Vorbemerkung:
Zwei unterschiedliche Kurzfassungen dieses
Artikels erschienen in den Tagen nach dem
Urteilsspruch vom 13. April dieses Jahres in der
Berliner Wochenzeitung Jungle World sowie in der
Tageszeitung Neues Deutschland, am 18./19. April
Revolutionsromantik ist nicht verboten (und dies
selbst dann nicht, wenn ihr Gehalt an historischem
Materialismus eher relativ gering ausfällt). Zu
diesem Schluss geriet das Pariser Strafgericht
unter dem Vorsitz der Richterin Corinne Goetzmann
am vergangenen Freitag, den 13. April 18, als es
sein viel erwartetes Urteil in seiner fast zehn
Jahre währenden Ermittlungssache verkündete.
An
dem Tag hatte sie das Urteil über eine
vermeintliche Gruppierung zu fällen, die laut
Erkenntnis der Vorsitzenden Richterin jedoch gar
nie existiert hat: Der so genannten „Gruppe
von Tarnac“. Bei dieser handele es sich um
eine „Fiktion“ polizeilicher
Ermittler, beobachtete Goetzmann dazu. Und selbst
der Staatsanwalt – welcher seinerseits beharrlich
eine Verurteilung mindestens von mehreren der acht,
am Ende übrig gebliebenen Angeklagten forderte –
hatte in seinem Strafantrag ausdrücklich erklärt:
„Die Gruppe von Tarnac gibt es nicht“.
Der vermeintliche intellektuelle Mentor oder
„Anführer“ der Gruppierung, die es nun aber nicht
gegeben hat, war Julien Coupat, Anfang vierzig. Er
gilt den Ermittlungsbehörden oder Urheber oder
jedenfalls Co-Autor eines Büchleins, das im Jahr
2007 erschien und eine Zeit lang für furiose
Diskussion sorgte, unter dem Titel
L’insurrection qui vient („Der kommende
Aufstand“).
Darin wird behauptet, es gebe keine Zentren der
Macht mehr, sondern das Herrschaftssystem nehme die
Form eines Netzwerks an. Und als Netzwerk, das sich
u.a. in Form von Computernetzen oder eben auch
Schienennetzen manifestiere, sei diese Macht eben
auch überall angreifbar und verwundbar. Alle
legalen Aktionen, vom Streik bis zur
parteipolitischen Betätigung, werden hingegen
verdammt, da sie in den „Saugnäpfen des
Systems“ hängen blieben. Coupat selbst – ob
nun Mitverfasser oder nicht – hat ein eher
lyrisches, jedoch von materialistischer
Klassenkampfanalyse eher entferntes
Revolutionsverständnis. Im Mai 2013 in München (bei
einem BUKO-Kongress) antwortete er auf die Frage,
welche Kämpfe in Europa zu führen seien, es gebe
genau „drei Europa: ein protestantisches, ein
katholisches und ein orthodoxes.“ Angela
Merkel verkörpere das Erstgenannte, die übrigen
beiden mögen sich zusammenschließen.
Materialistisches Verständnis sieht reichlich
anders aus.
Aus dem schmalen Büchlein leiteten die Ermittler im
Innenministerium jedoch vermeintliche konkrete
Sabotagepläne ab; einer der damals führenden
Ideologen des „Sicherheits“apparats, Alain Bauer –
der das Büchlein bei Amazon entdeckt hatte –
glaubte sogar Parallelen zur Vorbereitung der
Oktoberrevolution 1917 zu erkennen. Und zwar
deswegen, weil es damals an zentraler Stelle in der
Planung der Bolschewiki gestanden habe, Bahnhöfe zu
besetzen. Eine wirklich absolut messerscharfe
Schlussfolgerung. Mit seinen Schnellschüssen fand
Bauer jedoch offene Ohren im Inlandsgeheimdienst
und auch bei der damaligen Innenministerin Michèle
Alliot-Marie. Dies schien auch damit
zusammenhängen, dass nach dem Ende des Kalten
Krieges manchen Diensten drohte, dass ihnen
teilweise Überflüssigkeit attestiert würde, um
einen Stellenabbau einzuleiten.
Als im November 2008
Sachschäden an Bahnlinien durch das Anbringen von
Hakenkrallen verursacht worden, griff der Apparat
zu, im Glauben, mit Coupat in Paris sowie seinen
Freunden in einer Landkommune in Tarnac Täter und
Hintermänner oder -frauen zu kennen. Verübt war die
Gewalt gegen Sachen jedoch mutmaßlich eher durch
Gegner der Castor-Atommülltransporte. Dazu
arbeitete Coupat nicht.
Das Urteil vom vorigen Freitag, den 13.04.18
sanktioniert auch das, teilweise offenkundig
rechtswidrige Vorgehen der Anti-Terror-Ermittler.
Diese hatten unter anderem behauptet, in der Nacht
des Hakenkrallenanschlags Coupat und seiner
damaligen Lebensgefährtin Lévy rund um die Uhr im
Auto gefolgt zu sein, um sie zu beschatten. Doch im
Laufe der Debatten stellte sich heraus, dass der
von ihnen nachgezeichnete Fahrweg von Coupat und
Lévy – der sie wohl in räumliche Nähe eines der
Hakenkrallenanschlagsplätze, im östlichen Pariser
Umland, führte – durch eine illegal platzierte
GPS-Sonde unter dem Fahrzeug erzielt worden war.
Kurioserweise endete die angebliche Beschattung
nämlich immer, wenn das Auto in eine Tiefgarage
fuhr, oder wenn es unter Brücke durchfuhr, welche
dann im Protokoll kurioserweise zum „Tunnel“
wurde. Die Vorsitzende Richterin zeigte
sich genervt davon, durch gewisse Polizeidienste
offensichtlich nach Strich und Faden belogen zu
werden.
Die beiden Hauptangeklagten Julien Coupat und
Yldune Lévy, die sechs Monate respektive zwei
Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten,
wurden freigesprochen und können nun künftig einen
Anspruch auf Haftentschädigung geltend machen. Die
höchste verhängte Strafe für einen der übrigen
Angeklagten beläuft sich auf 500 Euro Geldstrafe
und vier Monate Haft auf Bewährung, weil er einen
falschen Ausweis benutzte und sich weigerte, sich
einem Gentest – einer Speichelprobe zwecks
DNA-Analyse - zu unterziehen.
Es
handelt sich um eine Totalblamage für den
Sicherheitsapparat, wie auch die bürgerliche Presse
in Frankreich fast quer durch die Bank meint. Diese
sieht allerdings nun die „anarcho-autonome
Bewegung“, die 2009 unter der damaligen Ministerin
Alliot-Marie zum neuen inneren Feind aufgebauscht
worden war, in neuer Form als Bedrohung
wiederkehren, nämlich in Gestalt eines Teils der
Besetzerbewegung auf dem vormals als
Flughafen-Baugelände ausgewiesenen Areal im
westfranzösischen Notre-Dame-des-Landes.
Dort hatten die Behörden am letzten Freitag, den
13. April - wohl etwas vorschnell – den Vollzug und
Abschluss der Räumung verkündet worden. Dies war
jedoch offenkundig nicht wirklich zutreffend. Zwar
waren 13 Gebäude, bewohnte, aber auch alternative
Landwirtschaftsbetriebe, zerstört worden. Dies
bedeutete nicht, dass die Besetzer/innen alle
vertrieben worden wären. Auch danach kam es dort
weiterhin zu Auseinandersetzungen mit den
Einsatzkräften.
Diese intensivierten sich im Laufe des Wochenendes
(14./15. April), an dem ferner Verstärkung von
außerhalb für Protesttage dortselbst eintraf. Am
Sonntag Nachmittag befanden sich lt. Angaben der
Präfektur rund 4.000, laut denen der
Protestbewegung zwischen 10.000 und 20.000 Menschen
auf Seiten der Besetzer/innen auf dem Gelände.
Ebenfalls am Wochenende des 14. und 15. April kam
es im Stadtgebiet von Nantes und bei einer
Demonstration in Montpellier ebenfalls zu
Auseinandersetzungen mit der Polizei; 51 Menschen
wurden in Montpellier festgenommen.
Editorischer
Hinweis
Diesen Artikel erhielten wir von B. Schmid für
diese Ausgabe.
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