 52 Tausend (27,2%) gesunken. Es fehlen Traktoristen, Viehzuechter und Landwirtschaftskundige. Die ausgebildeten Agronome arbeiten bei den Banken und Autohaendlern - natuerlich, wenn man Glueck hat. Die Gluecklichen bilden selbstverstaendlich eine Minderheit. Der neue Gouverneur Iwan Skljarow musste schliesslich die Umsetzung des Programs "SeRNO" einstellen.  

Ein Grund fuer das Scheitern der Farmerutopie war, so die Befuerwoerter der Reform, die falsche Mentalitaet der Bauer, die sich ihrem eigenen marktwirtschaftlichen Glueck widersetzten. Von den 440 Tausend Arbeitsfaehigen auf dem Lande haben lediglich 3625 Personen einen Antrag auf Ausgliederung ihres Landanteils gestellt. Es wurden 479 der aus Kolchosen und Sowchosen ausgegliederten Einzelbauerwirtschaften gegruendet. Selbst die begabten Redner Nemzow und Jawlinski konnten nichts dafuer.  

Es fehlten auch materielle und technische Voraussetzungen fuer das Einzelwirtschaften. Ein mit dem Eigentuemers Gefuehl ausgestattete Bauer kann sich zweifellos auch mit einem Spaten - oder einem Loewenbraeu - in der Hand ueber das neue freie Leben freuen. In der Kabine eines eigenen Traktors geht es doch viel natuerlicher. Einen Bankkredit fuer den Kauf eines Traktors kriegte ein Bauer aber nur in einem Ausnahmefall. Die Bank kann man auch verstehen: Wozu in die Landwirtschaft fuer Jahre investieren, wenn man von Spekulationen mit Staatsobligationen bis zu 50% Gewinn in bloss einem Vierteljahr erzielen konnte? Das Problem haben die Architekten der russischen "Marktwirtschaft" in ihrer Reformeifer voellig uebersehen.  

Was gleichzeitig ihren weiteren ideologischen Sieg bedeutete. Karl Marx behauptete im 1.Band von "Das Kapital", selbst der schlechteste Architekt ist einer Biene ueberlegen, obgleich Honigwaben wesentlich attraktiver als manche menschlichen Bauexperimente aussehen. Ein Architekt habe im Gegensatz zu einer Biene einen Bauplan, noch bevor er mit dem Bau anfaengt. Jetzt ist auch dieses marxistische Dogma widerlegt.