Mai 1968 im Senegal

von Bernard Schmid

5-6/2017

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Bei der Jahreszahl „1968“ denkt man, von Deutschland aus betrachtet, zunächst einmal nach Frankreich. Im günstigeren Falle fällt einem oder einer dann noch, dass die Geschehnisse von 1968 internationaler Natur waren und sich - neben Westberlin und Paris - auch in Mexiko City, San Francisco und Tokyo abspielten. Aber in Afrika? Hat man dafür im deutschsprachigen Raum einen Gedanken übrig?

Dabei fanden im Kontext des historischen Einschnitts „1968“ gerade auch im ehemals durch Frankreich kolonisierten Teil Afrikas wichtige Ereignisse statt. Denn eine strukturell mit der französischen vergleichbare Protestbewegung – also eine Kombination aus Studierendenbewegung und Streik von Lohnabhängigen – entwickelte sich, nein, nicht im unmittelbaren Nachklang an den Pariser Mai 1968. Sondern zeitgleich zu ihm und in einem der Schlüsselländer des französischsprachigen Afrika: im Senegal.

Am 13. Mai 1968 hatte in Paris die erste Massendemonstration „zur Unterstützung der von Repression betroffenen Studenten“ (auf den Tag genau am zehnten Jahrestag der Machtübernahme durch Charles de Gaulle 1958) stattgefunden. In Dakar gab es die erste Demonstration „zur Unterstützung der Studenten“, die ebenfalls rebelliert hatten, am 28. Mai 1968. An ihr sollen zwanzig- bis dreißigtausend Menschen teilgenommen haben. Zu dem Zeitpunkt waren die Auseinandersetzungen auch in Paris noch keineswegs zu Ende, sie dauerten vielmehr bis Mitte Juni 1968 an. Ähnlich im Senegal, wo die Bewegung am 12. Juni endete.

Begünstigt worden war ihre Entstehung auch durch eine ökonomische Krise. 1968/69 durchquerte das Land eine Dürreperiode, deren Auswirkungen jedoch dadurch verschärft wurden, dass Frankreich zuvor den garantierten Abnahmepreis für Erdnüsse – in der Kolonialzeit war die ökonomische Struktur im Senegal auf ihren Export hin ausgerichtet worden – aufgekündigt hatte. Dadurch konnte die Protestbewegung schnell breitere Kreise erfassen.

Die Mittel seitens der Staatsmacht, um ihr Herr zu werden, waren freilich andere als in Frankreich. Die Repression im Senegal fiel ungleich härter aus: Dort wurde der Ausnahmezustand verhängt, 3.500 Menschen wurden verhaftet, alle ausländische Studierenden (meist aus anderen afrikanischen Ländern) wurden ausgewiesen. Dennoch gab es aber auch hier handfeste Zugeständnisse, so wurde der gesetzliche Mindestlohn um einen Schlag um 15 Prozent erhöht – gut, in Frankreich waren es infolge der „Vereinbarungen von Grenelle“ gar 35 Prozent. Auf dem Höhepunkt der Krise flüchtete Präsident Léopold Sédar Senghor sich in eine französische Militärbasis und ließ sich von der Botschaft der früheren Kolonialmacht Garantien geben, man werde ihn im Bedarfsfall nach Frankreich ausfliegen. De Gaulle seinerseits hatte sich auf dem Höhepunkt der Krise in Paris zur in Baden-Baden stationierten französischen Armee zurückgezogen.

Senghor behauptete auch, die Ereignisse seien „direkt aus Peking gesteuert“, da das maoistische China damals eine Charmeoffensive in den unabhängig gewordenen Ländern der so genannten Dritten Welt gestartet hatte. Der ebenfalls als Dichter bekannt gewordene Präsident spielte aber auch die kulturalistische Note: Senghor klagte die Protestierenden an, sie wollten faire tout comme Toubabs. Das bedeutete den in bewusst verkitschtem und künstlich schlechtem Französisch gehaltenen Vorwurf, die Weißen in allem nachahmen zu wollen (Toubab bedeutet in ganz Westafrika „weiß“). Das war Unsinn, denn massive Studierendenprotesten hatte es bereits zuvor im französischsprachigen Afrika gegeben, 1963 in Kongo-Brazzaville und 1964 in Madagaskar.

Léopold Sédar Senghor hatte im Senegal nach der Unabhängigkeit 1960 ein autoritäres Regime errichtet und die linke antikoloniale Partei PAI (Parti africain pour l’indépendance) verboten. In den siebziger Jahren proklamierte er allerdings die „demokratische Öffnung“. Und dazu trugen der senegalesische Mai 1968 und seine Auswirkungen, die die Opposition ermutigten und in den folgenden Jahren zum Aktivismus beflügelten – am 05. Februar 1971 wurde auch der Konvoi des französischen Präsidenten Georges Pompidou in Dakar mit Molotowcocktails attackiert -, erheblich bei.

Anmerkung
Vgl. dazu auch die neuere Literatur, insbesondere: Omar Guèye: Mai 1968 au Sénégal. Senghor face aux étudiants et au mouvement syndical. (Paris, éditions Karthala, erschienen im Oktober 2017).

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Er erscheint ebenfalls zeitgleich in der Mai 18-Ausgabe der Sozialistischen Zeitung (SoZ )