Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Tarnac-Affäre
Die Anklage scheiterte im Politprozess nahezu auf der ganzen Linie

5-6/2018

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Vorbemerkung: Zwei unterschiedliche Kurzfassungen dieses Artikels erschienen in den Tagen nach dem Urteilsspruch vom 13. April dieses Jahres in der Berliner Wochenzeitung Jungle World sowie in der Tageszeitung Neues Deutschland, am 18./19. April

Revolutionsromantik ist nicht verboten (und dies selbst dann nicht, wenn ihr Gehalt an historischem Materialismus eher relativ gering ausfällt). Zu diesem Schluss geriet das Pariser Strafgericht unter dem Vorsitz der Richterin Corinne Goetzmann am vergangenen Freitag, den 13. April 18, als es sein viel erwartetes Urteil in seiner fast zehn Jahre währenden Ermittlungssache verkündete.

An dem Tag hatte sie das Urteil über eine vermeintliche Gruppierung zu fällen, die laut Erkenntnis der Vorsitzenden Richterin jedoch gar nie existiert hat: Der so genannten „Gruppe von Tarnac“. Bei dieser handele es sich um eine „Fiktion“ polizeilicher Ermittler, beobachtete Goetzmann dazu. Und selbst der Staatsanwalt – welcher seinerseits beharrlich eine Verurteilung mindestens von mehreren der acht, am Ende übrig gebliebenen Angeklagten forderte – hatte in seinem Strafantrag ausdrücklich erklärt: „Die Gruppe von Tarnac gibt es nicht“.

Der vermeintliche intellektuelle Mentor oder „Anführer“ der Gruppierung, die es nun aber nicht gegeben hat, war Julien Coupat, Anfang vierzig. Er gilt den Ermittlungsbehörden oder Urheber oder jedenfalls Co-Autor eines Büchleins, das im Jahr 2007 erschien und eine Zeit lang für furiose Diskussion sorgte, unter dem Titel L’insurrection qui vient („Der kommende Aufstand“).

Darin wird behauptet, es gebe keine Zentren der Macht mehr, sondern das Herrschaftssystem nehme die Form eines Netzwerks an. Und als Netzwerk, das sich u.a. in Form von Computernetzen oder eben auch Schienennetzen manifestiere, sei diese Macht eben auch überall angreifbar und verwundbar. Alle legalen Aktionen, vom Streik bis zur parteipolitischen Betätigung, werden hingegen verdammt, da sie in den „Saugnäpfen des Systems“ hängen blieben. Coupat selbst – ob nun Mitverfasser oder nicht – hat ein eher lyrisches, jedoch von materialistischer Klassenkampfanalyse eher entferntes Revolutionsverständnis. Im Mai 2013 in München (bei einem BUKO-Kongress) antwortete er auf die Frage, welche Kämpfe in Europa zu führen seien, es gebe genau „drei Europa: ein protestantisches, ein katholisches und ein orthodoxes.“ Angela Merkel verkörpere das Erstgenannte, die übrigen beiden mögen sich zusammenschließen. Materialistisches Verständnis sieht reichlich anders aus.

Aus dem schmalen Büchlein leiteten die Ermittler im Innenministerium jedoch vermeintliche konkrete Sabotagepläne ab; einer der damals führenden Ideologen des „Sicherheits“apparats, Alain Bauer – der das Büchlein bei Amazon entdeckt hatte – glaubte sogar Parallelen zur Vorbereitung der Oktoberrevolution 1917 zu erkennen. Und zwar deswegen, weil es damals an zentraler Stelle in der Planung der Bolschewiki gestanden habe, Bahnhöfe zu besetzen. Eine wirklich absolut messerscharfe Schlussfolgerung. Mit seinen Schnellschüssen fand Bauer jedoch offene Ohren im Inlandsgeheimdienst und auch bei der damaligen Innenministerin Michèle Alliot-Marie. Dies schien auch damit zusammenhängen, dass nach dem Ende des Kalten Krieges manchen Diensten drohte, dass ihnen teilweise Überflüssigkeit attestiert würde, um einen Stellenabbau einzuleiten.

Als im November 2008 Sachschäden an Bahnlinien durch das Anbringen von Hakenkrallen verursacht worden, griff der Apparat zu, im Glauben, mit Coupat in Paris sowie seinen Freunden in einer Landkommune in Tarnac Täter und Hintermänner oder -frauen zu kennen. Verübt war die Gewalt gegen Sachen jedoch mutmaßlich eher durch Gegner der Castor-Atommülltransporte. Dazu arbeitete Coupat nicht.

Das Urteil vom vorigen Freitag, den 13.04.18 sanktioniert auch das, teilweise offenkundig rechtswidrige Vorgehen der Anti-Terror-Ermittler. Diese hatten unter anderem behauptet, in der Nacht des Hakenkrallenanschlags Coupat und seiner damaligen Lebensgefährtin Lévy rund um die Uhr im Auto gefolgt zu sein, um sie zu beschatten. Doch im Laufe der Debatten stellte sich heraus, dass der von ihnen nachgezeichnete Fahrweg von Coupat und Lévy – der sie wohl in räumliche Nähe eines der Hakenkrallenanschlagsplätze, im östlichen Pariser Umland, führte – durch eine illegal platzierte GPS-Sonde unter dem Fahrzeug erzielt worden war. Kurioserweise endete die angebliche Beschattung nämlich immer, wenn das Auto in eine Tiefgarage fuhr, oder wenn es unter Brücke durchfuhr, welche dann im Protokoll kurioserweise zum „Tunnel“ wurde. Die Vorsitzende Richterin zeigte sich genervt davon, durch gewisse Polizeidienste offensichtlich nach Strich und Faden belogen zu werden.

Die beiden Hauptangeklagten Julien Coupat und Yldune Lévy, die sechs Monate respektive zwei Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten, wurden freigesprochen und können nun künftig einen Anspruch auf Haftentschädigung geltend machen. Die höchste verhängte Strafe für einen der übrigen Angeklagten beläuft sich auf 500 Euro Geldstrafe und vier Monate Haft auf Bewährung, weil er einen falschen Ausweis benutzte und sich weigerte, sich einem Gentest – einer Speichelprobe zwecks DNA-Analyse - zu unterziehen.

Es handelt sich um eine Totalblamage für den Sicherheitsapparat, wie auch die bürgerliche Presse in Frankreich fast quer durch die Bank meint. Diese sieht allerdings nun die „anarcho-autonome Bewegung“, die 2009 unter der damaligen Ministerin Alliot-Marie zum neuen inneren Feind aufgebauscht worden war, in neuer Form als Bedrohung wiederkehren, nämlich in Gestalt eines Teils der Besetzerbewegung auf dem vormals als Flughafen-Baugelände ausgewiesenen Areal im westfranzösischen Notre-Dame-des-Landes.

Dort hatten die Behörden am letzten Freitag, den 13. April - wohl etwas vorschnell – den Vollzug und Abschluss der Räumung verkündet worden. Dies war jedoch offenkundig nicht wirklich zutreffend. Zwar waren 13 Gebäude, bewohnte, aber auch alternative Landwirtschaftsbetriebe, zerstört worden. Dies bedeutete nicht, dass die Besetzer/innen alle vertrieben worden wären. Auch danach kam es dort weiterhin zu Auseinandersetzungen mit den Einsatzkräften.

Diese intensivierten sich im Laufe des Wochenendes (14./15. April), an dem ferner Verstärkung von außerhalb für Protesttage dortselbst eintraf. Am Sonntag Nachmittag befanden sich lt. Angaben der Präfektur rund 4.000, laut denen der Protestbewegung zwischen 10.000 und 20.000 Menschen auf Seiten der Besetzer/innen auf dem Gelände.

Ebenfalls am Wochenende des 14. und 15. April kam es im Stadtgebiet von Nantes und bei einer Demonstration in Montpellier ebenfalls zu Auseinandersetzungen mit der Polizei; 51 Menschen wurden in Montpellier festgenommen.

Editorischer Hinweis

Diesen Artikel erhielten wir von B. Schmid für diese Ausgabe.