Die alte Dame hatte den
Holocaust überlebt. Als Kind blieb sie während der
berüchtigten „Judenrazzia vom Wintervelodrom“
versteckt. So bezeichnet man die Massenfestnahme
von 13.000 Juden im Raum Paris im Juli 1942, deren
Opfer – über das französische Durchgangslager
Drancy – in die Vernichtungslager Nazideutschlands
abtransportiert und fast alle ermordet wurden. Am
vorletzten Freitag Abend (23. März 18)
wurde sie in Paris umgebracht.
Der Körper von Mireille Knoll,
Jahrgang 1932, wies Spuren von elf Messerstichen
auf. Ihre Leiche wurde in teilweise verkohltem
Zustand aufgefunden: An vier verschiedenen Stellen
in ihrer Wohnung war Feuer gelegt, der Hahn am
Gasherd war geöffnet worden. Die Autopsie hat
ergeben, dass nicht das Feuer oder eine
Rauchvergiftung, sondern die zuvor erlittenen
Stichverletzungen oder der damit verbundene Sturz
den Tod der weißhaarigen Dame herbeiführten.
Diese hatte ihren Mördern keinen
Widerstand geleistet. Mirielle Knoll war - alters-
und gesundheitsbedingt – nicht mehr in der Lage,
allein aufzustehen, falls sie stürzte, und litt an
der Parkinson-Krankheit. Ihr Tod im elften Pariser
Arrondissement, einem innerständischen Bezirk mit
einem traditionell relativ starken jüdischen
Bevölkerungsanteil, rief in breiten Kreisen
Entsetzen hervor. Im selben Bezirk war im April
2017 die damals 65jährige orthodoxe Jüdin Sarah
Halimi durch einen ihrer Nachbarn ermordet worden.
Im Unterschied zu ihr war Knoll eine nicht
praktizierende Jüdin. Auch an ihrem Mord war einer
ihrer Nachbarn, der zudem früher in ihrer Wohnung
ein- und ausging, beteiligt.
Infolge der unverzüglich aufgenommenen
polizeilichen Ermittlungen wurden zwei Männer
schnell des Mordes überführt, die nun in
Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten. Es
handelt sich um den 27jährigen Yacine Mihoub sowie
den 21jährigen Obdachlosen Alex Carrimbacus. Beide
lernten sich zuvor in Haft kennen.
Ein unmittelbar
politisch-ideologisches, etwa islamistisches
Tatmotiv scheidet laut Auffassung der Ermittler
aus. Die beiden Täter waren nicht nur
unterschiedlicher Herkunft, beide praktizierten
auch keine Religion. Mihoub gilt als schwerer
Alkoholiker und soll laut Angaben eines der Söhne
des Opfers – Alain Knoll, der ihm am Nachmittag vor
der Mordtat noch in der Wohnung seiner Mutter
begegnet war – eine Portoweinflasche zu drei
Vierteln allein ausgetrunken haben. Dem Sohn war es
sehr unwohl in der Gegenwart dieses Nachbarn, den
Mireille Knoll seit seinen Kindheitstagen kannte.
Er verließ ihre Wohnung erst, als die
Haushaltshilfe der Mutter bei ihr eintraf, so dass
sie nicht allein blieb. Mihoub kehrte jedoch
offensichtlich später dorthin zurück, zusammen mit
dem gesellschaftlichen Außenseiter Carrimbacus.
Beide teilten jedoch ein
Tatmotiv, das unmittelbar materielle Natur ist,
jedoch erkennbar auf einem antisemitischen Motiv
gründete. Denn beide waren überzeugt, dass bei
Mireille Knoll Geld zu finden sein müsse, eben weil
sie Jüdin war. Dies war nicht der Fall, die alte
Dame lebte in einer städtischen Sozialwohnung und
von einer nicht übermäßig üppigen Rente. Die
Ermittler nahmen deswegen umgehend ein
antisemitisches Motiv als taterschwerendes
„Mordmerkmal“ in die Akten auf.
Dies unterscheidet ihr Vorgehen
von dem im Falle Sarah Halimi, bei dem die
polizeilichen Ermittler und die Staatsanwaltschaft
zunächst mehrere Monate lang zögerten, bevor der
zuständige Staatsanwalt auch dort – Ende Februar
dieses Jahres – dieses Tatmerkmal doch noch in die
vorbereitete Anklageschrift aufnahm. Der Mörder von
Sarah Halimi, der aus einer westafrikanischen
Familie stammende Kobili Traoré, hatte in der
Tatnacht zunächst andere im Mietshaus lebende
Familien sowie eigene Familienmitglieder
terrorisiert. Der Vater einer ebenfalls, wie er,
aus Mali stammenden Einwandererfamilie ein
Stockwerk weiter oben hatte sich deswegen in seiner
Wohnung verbarrikadiert und gegen drei Uhr früh die
Polizei um Hilfe gerufen. Traoré war daraufhin in
die Wohnung von Sarah Halimi eingedrungen. Er gilt
als Täter mit schweren Persönlichkeitsstörungen,
seine psychischen Probleme wurden durch den Konsum
von zehn bis fünfzehn Haschischzigaretten pro Tag
noch verschärft. Nach der Tat war er vorübergehend
in die Psychiatrie eingewiesen worden, er gilt
jedoch als schuldfähig. Laut eigenen Aussagen bei
der Polizei verleitete ihn der Anblick jüdischer
Religionssymbole in der Wohnung seines Opfers dazu,
an die Präsenz „teuflischer Zeichen“ zu glauben.
Deswegen wurde, mit Verspätung, doch noch ein
antijüdisches Motiv als taterschwerender Umstand
festgehalten.
Mihoub zeigt ebenfalls ein
gestörtes Persönlichkeitsbild auf. Er war unter
anderem beschuldigt worden, die zwölfjährige
Tochter der Haushaltshilfe von Mireille Knoll
sexuell missbraucht zu haben. Auch hatte er
telefonisch angedroht, ein Geschäft (der Kette
Monoprix), in dem er zeitweilig arbeitete und wo
ihm gekündigt worden war, „in die Luft zu
jagen“. Innenminister Gérard Collomb geht
infolge der bisherigen Ermittlungsergebnisse davon
aus, eine religiös-politische Prägung sei
auszuschließen, vielmehr liege ein genereller
krimineller Hintergrund vor, und sein Name tauche
in „22 bis 24 Strafverfahren“
unterschiedlicher Natur auf. Allgemeine Verrohung,
die sich im Laufe seiner zurückliegenden
Gefängnisaufenthalte wohl nicht verringert hat,
dürfte eine erhebliche Rolle spiele.
Das an den jüdischen Charakter
des Opfers gekoppelte finanzielle Motiv –
„Juden haben Geld“ – macht die Tötung
Mireille Knoll an dem Foltermord an dem jungen
jüdischen Telefonverkäufer Ilan Halimi
vergleichbar. Er war im Januar 2006 in Paris
entführt, im Heizungskeller einer Hochhaussiedlung
in der Trabantenstadt Bagneux festgehalten und
misshandelt worden. Dem Tode nahe wurde er nach
drei Wochen freigelassen, mit einem Auto ausgesetzt
und sterbend in der Nähe einer Bahnlinie
aufgefunden. Eine 18köpfige kriminelle
Organisation, deren Anführer Youssouf Fofana ihr
selbst die Bezeichnung „Gang der Barbaren“ verlieh,
wurde daraufhin ausgehoben, ihre Mitglieder wurden
verhaftet und zum Teil langjährigen Haftstrafen
verhaftet. Fofana hatte einen allgemeinen
kriminellen Hintergrund, bei seiner Person lag
jedoch zusätzlich eine gewisse Faszination für
Jihadisten vor. Die Mitglieder seiner Bande waren
allerdings unterschiedlicher nationaler und
religiöser Herkunft (portugiesischer, kabylischer,
…); zwischen ihnen bestand sicherlich kein
einigendes ideologisches Band.
Gemeinsam war ihnen, ebenso wie offensichtlich den
Mördern von Mireille Knoll, eine erkennbare
Entmenschlichung ihrer Opfer.
Die
politische Verarbeitung des Mordes an Frau Knoll,
den alle Medien des Landes breit rezipierten,
unterscheidet sich von der im Falle Sarah Halimi.
Letzterer wurde in der innenpolitischen Debatte
zunächst kaum aufgegriffen, wohl, weil erstens das
antisemitische Tatmotiv offiziell noch umstritten
blieb und weil er zweitens mitten in die Hochphase
des französischen Präsidentschaftswahlkampfs fiel.
Jüdische Organisationen und prominente Anwälte
forderten hingegen, ein antisemitisches Motiv mit
in die zu erhebende Anklage aufzunehmen, was nach
einigen Monaten nun doch noch erfolgte.
Nach dem Mord an Mireille Knoll
wurden dagegen schnell deutliche Worte
ausgesprochen. Innenminister Gérard Collom erklärte
anlässlich einer Parlamentsaussprache: „Juden
haben heute Angst in Frankreich“, und
Staatspräsident Emmanuel Macron nahm – ohne
vorherigen Ankündigung in der Öffentlichkeit –
persönlich an der Beerdigung des Opfers teil. Von
ganz links bis ganz rechts wurde die Emotion
geteilt.
An einem Gedenkmarsch am Abend
des vorigen Mittwoch (28. März 18)
nahmen in Paris, laut Angaben des jüdischen
Dachverbands CRIF, rund 30.000 Menschen teil. Der
französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut,
dessen Stellungnahmen in jüngerer Zeit eher durch
(reaktionär eingefärbten) Pessimismus und
Kulturkonservativismus geprägt waren, hob sehr
lobend hervor, anders als nach dem Mord an Ilan
Halimi hätten daran sowohl Juden als auch
Nichtjuden in größerer Zahl teilgenommen.
Allerdings hatten tatsächlich auch 2006 Nichtjuden
infolge des Foltermords demonstriert – auch der
Autor dieser Zeilen war damals dabei.
Während die Leitung des
Dachverbands CRIF nur an die etablierten Parteien
im staatstragenden Spektrum appellierte und sowohl
die Linke – jenseits (bzw. dieseits) der vormaligen
Regierungssozialdemokratie – als auch die extreme
Rechte für unerwünscht erklärte, kamen letztendlich
Vertreter beider Richtungen ebenfalls zu dem
Gedenkmarsch. Bürgerliche Medien vermeldeten
daraufhin, sowohl der Linkspopulist Jean-Luc
Mélenchon als auch Marine Le Pen seien daraufhin
vertrieben worden. Die Wirklichkeit ist komplexer.
Mélenchon wurde von mehreren Dutzend Angehörigen
der rechtsradikalen „Jüdischen Verteidigungsliga“
LDJ – französischer Ableger der in den USA und
Israel als rechtsterroristisch verbotenen
Kach-Bewegung – verbal attackiert. Er verließ
daraufhin den Gedenkmarsch mit den Worten:
„Heute geht es nicht um mich, sondern um Mireille
Knoll. Man muss es philosophisch nehmen.“
Marine Le Pen dagegen wurde von einfachen
Teilnehmern mit Rufen wie „Nazis, Faschisten“
verbal angegriffen. Ihr ging jedoch ein
Ordnerdienst der LDJ – im Gegenteil – helfend zur
Seite, vor allem der Front
National-Regionalparlamentarier Jean-Richard Sulzer
stand mit ihr im Kontakt. Nach einer Stunde reihte
sich Marine Le Pen nochmals kurzfristig ein.
Die breit gestreute
Unterstützung für den Gedenkmarsch ebenso wie die
schnelle Reaktion der Ermittlungskräfte, unter
Einschluss des antisemitischen Motivs, bilden neue
Elemente in der Situation nach dem Mord an Mireille
Knoll. Ob sie die Beunruhigung jüdischer Menschen
in Frankreich abzuschwächen vermögen, wird die
nähere Zukunft erweisen müssen.
NACHTRAG:
Jüdische Personen wurden in den letzten Jahren
mehrere Dutzend mal Opfer von Gewalttaten im
Land. Sei es aus kriminellen Motiven im
Zusammenhang mit unterstelltem Reichtum, wie auch
jetzt. Dies war auch beim Überfall auf ein
jüdisches Ehepaar zu Hause, Ende 2014 in der
Pariser Vorstadt Créteil, der Fall. Sei es aus
jihadistischer Ideologie, wie bei einem Teil der
Opfer der Terroristen Mohamed Merah 2012 in
Toulouse oder Amedy Coulibaly im Januar 2015 in
Paris. Sei es aufgrund rechtsextremer Täterschaft
wie bei den jüngsten Drohungen gegen die 1941
geborene Holocaust-Überlebende Lucienne Nayet in
Südwestfrankreich. Diese waren mit einem gelben
Stern versehen: Nayet wurde vorgeworfen, in
Schulen
„Rassenmischung"
zu
predigen - aufgrund antirassistischer Vorträge -
und einen
„schäumenden
und genozidalen, semitischen Hass auf die weiße
Rasse"
zu verkörpern.
Laut Ausführungen des Historikers Marc Knobel in
Le Monde
verließen in den vergangenen zehn Jahren
insgesamt 60.000 jüdische Personen - das wäre
rund ein Zehntel der jüdischen Wohnbevölkerung -
Frankreich. Die Motive dafür sind sicherlich
gemischt, auch allgemeine Perspektivlosigkeit
zählt mit dazu. Die Zunahme antisemitischer
Aggressionen, denen im politischen Raum in den
letzten zehn Jahren der vorübergehende Erfolg der
Hassprediger Dieudonné und Alain Soral entsprach,
spielt jedoch eine wichtige Rolle.
Editorischer
Hinweis
Diesen Artikel erhielten wir von B. Schmid für
diese Ausgabe.
Eine leicht gekürzte Fassung erschien am
Donnerstag, den 05. April d.J. in der Berliner
Wochenzeitung Jungle World. Ein weiterer,
unterschiedlicher Artikel des Verfassers zum
Thema erschien am 12. April 18 in der
Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung
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