SPD heute – Ende gut, alles gut?

Büchervorstellung von Richard Albrecht

5-6/2019

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Der Autor des ersten, schon in zweiter Auflage vorliegenden, Bands zum Untergang der "ersten deutschen Arbeiterbewegung" ist Berliner, Jahrgang 1951 und als Direktor beim Deutschen Entwicklungsdienst in Afrika südlich der Sahara tätig. Ein kurzes Vorwort von Ulrich Peter führt knapp ein in die "Darstellung" vom "Aufkommen der sozialistischen Bewegung im Vormärz des 19. Jahrhunderts bis zu ihrer katastrophalen Niederlage 1933". Und formuliert als wichtige Frage, warum sich "die deutsche Arbeiterklasse [...] von Niederlage zu Niederlage führen ließ" und sei´s sozialdemokratischen sei´s kommunistischen Führungen folgte. Dallmers Kernaussage wird im Satz: "Die alte sozialistisch-kommunistische Arbeiterbewegung ist heute Geschichte" zusammenfaßt. Und seine "Schrift" gelobt als "Beitrag zur Beantwortung für diejenigen, die auf der Suche nach Lehren aus der Geschichte sind".

Die großflächige Kurzdarstellung durchzieht eine Vermengung von Arbeiterklasse, Arbeiterbewegung und sozialistischer Politik in Deutschland seit dem Weberaufstand 1844 und der politischen Demokratiebewegung 1848/49. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die aus revolutionärem Aufbegehren bald schon begünstigte, entwickelte und erstmalig als Massenbewegung organisierte Gegenrevolution mit der faschistischen Machtübergabe, Machtübernahme und Machtausübung des Nationalsozialismus 1933:


Klaus Dallmer, Die Meuterei auf der "Deutschland" 1918/19. Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung. Berlin: Die Buchmacherei, 1918; 2. durchgesehene Auflage, April 2019, 320 p., 12 €.
 

"Nachdem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften 1914 in die Burgfriedenspolitik eingetaucht waren, konnte vernünftigerweise niemand mehr ernsthafe Bemühungen zur Überwingung des Kapitalismus von ihnen erwarten – die Klasse dazu zusammenzuführen, war die historische Aufgabe der Kommunisten. Vor dieser Aufgabe hat die KPD jämmerlich versagt [...] Wirkliche Arbeiterparteien entstehen im Kampf, die Solidarität hält sie zusammen. Darum kann sie auch niemand anderes zerstören als sie selbst [...] Das haben SPD und KPD in der Weimarer Republik vollbracht – den Rest besorgten die Nazis. Nach dem zweiten Weltkrieg haben die Überlebenden sie wiederbelebt, aber sie blieben nur ein Schatten ihrer selbst."

Diese bittere Wertung des Autors klingt wie sein Rückbezug auf Rosa Luxemburg und seine sozialistische Zwischengruppenoption nach Wolf Abendroth (1906-1985)[1] recht eingängig – verdeutlicht aber auch als Grundschwäche des Ansatzes die fehlende analytische Unterscheidung und den Zusammenhang von Arbeiterschaft oder (marxistisch) Arbeiterklasse als Zustand, proletarischer sozialer Bewegung als Handlung und sozialistischer Politik als Mittel zur Aufhebung von Klassenherrschaft ohne daß "der Prolet wieder der Gehherda" wird (Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche). Und wie zutreffend Dallmers zeitgeschichtliche Sicht ("moralisch hatte der Kapitalismus in Deutschland spätestens 1914 sein Existenzrecht verwirkt") angesichts des ersten großen Weltfest des Todes (Thomas Mann) 1914-1918 auch immer sein mag – die im Vorwort angesagten "Lehren aus der Geschichte" für eine zweite Arbeiterbewegung nach dem "Untergang" der ersten und dem Abschluß des "alten Revolutionszyklus" im gegenwärtigen bürgerlichen Deutschland gibt´s auch im Fazit genannten Ausblick nicht.
 

Um Kritik der SPD und ihrer unübersehbaren Krise geht´s auch in Heinz Niemanns Randglossen unterm verballhornten Titel Streiten Seit´ an Seit. Der auf die Hymne der alten deutschen Arbeiterbewegung "Wann wir schreiten Seit´ an Seit´ / Und die alten Lieder singen" (Hermann Claudius 1914) anspielt. Der Autor ist Jg. 1936, Zeitgeschichtler, lebt in Berlin, lehrte zunächst seit 1971 als Professor Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der KMU Leipzig und von 1983-1989 dieselbe an der HU Berlin. Dort wurde er nach der 89er-Wende bis 1992 Gründungsdirektor des Instituts für Politikwissenschaft, bald entlassen und freier politischer Publizist.[2] (Für meine Carlo-Mierendorff-Biographie Der militante Sozialdemokrat [1987] sah ich seine 1978-1985 publizierten Veröffentlichungen zur SPD durch und fand sie kritisch und anregend. Später erfuhr ich, daß Niemann einer kleinen Oppositionsgruppe in der SED angehörte; jedoch ohne Bezug auf Rudolf Bahros zeitgleich veröffentlichte Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus [1977].)


Heinz Niemann,
Wann wir streiten Seit´ an Seit´. Randglossen zur Krise der SPD
und der Lage der Linken
.
Berlin: verlag am park,
2019, 208 p., 15 €.

Als SPD-Kritiker, der sowohl die Ansichten führender SPD-Politiker als auch diverser SPD-Zeitgeschichtler der letzten vier Jahrzehnte wo nötig zitiert, hat Niemann seine "nüchtene Analye des Charakters der heutigen SPD" so zusammengefaßt: "Die SPD hat kein zukunftsweisendes Konzept zur demokratischen und sozialen Entwicklung der Europäischen Union, kein Konzept zur Abwehr ihres Umbaus zu einer NATO-kompatiblen Militärmacht, kein Konzept zum Ab- und Umbau einer zutiefst ungerechten Weltwirtschaft, kein Konzept zur Überwindung von Unterentwicklung, kein Konzept der entschiedenen Bekämpfung der Ursachen der Massenemigration vor Ort ... Einen Politikwechsel mit der Chance zum Einstieg in einen gesellschaftlichen Transformationsprozess wird es mit dieser SPD nicht geben."

Heute befindet sich die SPD, offen erkennbar an den herbstlichen Bundestagswahlergebnissen 2017, nach zwei "rotgrünen" Bundesregierungen (2008-2005) mit Schröderscher "Agenda 2010" in "der größten Krise ihrer Geschichte" als Ausdruck einer "tiefen Existenzkrise": "nicht einmal eine kleine Alternative", die 2013 im Bundestag in Form einer von der Linkspartei (PdL) "tolerierten SPD/Grüne-Koalition" anstatt einer erneuten großen Koalition möglich war, wurde angedacht.

Die "gegenwärtige Krise der Linken" in Ganzdeutschland "deutet darauf hin, dass die im traditionellen wie im ´modernisierten´ Verständnis sozialdemokratische Idee inzwischen als Strömungen gleichzeitig in zwei Parteien existiert": in der SPD und in der PdL, dort freilich "noch unübersichtlicher als in der SPD", als "strategisch ungeeinte und personell zerrissene" politische Partei ohne strategisch kluge Führung."[3]

Zum Schluß vorm kurzen Nachwort, das Peter Brandts Plädoyer für eine "linke Ökumene" in Form einer "Sammlungsbewegung links von der Mitte" lobt[4], erinnert Niemann an eine Grundentwicklung in allen finanzkapitalistisch bestimmten Gesellschaften seit den 1980er Jahren: ihre "neu entstandenen Konfliktlinien". Angesichts des "allgemeinen Unbehagens der Massen gegenüber Parteien" sowie speziell gegenüber SPs wünscht sich der Autor auch im gegenwärtigen Ganzdeutschland wie in Griechenland, Spanien, Italien und Frankreich eine (vom sozialen und Klassencharakter her vage bleibende) linke Sammlungsbewegung, die sich zwecks grundlegender politischer Veränderungen "unter Umständen auch an Wahlen beteiligen muß oder sollte".

Anmerkungen

[1] http://www.trend.infopartisan.net/trd0119/t100119.html; Links mit Manuskriptabschluß am 15. Mai 2018 überprüft.

[2] https://research.uni-leipzig.de/catalogus-professorum-lipsiensium/leipzig/Niemann_1193.pdf;

https://www.eulenspiegel.com/autoren/autor/799-heinz-niemann.html [im Buch p. 1].

[3] https://www.jungewelt.de/artikel/353745.parteien-natürlich-müssen-linke-die-systemfrage-stellen.html [Interview mit Heinz Niemann am 27. April 2019]

[4] https://www.ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/wir-brauchen-eine-linke-oekumene-2910/

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.

Dr. Richard Albrecht ist historisch arbeitender Kultur- und Sozialwissenschaftler. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute. Autor der Berliner Netzzeitung trend, des Marburger Forum Wissenschaft und der Kieler Bibliothekszeitschrift Auskunft.