Gemeinsamkeiten zwischen Gramsci und Lukács
Lesauszug aus: Antonio Gramsci - Philosophie und Praxis

von Franz Kaminski und Heiner Karuscheit

5-6/2018

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Verbindungslinien zwischen Gramsci und Lukács erschließen sich bereits beim ersten Kennenlernen der Schriften beider. Zwar áußerte sich Lukács selber nicht direkt zu Gramsci, umgekehrt nahm Gramsci jedoch in einer Anmerkung zu dem ungarischen Theoretiker Stellung:

»Man muß die Position von Professor Lukács zur Philosophie der Praxis studie­ren. Es scheint, Lukács behauptet, man könne von Dialektik nur im Hinblick auf die Geschichte der Menschen und nicht auf die Geschichte der Natur spre­chen. Er könnte recht haben; oder auch nicht. Wenn seine Behauptung einen Dualismus zwischen Mensch und Natur voraussetzt, so hat er unrecht, weil er einer für die Religion, für die der griechisch-christlichen Philosophie und auch den Idealismus typischen Naturauffassung verfállt, die Mensch und Natur nur verbal in ein Verháltnis zueinander setzt und zu einer Einheit bringt. Aber wenn die menschliche Geschichte auch als Naturgeschichte (auch vermittels der Geschichte der Wissenschaft) begriffen wetden soll - wie kann dann die Dia­lektik von der Natur getrennt werden?«(1)

Gramsci bezieht sich auf einen Gedanken, den Lukács in »Geschichte und Klassenbewußtsein« formuliert hat:

»Die Mißverstándnisse, die aus der Engelsschen Darstellung der Dialektik ent­stehen, beruhen wesentlich datauf, daß Engels - dem falschen Beispiel Hegels folgend - die dialektische Methode auch auf die Erkenntnis der Natur aus­dehnt. Wo doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechsel­wirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Veránderung des Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer Veránde­rung im Denken etc. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind.«(2)

Gramsci stellt zwei Alternativen, von denen er die Richtigkeit der These Lukács' abhängig macht. Nehmen wir die zweite zuerst: Wenn die Natur dem Menschen untergeordnet wird, wenn also die »Naturgeschichte« als »menschliche Geschichte« begriffen wird - und das ist die Position Gramscis - , dann ist die Dialektik in der Natur eine Selbstverstándlich­keit, weil es in der Menschheitsgeschichte und damit in der Naturge­schichte bekanntlich dialektisch zugeht. Lukács hingegen, so argwöhnt Gramsci, trennt die Natur vom Menschen (was eigentlich richtig ist) und behauptet, daß daher die dialektische Methode in der Erkenntnis der Na­tur keine Geltung habe (was falsch ist), weil dort keine »Wechselwirkung von Subjekt und Objekt« etc. stattfinden würde.(*)

Mit dieser Alternative ist Gramsci nicht einverstanden und wirft ihr »Dualismus« vor. Dieser Vorwurf wiederum ist als solcher berechtigt - nur daß der Monismus, den Gramsci statt dessen vertritt, subjektiv-idealistischen Charakter trágt, weil er keine Realitát außerhalb des Menschen anerkennt.

Bringt bereits diese Stellungnahme trotz des Vorwurfs der Inkonsequenz Gramscis allgemeine Sympathie für Lukács' Position zum Ausdruck, so treten die Übereinstimmungen in aller Deutlichkeit hervor, wenn die beiderseitigen Kritiken an Bucharins Lehrbuch »Theorie des hi­storischen Materialismus« miteinander verglichen werden. Indem bei Bu­charin die Dialektik, schreibt Lukács, »nicht reine Methode bleibt, son­dern sich zu einer eigenen, eine spezielle inhaltliche Erfüllung suchenden Wissenschaft entwickelt, gerát sie in Widerspruch zu dem geschichtlichen Wesen ihrer materiellen Grundlage«.(5)

*) Es muß ergánzt werden, daß Lukács auch andere Aussagen macht. So spricht er an anderer Stelle von der »Notwendigkeit der methodischen Trennung der bloß objektiven Bewegungsdialektik der Natur von der gesellschaftlichen Dialektik, in der auch das Subjekt in die dialektische Wechselbeziehung einbezogen ist«, und fügt den richtigen und wichtigen Gedanken hinzu: »Daneben wáre es aber zum konkreten Ausbau der dialektischen Methode unbedingt notwendig, die verschiedenen Typen det Dialektik konkret darzustellen.« (3) Damit wird im Ge­gensatz zum eben Zitierten die Dialektik in der Natur anerkannt. Diese Sátze stellen aber eine Ausnahme dar. Ansonsten verwirft Lukács námlich, wie er spáter selbstkritisch bemerkte, durchgángig die marxistische Stellungnahme zur Natur.(4)
Wogegen er sich hier wendet, ist der Versuch Bucharins, anknüpfend an Marx und Engels einige Gesetzmäßigkeiten der Dialektik darzustellen (Einheit der Gegensätze, Quantität/Qualität etc.). Gramsci konnte das bereits nicht als Darstellung der Dialektik verstehen, und Lukács kritisiert es wegen einer fehlerhaften »inhaltlichen Erfüllung« der Dialektik. Für beide ist die Dialektik auf ein vages »geschichtliches Wesen« gerichtet, das bei Gramsci die »absolute Geschichtlichkeit« begründete, aber keinesfalls in dialektische Gesetze zu fassen war und ist.

Weiter hált Lukács Bucharin entgegen, er habe die Beziehungen zwi­schen Marx/Engels und dem materialistischen Philosophen Feuerbach nicht richtig untersucht (er hat wie Gramsci Magenschmerzen mit dem Materialismus) und folgert daraus:

»Diesen Punkt haben wir besonders hervorgehoben, weil sich hieraus die we­sentlichsten Fehler der Bucharinschen Auffassung des historischen Materialis­mus am leichtesten begreifen lassen. Die sehr stark dem bürgerlichen - natur­wissenschaftlichen - Materialismus angenáherte Theorie Bucharins erhált da­durch den Typus einer 'science' (nach dem französischen Wortgebrauch) ... «(6)

Das französische Wort »science«, das Lukács zur Beschreibung der Bucha­rinschen Theorie heranzieht, bedeutet Wissenschaft - jedoch, und dar­aufkommt es ihm anscheinend an, mit der Nebenbedeutung »Kenntnis­se«. Der wesentliche Vorwurf gegenüber Bucharin besteht also darin, er mache aus dem Marxismus eine Ansammlung von Kenntnissen. Der zu­vor erhobene Vorwurf, Bucharin entferne sámtliche aus der klassischen deutschen Philosophie überkommenen »Elemente der marxistischen Me­thode«(7), wird so verstándlich. Es ist faktisch der Vorwurf, Bucharin stelle die Dialektik nicht dar, sondern gebe ein Gebáude von Lehrsátzen als Marxismus aus. Das richtet sich erneut gegen das Bemühen um eine in­haltliche Fassung der Dialektik. Zugleich bezieht Lukács hier die gleiche Frontstellung gegen die Naturwissenschaften - den »naturwissenschaftlichen Materialismus«, der von ihm rundweg als »bürgerlich« bezeichnet wird - , die wir bei Gramsci und Croce kennengelernt haben. Dies ist die Wendung gegen den »Scientismus«, gegen das Verstándnis von Wissen­schaft als einer Ansammlung positiver Kenntnisse. In »Geschichte und Klassenbewußtsein« geschieht das noch ausdrücklicher:

»Die Methode der Naturwissenschaften, das methodische Ideal .. . jedes Revi­sionismus kennt keine Widersprüche, keine Antagonismen in ihrem Material. (...) Das Erkenntnisideal der Naturwissenschaften, das auf die Natur angewen­det bloß dem Fortschritt der Wissenschaft dient, erscheint auf die gesellschaftliche Entwicklung gerichtet als ideologisches Kampfmittel der Bourgeoisie.«(8)

Die Behauptung, in den Naturwissenschaften könne es nicht dialektisch zugehen, weil es »in ihrem Material«, der Natur, keine Widersprüche gebe, interessiert uns hier nur am Rande. Wichtiger ist die Behauptung, die Methode der Naturwissenschaften sei als solche das »Ideal jedes Revisionismus« und ein »ideologisches Kampfmittel der Bourgeoisie«. Das ist ei­ne ganz andere Frontstellung, als Lenin sie etwa in »Materialismus und Empiriokritizismus« bezogen hat - wie sich überhaupt Lenins Auseinan­dersetzung mit Bucharin sehr von der Gramscis und Lukács' unterscheidet. Diese prinzipielle Abgrenzung von den Naturwissenschaften war ein Produkt der Zeit und weist auf tieferliegende Gemeinsamkeiten hin.

 

Anmerkungen

1) Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis, hrsg. von Christian Riechers, Frankfurt 1967 (im folgenden zitiert als PdP), S. 230
2) Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied und Berlin 1970, S. 63; Originalausgabe von 1923, S. 17; im folgenden zitiert aus beiden Ausgaben: Lukäcs: Geschichte, S. 63/17
3) Lukács: Geschichte, S. 353/226 f.
4) vgl. das Vorwort von 1967 zur Neuauflage von Geschichte und Klassenbewußtsein. ebenda, S. 15 f.
5) Lukács: Rezension zu N. Bucharin: Theorie des historischen Materialismus, in: Abram Deborin / Nikolai Bucharin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, hrsg. von Oskar Negt, Frankfurt 1969, S. 287 f.
6) ebenda, S. 283 f.
7) ebenda, S. 283
8) Lukács: Geschichte, S. 72 f./23

Editorischer Hinweis

Der Leseauszug stammt aus dem III. Kapitel wurde entnommen aus: Franz Kaminski, Heiner Karuscheit, Gramsci, Lukács der Sujektivismus und die Kritische Theorie, in: Franz Kaminski, Heiner Karuscheit, Klaus Winter, Antonio Gramsci - Philosophie und Praxis, Frankfurt/M 1982, S.132-135