Die Regierungskoalition ist nach »gutem
parlamentarischen Brauch« intensiv damit beschäftigt, jene sozialen und
politischen Grausamkeiten umzusetzen, die in der ersten Hälfte einer
Legislaturperiode erfolgen müssen, will man die Wiederwahl nicht gefährden. So
soll noch vor der Halbzeit eine große Steuerreform, die Umrüstung der
Bundeswehr in eine international einsetzbare Krisenreaktionstruppe, der
Atom-Konsens mit der Stromwirtschaft und der Umbau der Rentenversicherung durch
die Gesetzesmühle gedreht werden.
Dieses Arbeitsprogramm zur Beseitigung des berüchtigten »Reformstaus« kostet
den Koalitionspartner Bündnis 90/die Grünen die politische Identität. In Münster
ist mit der Wahl der Parteivorsitzenden Künast und Kuhn der Niedergang des
linken Flügels festgeschrieben worden. In dem 16-köpfigen Parteirat ist die
Linke nicht mehr vertreten, die Partei ist erfolgreich von den Realos erobert
worden. Für Außenminister Fischer ist – nach der knappen Zustimmung der Grünen
zum NATO-Krieg in Jugoslawien – mit der deutlichen Zustimmung zum
Atomkompromiss ein Lebensabschnitt der Grünen zu Ende gegangen: »Jetzt müssen
wir uns inhaltlich neu erfinden, ohne uns selbst zu verlieren.«
Nicht nur die Journalisten, auch das Wahlvolk bescheinigt der mainstreamförmigen
Regierungspartei rapide politische Auszehrung, intellektuellen Substanzverlust
und eine dünner werdende Personaldecke. Jetzt haben die besten Politik-Verkäufer
die Führung der Partei übernommen und hoffen durch Deckelung innerparteilicher
Opposition und publikumswirksame Performance die Wählergunst zurückzugewinnen.
Aber der Verlust der Friedensinitiativen, der Anti-Atomkraft-Aktivisten und die
wachsende Distanz der Umweltverbände wird sich nicht durch einfaches
Themen-Zappen kompensieren lassen.
Nur der sozialdemokratische Kriegminister Scharping grantelt noch über die Bündnisgrünen:
»Wenn in der Koalition mehr Opposition gemacht wird, als die CDU/CSU überhaupt
fähig ist zu machen«, dann gleiche das dem Verhalten eines »rechthaberischen
Kindes«. Seine Kompagnons in der SPD-Führung sind über den Anpassungsprozess
der Grünen höchst zufrieden. Nach der Drohung in Nordrhein-Westfalen, den
kleiner gewordenen Koalitionspartner durch die gelifteten Freidemokraten zu
ersetzen, wähnen sich die Sozialdemokraten in der Rolle der hegemonialen Führungskraft.
Der Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende Schröder ruft seine Partei, vor allem die
umfirmierte SPD-Linke, die Gewerkschaften, Sozialverbände und andere »befreundete«
Organisationen auf, die »Koalition der Mitte« jetzt entschieden zu unterstützen.
Es dürfe nicht zu einem »Kartell der Unbeweglichkeit« kommen, das erneut alle
Modernisierungsprozesse blockiere. Dass sich Gewerkschaften, Sozial- und
Umweltverbände zu einer Verteidigung der sozial-ökologischen Interessen ihrer
Mitglieder gezwungen sehen könnten, will dem Boss der Bosse nicht einleuchten.
Es braue sich im Lager der »neuen Mitte« ein Gemisch aus »Unkenntnis,
parteitaktischem Verhalten und gelegentlicher Sozialromantik« zusammen, mit dem
in letzter Konsequenz die Hegemonie von Rotgrün gefährdet werde.
Die Beschreibung von Schröder ist nicht schlecht. Es ist in der Tat so, dass
sich unter Führung der Sozialdemokratie ein Kartell der Beweglichkeit
zusammengefunden hat. Dieses Kartell verfolgt eine Politik, die durch die
Wettbewerbsfähigkeit des bundesdeutschen Kapitals bestimmt wird. »Sozialromantik«
ist, wenn die Einsicht in moderate Lohnabschlüsse, den Abbau der
Lohnnebenkosten und Co-Partnerschaft mit dem Kapital verweigert wird. Doch wer
will sich ein solches Etikett – oder den Vorwurf der Unbeweglichkeit und des
»Traditionalismus« – heutzutage noch anheften lassen. Da ist es schon
besser, Niederlagen in Erfolge umzudichten, beispielsweise in der Tarifpolitik:
»insgesamt wurde der Spielraum einer ›produktivitätsorientierten
Lohnpolitik‹, wie sie die Arbeitgeber im Bündnis wollen, für das Jahr 2000
deutlich überschritten.«1 Doch das sollte eigentlich nicht die
Messlatte sein. Für die IG Metall hörte noch vor einem Jahr Bescheidenheit
dort auf, wo Tarifabschlüsse auf dem Niveau von Produktivitäts- plus
Preissteigerung getätigt werden – und sie hat dies in internationalen
Abkommen mit ihren Schwesterorganisationen in Europa festgehalten, um
Lohndumping künftig zu verhindern. Klaus Lang ficht das alles nicht an: »das Bündnis
für Arbeit hat in dieser Tarifrunde einen wichtigen Schritt gegen die
Arbeitslosigkeit ermöglicht... Klare Forderungen, für die auch notfalls
mobilisiert werden kann, müssen die Gewerkschaften dazu in Bündnisgesprächen
voranbringen.«
Genau in diesem »notfalls mobilisieren« liegt die Crux. Ohne Mobilisierung
wird sich die Krise der Gewerkschaften und der politischen Repräsentation
insgesamt beschleunigt fortsetzen. Es ist unakzeptabel, dass ohne klare
Positionsbestimmung zu den Verteilungsrelationen Bündnisgespräche mit den
Unternehmen und den rotgrünen Führungskräften der politischen Klasse geführt
werden. Nur bei entsprechender Mobilisierung von Gewerkschaften, Sozial- und
Umweltverbänden könnte von »Waffengleichheit« überhaupt die Rede sein. Die
Entscheidung, wohin die Reise geht, wird im Konflikt um die schrittweise
Privatisierung der Alterssicherung fallen.
Im Unterschied zur Strategie der Neokonservativen, die sich durch fortgesetzten
Konfrontationskurs eine Blockade eingefangen hatten, basiert die Politik der »neuen
Mitte« auf Einbindung. »Im Korporatismus beginnt alles – von der Steuer über
die Rente bis hin zur Lohnfindung – am tripartistischen Konsenstisch. Hier
soll der makroökonomische Rahmen gesteckt, hier sollen verpflichtende
wirtschaftspolitische Verabredungen getroffen werden. Das ›Sagen‹ in dieser
Welt haben die Verbände, Gewerkschaften und Regierung. Der tripartistische
Kreis ist ein Ausgleichsgremium. Die Akteure dieses Kreises übersetzen die
Beschlüsse in ihre jeweiligen Verbände und Unterverbände. Von dort gehen die
Maßgaben und Direktiven über an die Einzelunternehmen respektive
Gewerkschaftsmitglieder. Die Hierarchisierung der korporatistischen Welt ist
eine Top-down-Ordnung. Beim Bündnis für Arbeit im Frühjahr hat das sogar
funktioniert.«2
Nach den mageren Ergebnissen der Tarifrunde 2000, der Bestandsgarantie für die
Atomwirtschaft, der Unternehmenssteuerentlastung und den alles bisherige
sprengenden Zumutungen der Renten»reform« formiert sich ein Kartell der
Unbeweglichkeit – das hat das Führungszentrum der politischen Klasse klug
erkannt und erhöht den Druck. Wo stehen wir also?
1. Die beschleunigte Transformation der grünen Partei ist selbst ein Ergebnis
der Top-down-Strategie. Was mit der zügigen Zustimmung zur Kriegsführung
begann, konnte über die Lohnnebenkostenlogik und die Konsenspolitik in Sachen
Atomstrom fortgesetzt werden. Die von Josef Fischer geforderte Neuerfindung ohne
Identitätsverlust kann nicht gelingen. Die verbliebenen Funktionäre und
Mandatsträger sind längst zu gefügsamen Mitläufern der politischen Klasse
mutiert. Im Unterschied zum Konkurrenten FDP hat der Großteil der Funktionsträger
keinerlei Vermögensrücklagen und ist auf die Teilhabe am gesellschaftlichen
Reichtum über politische Umverteilung angewiesen.
2. Der Kanzler gefällt sich in der Pose, über die SPD-Restlinke herzuziehen.
Von der ist zu vermelden, dass sich aus dem Frankfurter Kreis ein neuer Verein
gegründet hat. So what? Einen Nachweis für Widerstand gegen die
Top-down-Politik ist die verbliebene SPD-Linke bislang schuldig geblieben. Verlässlicher
sind solche »Traditionalisten«, die um die Bedeutung des Sozialstaates bei
Zivilisierung des Kapitalismus wissen, statt inhaltsleer über Zivilgesellschaft
zu schwafeln. Rudolf Dreßler ist so einer. Auf einem Gewerkschaftskongress der
HBV nach Veröffentlichung des Manifestes von Bodo Hombach zum aktivierenden
Staat hatte er zu Protokoll gegeben: Wenn dies zur offiziellen Programmatik
erhoben werde, ist die SPD nicht mehr seine Partei. Nachdem die
Regierungspolitik immer mehr durch diese Programmatik inspiriert wird, darf Dreßler
sein politisches Leben als Botschafter in Israel ausklingen lassen. In einer
Abschiedsrede erteilt er den richtigen Ratschlag. »Wer aktuell in diesen Wochen
die Haushaltsberatungen für das Jahr 2001 mit der Forderung – ich sage
›belastet‹ – eine Absenkung der Beitragsbemessung für
Arbeitslosenhilfeempfänger auf die Grundlage der tatsächlichen
Lohnersatzleistung zu reduzieren, der spart 3 Milliarden Mark. Der macht
gleichwohl – und das gleichzeitig – ein Fass auf... Die Verschiebebahnhöfe
legten den nächsten Sprengsatz an die GKV-Beiträge und damit auch an die
Lohnnebenkosten.«3 Die nächsten Sparrunden und Verschiebungen in
den Verteilungsverhältnissen sind uns sicher. Also noch mehr Top-down.
3. Die Top-down-Politik funktioniert auch in Richtung Opposition, wie die
Einbindung von Graf Lambsdorff, des Verfassungsliberalen Hirsch und der
ehemaligen Parlamentspräsidentin Süssmuth zeigt. Doch von diesen
populistischen Wendungen im bürgerlichen Lager haben die subalternen Klassen
nichts zu erwarten.
4. Mit der Losung »Raus aus dem korporatistischen Bündnis« ist wenig
gewonnen. Selbstisolation spielt der Top-down-Strategie der Herren Schröder und
Fischer in die Hände. Was wir brauchen, ist die Festigung des Kartells der
vermeintlichen Unbeweglichkeit, die hartnäckige Verteidigung der berechtigten
Interessen. Wenn die PDS ihren internen Tanz um das revolutionäre Kalb beendet,
ohne zur Regionalpartei zu mutieren, sollte uns diese Verstärkung willkommen
sein.
Joachim Bischoff und Richard Detje sind
Redakteure von Sozialismus.
1 Klaus Lang, Tarifabschluss und Bündnis für Arbeit, Böckler-Rundbrief, Juni
2000.
2 Rainer Hank, Die New Economy verdrängt die Verbände, in: Die Mitbestimmung
6/2000, S. 26.
3 Rudolf Dreßler, Wider die Freiheitsversprechen, die keine sind. Rede vor der
VdAK-Mitgliederversammlung am 14. Juni 2000 in Siegburg, Redemanuskript, S. 11.
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