Berichte
Algerien im April 2019

von Bernard Schmid
 

5-6/2019

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Massendemonstrationen in Algerien  2019 / Screenshot youtube

Bericht vom 02. April 2019
Der
Rücktritt von Staatspräsident Bouteflika

Da hatten sie sich so beeilt: Die Staatsspitze hatte die Ankündigung der neuen Kabinettsliste noch am Abend des Sonntag, den 31. März 19 vorgenommen; vielleicht sollte es nicht, am folgenden Tag verkündet, wie ein Aprilscherz wirken.

In Algeriens Machthaberkreisen hatte man es nun also doch eilig mit der Ablösung des 82jährigen, nach allgemeinem Dafürhalten amtsunfähigen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika ( die korrekte Transkription aus dem Arabischen in internationaler Lautschrift : ‘Abdel’aziz Butfliqa ). Dessen Absetzung wegen ärztlich diagnostizierter Unfähigkeit zur Amtsführung schien zu dem Zeitpunkt kurz bevorzustehen, auch wenn seine Umgebung noch zähen, hinhaltenden Widerstand leistete.

Bouteflika hatte zunächst angekündigt, vor Ablauf seines Mandats, das regulär am 28. April d.J. zu Ende ginge, von der politischen Bühne anzukündigen. Doch dann meldete sich im Laufe des Montag, den 1. April 19 der amtierende Armeechef Ahmed Gaïd Salah zu Wort und forderte brüsk, Bouteflika müsse sofort und nicht erst später gehen. Am Abend reichte das seit zwanzig Jahren amtierende Staatsoberhaupt dann auch tatsächlich seinen Rücktritt ein.

In Tunesien hatte man das Vorgehen gegen den seinerzeit 84jährigen Langzeitpräsidenten Habib Bourguiba, betrieben durch seinen damaligen Innenminister und kurz darauf ins Amt drängenden Nachfolger Zine el-‘Abidine Ben ‘Ali, als „medizinischen Staatsstreich“ bezeichnet. Im Nachbarland Algerien gibt es dazu einen gewichtigen Unterschied: Im dortigen Szenario schien das gesamte etablierte politische System sich nunmehr zunächst auf eine medizinisch indizierte Ablösung Bouteflikas ausgerichtet zu haben; doch dessen Nachfolger ist noch nicht wirklich in Sicht. Es zeichnet sich jedenfalls bislang keine zentrale Figur ab, die durch das Establishment öffentlichkeitswirksam auf den Schild gehoben und auf die künftige Präsidentschaft vorbereitet werden könnte. (Natürlich: Was nicht ist, kann noch kommen, wird jedoch ein bisschen Zeit benötigen.)

Vom Establishment geplant – bevor Abdelaziz Bouteflika allen anderen Akteuren durch seine Rücktrittserklärung zuvor kam – war ein Rückgriff auf Artikel 102 der Verfassung des Landes. Dieser ist für die Amtsunfähigkeit eines Staatspräsidenten konzipiert. Dazu ist vorgesehen, dass das Verfassungsgericht aus eigener Kompetenz zusammentritt und dem Parlament einen Resolutionstext vorlegt, der diese Situation offiziell konstatiert. Dadurch wird eine 45jährige Interimsperiode eröffnet, die einmalig verlängert werden kann; am Ende der maximal 90 Tage gilt der bisherige Staatschef, sofern er nicht freiwillig seinen Rücktritt erklärt hat, als automatisch zurückgetreten, und eine Neuwahl wird fällig. Während der Dauer dieser Periode übt der Vorsitzende des Senats (Conseil de la nation), also des parlamentarischen Oberhauses, als Übergangspräsident die Amtsgeschäfte aus. Diese Funktion übt derzeit der, in der Öffentlichkeit relativ unbekannte Polittechnokrat ’Abdelkader Bensalah aus.

Ihm ist es verboten, während der Übergangsperiode das bestehende Regierungskabinett umzubilden. Aus diesem Grunde auch hatten die wahren Entscheidungsträger es vergangene Woche eilig, eine Kabinettsbildung vorzunehmen. Denn infolge der am 11. März 19 erfolgten Einsetzung einer neuen Regierung unter dem vormaligen Innenminister Noureddine Bedoui – ein Gewährsmann von Nacer Bouteflika, einem der Brüder des künftigen Ex-Präsidenten - waren zunächst nur zwei Kabinettsposten besetzt worden. Die übrigen blieben vorläufig vakant.

Verhandlungen im Vakuum

Dies hatte einen konkreten Grund: Die Machthaber verhandelten, in einem Luxushotel in Algier und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, mit Oppositionsparteien und Interessenverbänden über die Aufnahme von Vertretern in die neue Regierung. Doch diese schlugen das Angebot zunächst ausnahmslos aus. Verhandelt wurde unter dem Vorsitz des 85jährigen Diplomaten Lakhdar Brahimi, dessen Aufgabe darin bestand, einen möglichst geordneten Übergang der politischen Macht hinzubekommen, ohne dem Druck der Massenproteste nachzugeben.

Aus diesem Grunde weist das jetzige neue Kabinett auch keine Repräsentanten von Oppositionskräften – wie der Berberparteien FFS und RCD oder der „Avantgarde der Freiheitsrechte“ unter dem früheren Premierminister (2000 bis 2003), ‘Ali Benflis - auf, da diese sich alle weigerten, Minister zu entsenden. Stattdessen wird der Chef des bislang in Staatshand befindlichen Erdgasunternehmens Sonelgaz, Mohamed Arkab, direkt zum Energieminister ernannt, und der Gouverneur der Nationalbank – Mohamed Loukal – wird direkt zum Finanzminister. Die hohe Staatsbürokratie, die direkte Verbindung zu einem halbmafiösen Privatunternehmertum aufweist, ist also prominent vertreten.

Dagegen wurde einer der prominenten Vertreter dieser halbmafiösen Privatkapitals, das sich am Zuschanzen lukrativer Staatsaufträge oder der Privatisierung von Filetstücken bisher öffentlicher Unternehmen bereichert hat, in der Nacht vom Samstag zum Sonntag (vom 30. zum 31. März 19) an der algerisch-tunesischen Grenze festgenommen. Seit zehn Tagen war ein Ausreiseverbot über ihn verhängt worden, das er jedoch verletzte. Es handelt sich um den 54jährigen ‘Ali Haddad, den am vorigen Donnerstag frisch zurückgetretenen Chef des algerischen Unternehmerverbands FCE. Er steht dem einflussreichsten Präsidentenbruder, Said Bouteflika, besonders nahe und befand sich aufgrund seiner Position an der Schnittstelle einiger der heftigen Verteilungskämpfe im Lager der herrschenden Oligarchie.

Der wohl bekannteste Karikaturist Algeriens, ‘Ali Dilem, spottete darüber, Haddad sei „der erste illegale Auswanderer (harraga) seit dem 22. Februar“, dem Datum, das den Beginn der Massenproteste markiert. Zwar dürften ein paar Menschen unterdessen das Land außergesetzlich verlassen haben, doch Dilem bringt auf den Punkt, dass die Massenbewegung vielen Menschen in Algerien erstmals seit langen Jahren eine Hoffnungsperspektive im eigenen Land gegeben hat.

Was die Regierungsbildung rechtzeitig vor der erwarteten Inkraftsetzung des Artikels 102 betrifft, so war und ist anscheinend vorgesehen, das vom Verfassungstext vorgesehene Drehbuch einzuhalten, also keine Umbesetzung während der Interimsperiode vorzunehmen. An anderer Stelle dagegen wurde der Text de facto nicht respektiert: Das Verfassungsgericht trat nicht wirklich aus eigener Kompetenz zusammen, sondern erst, nachdem am vorigen Dienstag, den 26. März 19 der 78jährige Generalstabschef der Armee – Ahmed Gaïd Salah – öffentlich den Vorschlag unterbreitet hatte, den Artikel 102 zur Krisenbewältigung zu wählen. Seinem Gang an die Öffentlichkeit folgten kurz darauf reihenweise die Erklärungen aus dem herrschenden Block, dessen Vertreter urplötzlich entdeckten, dass Bouteflika eventuell nicht zur Führung der Staatsgeschäfte in der Lage sei. Sie kamen etwa aus dem RND („Nationale demokratische Sammlung“), einer der beiden großen Regierungsparteien – neben der ehemaligen Staatspartei, dem FLN („Nationale Befreiungsfront“), die jedoch ihrerseits stumm blieb –, in dessen Reihen der frühere Premierminister Ahmed Ouyahia die Einsicht gewonnen hatte, Bouteflika sei nicht mehr zum Regieren in der Lage.

Blieb er in seiner Erklärung betont respektvoll gegenüber Bouteflika, entdeckte einer seiner Parteifreunde vom RND - einer Partei, die als absolut willfährig gegenüber der Staatsspitze bekannt war – gar urplötzlich, Bouteflika habe ein illegales Willkürregime angeführt und das Volk unterdrückt. Zu den Frischkonvertierten zählt auch ‘Abdelmadjid Sidi Saïd, der seit 1997 amtierende Chef des offiziellen Gewerkschaftsdachverbands UGTA. Nachdem die UGTA während des antikolonialen Kampfs 1956 als verlängerter Arm der damaligen Untergrund- und späteren Staatspartei FLN entstand, hat diese Organisation es seit dem Bestehen der staatlichen Eigenständigkeit nie wirklich geschafft, zur staatsunabhängigen Beschäftigtenorganisation zu werden. Seit 1990 bestehen jedoch auch mehrere unabhängige Gewerkschaften oder syndicats autonomes, die staatlichen Schikanen ausgesetzt sind, jedoch vor allem in mehreren öffentlichen Diensten eine reale Rolle spielen und auch eiNen wichtigen Faktor in der derzeitigen Protestbewegung darstellen.

Die wichtigste Herausforderung für die Machthaber besteht nun darin, irgendeine Antwort auf den Druck der Massenproteste zu finden, die sich auch am vorigen Freitag, den 29. März 19 – dem sechsten Protestdatum mit Millionendemonstrationen in Folge – nicht abschwächten. Die Einleitung des Verfahrens nach dem Verfassungsartikel 102 durch, mindestens, einen relevanten Teil des Machtzentrums soll just dazu dienen, eine Kontrolle über den Übergangsprozess zu behalten und diesen „von oben“ zu inszenieren. Doch die Protestierenden lehnen dieses Vorgehen längst offen ab. „102: kein Anschluss unter dieser Nummer. Bitte kontaktieren Sie das Volk unter Nummer 2019 – Artikel 2019: Geht alle!“, war am vorigen Freitag etwa auf Transparenten zu lesen. Auf einem anderen Demotransparent stand, an die Adresse der sich nun plötzlich von Bouteflika abwendenden Staatsparteien und parastaatlichen Interessenverbände gerichtet, von denen jedenfalls manche sich nun als Teil des Protests darzustellen versuchen: „Wir haben Euch gesagt, Ihr sollt alle gehen; nicht alle kommen!“
 

Bericht vom 11. April 2019
Erstmals seit Ausbruch der Proteste repressives Vorgehen der Polizeikräfte - Unabhängige Gewerkschafter/innen im Visier

Hat nun die Stunde der Repression geschlagen? Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Algeriens Machthaber nun auf breiter Fläche mit repressiven Mitteln gegen die Massenproteste vorgesehen, fallen diese dafür doch zu massiv aus. Aber am vorigen Samstag, den 06. April 19 ging die Polizei, die seit dem Ausbruch der Proteste gegen die damals angekündigte Kandidatur von Altpräsident Abdelaziz Bouteflika (korrekte Transkription aus dem Arabischen: ‘Abdel’aziz Butfliqa ) für eine neue Amtszeit überwiegend tolerant auftrat, erstmals wieder gewaltförmig gegen Proteste vor.

In der Hauptstadt Algier gilt theoretisch seit Juni 2001 ein absolutes Demonstrationsverbot, das verhängt worden war, nachdem im Frühjahr jenes Jahres eine Massenbewegung der berbersprachigen Jugend die östlich von Algier liegende Region Kabylei erfasst hatte. Als am 14. Juni 2001 über eine Million Menschen zum Demonstrieren in die Hauptstadt kamen, verhängte die Staatsmacht kurz danach den Ausnahmezustand. Dieser untersagte seitdem politische Versammlungen in der Hauptstadt, ein Verbot, das also nicht mit dem islamistischen Terrorismus der neunziger Jahre zusammenhängt – während des als „schwarzes Jahrzehnt“ bezeichneten Bürgerkriegs fanden Demonstrationen noch weitgehend ungehindert statt. In den ersten Jahreswochen 2011, als der damalige Massenprotest in Tunesien auch Algerien kurzzeitig zu berühren schien, lockerten die Machthaber den Schraubstock insofern, als die formal den Ausnahmezustand aufheben. Das Demonstrierverbot in Algier blieb jedoch unverändert bestehen (auch wenn es insbesondere während mancher Streikbewegungen kurzzeitig de facto missachtet wurde).

Doch seitdem der Unmut über den Versuch der Regierenden, den schwerkranken und de facto amtsunfähigen Bouteflika noch einmal auf den Präsidentenstuhl zu hieven, breite Kreise umfasste, ließen die Sicherheitsorgane die Teilnehmenden zunächst weitgehend gewähren. Das Verbot wurde faktisch durchbrochen, wie schon zuvor in den letzten Jahren bei einigen wenigen Streikdemonstrationen, dieses Mal jedoch systematisch.

Am vergangenen Samstag, den 06. April 19 jedoch griffen die Sicherheitskräfte auf brutale Weise ein, um die Kundgebung von „freien Gewerkschaftern“ vor dem Sitz ihrer Organisation, der UGTA („Allgemeine algerische Arbeiterunion“), zu unterbinden. Die Opponenten innerhalb der UGTA, deren bürokratischer Apparat seit Jahrzehnten mit der Staatsmacht und der früheren Staats-, noch immer mitregierenden Partei FLN („Nationale Befreiungsfront“) verbandelt ist, machen sich zunehmend lautstark bemerkbar und fordern etwa, dass Vertrauensleute in den einzelnen Unternehmen durch die jeweilige Basis gewählt werden. Auch beginnen sie am Stuhl des seit 1997 – und seit der Ermordung seines Amtsvorgängers durch bewaffnete Islamisten – amtierenden Vorsitzenden ’Abdelmadjid Sidi Saïd, eines langjährigen Unterstützers Bouteflikas und des Regimes, zu wackeln. Neben den unabhängigen Gewerkschaften oder syndicats autonomes, von denen einige seit den frühen Nuller Jahren eine erhebliche Verankerung vor allem unter Kommunalbediensteten, im Bildungs- und Krankenhauswesen finden konnten, bildet die UGTA-Opposition nunmehr den zweiten sozialen Oppositionspol.

Doch die Kundgebung in der rue Aïssait Dir, wo einige Mitglieder der UGTA-Spitze hinter den Fenstern in ihren Räumen hockten, wurde zusammengeknüppelt, im Zusammenspiel von uniformierten Staatsbütteln und Sicherheitsleuten der UGTA. Um die zehn protestierende Gewerkschafter wurden daraufhin festgenommen und auf zwei Polizeiwachen verteilt. Weitere, wohl 35 gewerkschaftliche Vertrauensleute von unabhängigen Gewerkschaften wurden dann am Mittwoch, den 10. April bei einer weiteren Kundgebung zum Thema festgenommen. ( Vgl. https://maghrebemergent.info/algerie-35-delegues-syndicaux-arretes-a-alger/ )

Am Montag, den 08. April dJ. wurde ferner bekannt, dass der als Menschenrechtsanwalt bekannte Verteidiger Salah Dabouz am Vortag in Algier festgenommen worden war. Unmittelbar darauf wurde seine Überstellung in die Saharastadt Ghardaïa eingeleitet, wo der Haftbefehl gegen ihn ausgestellt worden war. Die dortige Justiz warf ihm vor, eines ihrer Urteile kritisiert zu haben. Ferner wurde ihm – unter Berufung auf Behauptungen in einem Artikel, den eine regierungsnahe Zeitung veröffentlicht hatte – vorgeworfen, eine Kamera in eine Haftzelle eingeschmuggelt oder dazu verholfen zu haben.

Dabouz war unter anderem als Rechtsanwalt von Angehörigen der religiösen Minderheit der Ahmadiyya aufgetreten, von denen mehrere 2018 in Ghardaïa wegen „Beleidigung des Islam“ verurteilt wurden. Die Ahmadiyya bilden eine in Pakistan gegründete und messianisch auftretende Glaubensströmung, die ursprünglich antrat, um die muslimische Religion zu reformieren. In Ghardaïa fanden in den letzten Jahren wiederholt gewaltsame konfessionelle Auseinandersetzungen statt, hauptsächlich zwischen berberstämmigen „Mozabiten“ und Angehörigen der sunnitischen Mehrheitsreligion. Seit 2014 hatten wiederholt auch Regierungsvertreter konfessionelle Konflikte in der Region – bei denen auch Landbesitz auf dem Spiel steht – geschürt, bildeten diese doch eine willkommene Ablenkung von den sozialen Problemen im algerischen Süden, die ungefähr zeitgleich in anderen Städten wie Ouargla zu massiven Arbeitslosenprotesten führten.

Salah Dabouz war aber auch der Anwalt des Bloggers Merzoug Touati, gegen den im März dieses Jahres ein Urteil wegen „Aufforderung zu illegalen Versammlungen“ und „Einvernehmens mit einer auswärtigen Macht“ gefällt wurde, das dann jedoch – zeitgleich zur Verbreiterung der Massenproteste – aufgehoben wurde.

Im Laufe des Montag Nachmittag (08.04.19) wurde der Haftbefehl gegen Dabouz aufgehoben, er wurde jedoch unter Meldeauflagen gestellt. Zuvor hatte die Nationale Union der Anwaltskammern, die auch in der Protestbewegung der letzten Woche eine wichtige Rolle spielte, damit gedroht, ab Dienstag, den 09. April durch einen Streik alle Gerichte des Landes lahmzulegen. Und diese Drohung erschien auch durchaus glaubwürdig.

Auch wenn nicht unmittelbar mit einer gewaltförmigen Niederschlagung der Protestbewegung zu rechnen ist, so zeigen die staatliche Repressionsorgane doch auf diese Weise, dass sie präsent bleiben und nicht etwa schlafen.

Die Armeespitze unter Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah versucht, das Heft der Initiative in der Hand zu behalten. Nachdem Bouteflika kurz vor seinem Abgang von der politischen Bühne am Abend des 31. März noch eine, formal als „Technokraten- und Fachleutekabinett“ firmierende Regierung ernannt hat, amtiert Gaïd Salah weiterhin – wie in der Vorgängerregierung – als Vize-Verteidigungsminister. Er war es auch, der Bouteflika zum vorzeitigen Abgang bewegte.

Jener hatte am Montag voriger Woche (den 01. April 19) zunächst angekündigt, sein Mandat doch nicht, wie am 11. März dieses Jahres zunächst bekannt gegeben worden war, auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Vielmehr, so erklärte er, werde er mit dem Auslaufen seines 2014 errungenen Präsidentenmandats am 28. April abtreten. Doch am darauffolgenden Tag verkündete Gaïd Salah lautstark, er fordere Bouteflika zum sofortigen Rücktritt auf. Dem leistete Abdelaziz Bouteflika noch am selben Tag Folge.

Ursächlich dafür war vor allem, dass Gaïd Salah zugleich verkündete, es hätten „Geheimversammlungen“ bestimmter Kreise stattgefunden, deren Teilnehmer den Übergangsprozess torpedieren wollten. Konkret bekannt wurde vor allem ein Treffen zwischen dem bisherigen Präsidentenbruder Saïd Bouteflika sowie dem 2015 geschassten Geheimdienstchef Mohamed Mediène und anderen Protagonisten in der Stadt Zéralda. Die Betreffenden versuchten offenkundig, an einer Lösung für eine Übergangsregierung zu basteln, die unter die Führung des aus der Armee kommenden früheren Präsidenten Liamine Zéroual (1994 bis 1999) gestellt werden sollte. Zéroual schlug das Angebot jedoch aus.

Die Armeespitze behauptete nun, auch „französische Dienste“ hätten an diesem, in Wirklichkeit wohl eher perspektivlosen Versuch des Herumwerkelns an einer Übergangslösung teilgenommen. Dies ist in Wirklichkeit hochgradig unwahrscheinlich, würden die Regierenden in der Ex-Kolonialmacht Frankreich sich doch politisch gehörig die Finger verbrennen, würden sie auf eine konkrete Seilschaft im algerischen Machtkampf setzen, sollte sich dann jedoch eine andere durchsetzen.

In Wahrheit setzte die Armeeführung durch diesen Verweis auf die angebliche Rolle der früheren Kolonialmacht vor allem ein knallrotes politisches Alarmzeichen. Im Hintergrund stehen Auseinandersetzungen innerhalb der oligarchischen Führungsschicht darüber, welche „Clans“ nun nach der kontrollierten Ablösung an der Spitze von den Pfründen mafiöser Selbstbereicherung ausgeschlossen werden sollen, ja, welchen ihren Protagonisten eventuell der Prozess gemacht werden soll. Um die zehn Kandidaten dafür, unter ihnen der an der tunesischen Grenze festgenommene früher Arbeitgeberpräsident ‘Ali Haddad, sind in der Öffentlichkeit bekannt.

An diesem Dienstag, den 09. April 19 fand unterdessen die Parlamentssitzung statt, die den Interimspräsidenten für eine neunzigtägige Übergangsperiode ernennen sollte. Wie erwartet wird dieses Amt durch den amtierenden Senatspräsidenten Abdelkader Bensalah (korrekte Transkription aus dem Arabischen : ‘Abdelqader Bensalah ) übernommen. Bensalah gilt als profilloser Polittechnokrat und „pures Produkt des Regimes“ und ist folglich unpopulär. Auch die regierungsnahe FLN-Zeitung El Moudjahed hatte zu Wochenanfang seine Ablösung an der Spitze des Senats, und damit von der Anwärterschaft auf die Staatsführung in der Übergangszeit, befürwortet. Doch am Dienstag Mittag, 09. April 19 wurde er formal in dieses Amt eingeführt.

Am Abend desselben Tages wurde ferner bekannt, dass die Behörden des nordafrikanischen Landes den Direktor der französischen Nachrichtenagentur für Algerien, den 45jährigen Aymeric Vincenot, ausgewiesen haben, nachdem sie ihm eine Erneuerung seiner Akkreditierung verweigert hatten. Dies könnte erneut einen Versuch von behördlicher Seite darstellen, auf demagogische Art und Weise die „Widerständler“ gegen die frühere Kolonialmacht zu spielen; aber auch ein Warnzeichen gegen unliebsame Berichterstattung, die es in ihren Augen zu unterbinden gilt.

Bericht vom 29. April 2019
Beginn einer Säuberungswelle innerhalb des Establishments und strategische Auseinandersetzung „neue Verfassung versus schnelle Wahlen“

Es ist nicht länger tabu, aus dem Rahmen der bestehenden Verfassung auszubrechen: Dies ist die Haupterkenntnis, die aus dem „Treffen der Zivilgesellschaft“ am vorigen Samstag, den 27. April 19 in der algerischen Hauptstadt Algier erwächst. Ursprünglich hatten 24 Organisationen ihre Teilnahme daran angekündigt, letztendlich unterzeichneten sogar 28 ihre Abschlusserklärung.

Letztere widerspricht diametral dem zentralen Anliegen, das der nach wie vor – auch nach dem Rücktritt des früheren Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika (korrekte Transkription aus dem Arabischen:‘Abdel’aziz Butfliqa) am 1. April dieses Jahres – bestehende Machtapparat der herrschenden oligarchischen Schichten mit zunehmendem Nachdruck vertritt, also der Abhaltung einer geordneten Präsidentschaftswahl, deren Datum auf den 04. Juli dieses Jahres festgesetzt wurde. Am Dienstag voriger Woche, den 23. April 19 hatte die Armeeführung unter Ahmed Gaid Salah, deren Charakter als führender Herrschaftsträger vorläufig ziemlich nackt zu Tage tritt, auf den Tisch gepocht und insistiert: „Beharrliche Stimmen sind daran tätig, das Land in die Falle eines verfassungsmäßigen Vakuums zu führen und es in eine Spirale von Anarchie und Gewalt eintreten zu lassen.“

Gemeint hatte die Armeeführung die andauernde Protestbewegung auf der Straße, die auch zehn Wochen nach dem Beginn der Massenproteste am 22. Februar d.J.. nicht weggebrochen ist. Aber auch die etablierten Parteien, von denen sich bislang noch keine richtig aus der Deckung wagt, um etwa einen Wahlkampf und in den Augen vieler Landsleute als „Kollaborateure der Oligarchie“ in Erscheinung zu treten, bremsen bislang bei der Wahlvorbereitung. Am 22. April 19 waren alle politischen Parteien und – vom Staat anerkannten – Gewerkschaften zu einem Treffen mit dem Amt des Interimspräsidenten Abdelkader Bensalah, welcher jedoch selbst nicht erschien, eingeladen worden. Die Mehrheit von ihnen boykottierten den Termin, lediglich die vormaligen Regierungsparteien während der Bouteflika-Periode waren gekommen. Auch diese erwogen gegen Ende ihres Treffens, die geplante Präsidentschaftswahl „um einige Wochen zu verschieben“. Deswegen auch klopfte der Generalstab am folgenden Tag auf den Tisch.

Die Organisationen, die sich zur Zivilgesellschaft rechnen, wollen überhaupt keine Präsidentenwahl, jedenfalls nicht im vorgegebenen institutionellen Rahmen. Stattdessen soll eine, mit Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen besetzte Verfassungsgebende Versammlung einen neuen juristischen Grundlagentext ausarbeiten. Erst danach, unter veränderten Spielregeln und nicht unter dem Diktat der Oligarchie, wolle man über weitere Schritte wie etwaige Wahlen mit sich reden lassen. Zu den Unterzeichnern zählen etwa der Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften – also die staatlichen Schikanen ausgesetzte CGATA -, das nationale Arbeitslosenkomitee, ein Kollektiv für die Rechte „illegaler“ Auswanderer oder die beiden, auf unterschiedlicher Linie liegenden Menschenrechtsligen sowie ein Anwaltskollektiv für Menschenrechte und mehrere berberische Vereinigungen. Bis zum Sommer wollen sie ein weiteres, wesentlich größeres Treffen abhalten.

Unterdessen setzt die Exekutive offensichtlich darauf, dass begrenzte Säuberungen unter zu Unrecht oder – wohl meistens – zu Recht als korrupt und Selbstbereicherer geltenden, reichen Unternehmern die Öffentlichkeit in den Bann ziehen und vom Kern der politischen Auseinandersetzungen ablenken. Der reichste Mann Algeriens, der berberstämmige Unternehmer Ibrahim Rebrab, wanderte etwa am Montag vergangener Woche (22. April 19) in Untersuchungshaft unter dem Vorwurf, finanzielle Vorzüge seitens des Staates und der Banken für den Kauf von neuen Materialien genossen, jedoch stattdessen gebrauchte Produktionsinstrumente eingesetzt zu haben. Unter ähnlichen Anklagen traf es auch die vier Brüder Kouninef, allesamt Milliardäre, die von der Nahrungsmittelindustrie bis zum Ingenieursbedarf im Erdölsektor aktiv waren und die notorisch Said Bouteflika, dem berüchtigten Bruder des früheren Präsidenten, nahe standen. An der Spitze des staatlichen Erdölkonzerns Sonatrach, der einen Löwenanteil der Deviseneinnahmen Algeriens erwirtschaftet, wurde der GeneraldirektorAbdelmoumen Ould Kaddour gefeuert, die Presse enthüllt Aufträge an den Kouninef-Clan.

Dabei geht es zum Teil darum, die vormals die Brüder Bouteflika umgebende Mafia von den Fleischtrögen der Bereicherungsmöglichkeiten zu entfernen – zumindest vorläufig zugunsten anderer Fraktionen der Oligarchie; aber auch, um den Eindruck zu erwecken, eine Art demokratischer Revolution sei bereits im Gange. Diese These, die in der internationalen Presse en vogue ist, trifft natürlich zu, erklärt jedoch nicht alles. Rebrab stand Bouteflika nicht nahe. Neben dem in mehreren Sparten tätigen Multikonzern Cevital gehört ihm auch die private Tageszeitung Liberté. Er zählt eher zu jener Fraktion, die sich für eine Art Umwälzung wie im Ostblock ab 1989 einsetzt und damit, in einem Land, in dem in Wirklichkeit längst Kapitalismus – jedoch mit mafiösen Zügen – herrscht, eine Vertiefung marktwirtschaftlicher Strukturen meint. Diese Strömung repräsentiert durchaus einen Teil der öffentlichen Meinung, dürfte jedoch auf Dauer mit den sozialen Anliegen in Konflikt kommen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Berichte vom Autor für diese Ausgabe. Der Bericht vom 29.4. ist eine  leicht überarbeitete Fassung eines Berichts für die Wochenzeitung ‚Jungle World‘