Bei der Jahreszahl „1968“ denkt man, von
Deutschland aus betrachtet, zunächst einmal nach
Frankreich. Im günstigeren Falle fällt einem oder
einer dann noch, dass die Geschehnisse von 1968
internationaler Natur waren und sich - neben
Westberlin und Paris - auch in Mexiko City, San
Francisco und Tokyo abspielten. Aber in Afrika? Hat
man dafür im deutschsprachigen Raum einen Gedanken
übrig?
Dabei fanden im Kontext des historischen
Einschnitts „1968“ gerade auch im ehemals durch
Frankreich kolonisierten Teil Afrikas wichtige
Ereignisse statt. Denn eine strukturell mit der
französischen vergleichbare Protestbewegung – also
eine Kombination aus Studierendenbewegung und
Streik von Lohnabhängigen – entwickelte sich, nein,
nicht im unmittelbaren Nachklang an den Pariser Mai
1968. Sondern zeitgleich zu ihm und in einem der
Schlüsselländer des französischsprachigen Afrika:
im Senegal.
Am
13. Mai 1968 hatte in Paris die erste
Massendemonstration „zur Unterstützung der von
Repression betroffenen Studenten“ (auf den Tag
genau am zehnten Jahrestag der Machtübernahme durch
Charles de Gaulle 1958) stattgefunden. In Dakar gab
es die erste Demonstration „zur Unterstützung der
Studenten“, die ebenfalls rebelliert hatten, am 28.
Mai 1968. An ihr sollen zwanzig- bis dreißigtausend
Menschen teilgenommen haben. Zu dem Zeitpunkt waren
die Auseinandersetzungen auch in Paris noch
keineswegs zu Ende, sie dauerten vielmehr bis Mitte
Juni 1968 an. Ähnlich im Senegal, wo die Bewegung
am 12. Juni endete.
Begünstigt worden war ihre Entstehung auch durch
eine ökonomische Krise. 1968/69 durchquerte das
Land eine Dürreperiode, deren Auswirkungen jedoch
dadurch verschärft wurden, dass Frankreich zuvor
den garantierten Abnahmepreis für Erdnüsse – in der
Kolonialzeit war die ökonomische Struktur im
Senegal auf ihren Export hin ausgerichtet worden –
aufgekündigt hatte. Dadurch konnte die
Protestbewegung schnell breitere Kreise erfassen.
Die Mittel seitens der Staatsmacht, um ihr Herr zu
werden, waren freilich andere als in Frankreich.
Die Repression im Senegal fiel ungleich härter aus:
Dort wurde der Ausnahmezustand verhängt, 3.500
Menschen wurden verhaftet, alle ausländische
Studierenden (meist aus anderen afrikanischen
Ländern) wurden ausgewiesen. Dennoch gab es aber
auch hier handfeste Zugeständnisse, so wurde der
gesetzliche Mindestlohn um einen Schlag um 15
Prozent erhöht – gut, in Frankreich waren es
infolge der „Vereinbarungen von Grenelle“ gar 35
Prozent. Auf dem Höhepunkt der Krise flüchtete
Präsident Léopold Sédar Senghor sich in eine
französische Militärbasis und ließ sich von der
Botschaft der früheren Kolonialmacht Garantien
geben, man werde ihn im Bedarfsfall nach Frankreich
ausfliegen. De Gaulle seinerseits hatte sich auf
dem Höhepunkt der Krise in Paris zur in Baden-Baden
stationierten französischen Armee zurückgezogen.
Senghor behauptete auch, die Ereignisse seien
„direkt aus Peking gesteuert“, da das maoistische
China damals eine Charmeoffensive in den unabhängig
gewordenen Ländern der so genannten Dritten Welt
gestartet hatte. Der ebenfalls als Dichter bekannt
gewordene Präsident spielte aber auch die
kulturalistische Note: Senghor klagte die
Protestierenden an, sie wollten faire tout
comme Toubabs. Das bedeutete den in bewusst
verkitschtem und künstlich schlechtem Französisch
gehaltenen Vorwurf, die Weißen in allem nachahmen
zu wollen (Toubab bedeutet in ganz
Westafrika „weiß“). Das war Unsinn, denn massive
Studierendenprotesten hatte es bereits zuvor im
französischsprachigen Afrika gegeben, 1963 in
Kongo-Brazzaville und 1964 in Madagaskar.
Léopold Sédar Senghor hatte im Senegal nach der
Unabhängigkeit 1960 ein autoritäres Regime
errichtet und die linke antikoloniale Partei PAI (Parti
africain pour l’indépendance) verboten. In
den siebziger Jahren proklamierte er allerdings die
„demokratische Öffnung“. Und dazu trugen der
senegalesische Mai 1968 und seine Auswirkungen, die
die Opposition ermutigten und in den folgenden
Jahren zum Aktivismus beflügelten – am 05. Februar
1971 wurde auch der Konvoi des französischen
Präsidenten Georges Pompidou in Dakar mit
Molotowcocktails attackiert -, erheblich bei.
Anmerkung
Vgl. dazu auch die neuere Literatur, insbesondere:
Omar Guèye: Mai 1968 au Sénégal. Senghor face
aux étudiants et au mouvement syndical.
(Paris, éditions Karthala,
erschienen im Oktober 2017).
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Er erscheint ebenfalls zeitgleich in der
Mai 18-Ausgabe der Sozialistischen Zeitung (SoZ )
|