Verbindungslinien
zwischen Gramsci und Lukács erschließen sich
bereits beim ersten Kennenlernen der Schriften
beider. Zwar áußerte sich Lukács selber nicht
direkt zu Gramsci, umgekehrt nahm Gramsci jedoch in
einer Anmerkung zu dem ungarischen Theoretiker
Stellung:
»Man muß die Position
von Professor Lukács zur Philosophie der Praxis
studieren. Es scheint, Lukács behauptet, man könne
von Dialektik nur im Hinblick auf die Geschichte
der Menschen und nicht auf die Geschichte der Natur
sprechen. Er könnte recht haben; oder auch nicht.
Wenn seine Behauptung einen Dualismus zwischen
Mensch und Natur voraussetzt, so hat er unrecht,
weil er einer für die Religion, für die der
griechisch-christlichen Philosophie und auch den
Idealismus typischen Naturauffassung verfállt, die
Mensch und Natur nur verbal in ein Verháltnis
zueinander setzt und zu einer Einheit bringt. Aber
wenn die menschliche Geschichte auch als
Naturgeschichte (auch vermittels der Geschichte der
Wissenschaft) begriffen wetden soll - wie kann dann
die Dialektik von der Natur getrennt werden?«(1)
Gramsci bezieht sich
auf einen Gedanken, den Lukács in »Geschichte und
Klassenbewußtsein« formuliert hat:
»Die
Mißverstándnisse, die aus der Engelsschen
Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen
wesentlich datauf, daß Engels - dem falschen
Beispiel Hegels folgend - die dialektische Methode
auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo
doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik:
Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von
Theorie und Praxis, geschichtliche Veránderung des
Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer
Veránderung im Denken etc. in der Naturerkenntnis
nicht vorhanden sind.«(2)
Gramsci stellt zwei
Alternativen, von denen er die Richtigkeit der
These Lukács' abhängig macht. Nehmen wir die zweite
zuerst: Wenn die Natur dem Menschen untergeordnet
wird, wenn also die »Naturgeschichte« als
»menschliche Geschichte« begriffen wird - und das
ist die Position Gramscis - , dann ist die
Dialektik in der Natur eine
Selbstverstándlichkeit, weil es in der
Menschheitsgeschichte und damit in
der Naturgeschichte bekanntlich dialektisch
zugeht. Lukács hingegen, so argwöhnt Gramsci,
trennt die Natur vom Menschen (was eigentlich
richtig ist) und behauptet, daß daher
die dialektische Methode in der Erkenntnis der
Natur keine Geltung habe (was falsch ist), weil
dort keine »Wechselwirkung von Subjekt und Objekt«
etc. stattfinden würde.(*)
Mit dieser Alternative ist
Gramsci nicht einverstanden und wirft ihr
»Dualismus« vor. Dieser Vorwurf wiederum ist als
solcher berechtigt - nur daß der Monismus, den
Gramsci statt dessen vertritt,
subjektiv-idealistischen Charakter trágt, weil er
keine Realitát außerhalb des Menschen anerkennt.
Bringt bereits diese
Stellungnahme trotz des Vorwurfs der Inkonsequenz
Gramscis allgemeine Sympathie für Lukács' Position
zum Ausdruck, so treten die Übereinstimmungen in
aller Deutlichkeit hervor, wenn die beiderseitigen
Kritiken an Bucharins Lehrbuch »Theorie des
historischen Materialismus« miteinander verglichen
werden. Indem bei Bucharin die Dialektik, schreibt
Lukács, »nicht reine Methode bleibt, sondern sich
zu einer eigenen, eine spezielle inhaltliche
Erfüllung suchenden Wissenschaft entwickelt, gerát
sie in Widerspruch zu dem geschichtlichen Wesen
ihrer materiellen Grundlage«.(5)
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*)
Es muß ergánzt
werden, daß Lukács auch andere Aussagen macht. So
spricht er an anderer Stelle von der »Notwendigkeit
der methodischen Trennung der bloß objektiven
Bewegungsdialektik der Natur von der
gesellschaftlichen Dialektik, in der auch das
Subjekt in die dialektische Wechselbeziehung
einbezogen ist«, und fügt den richtigen und
wichtigen Gedanken hinzu: »Daneben wáre es aber zum
konkreten Ausbau der dialektischen Methode
unbedingt notwendig, die verschiedenen Typen det
Dialektik konkret darzustellen.« (3) Damit wird im
Gegensatz zum eben Zitierten die Dialektik in der
Natur anerkannt. Diese Sátze stellen aber eine
Ausnahme dar. Ansonsten verwirft Lukács námlich,
wie er spáter selbstkritisch bemerkte, durchgángig
die marxistische Stellungnahme zur Natur.(4) |
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Wogegen
er sich hier wendet, ist der Versuch Bucharins,
anknüpfend an Marx und Engels einige
Gesetzmäßigkeiten der Dialektik darzustellen
(Einheit der Gegensätze, Quantität/Qualität etc.).
Gramsci konnte das bereits nicht als Darstellung
der Dialektik verstehen, und Lukács kritisiert es
wegen einer fehlerhaften »inhaltlichen Erfüllung«
der Dialektik. Für beide ist die Dialektik auf ein
vages »geschichtliches Wesen« gerichtet, das bei
Gramsci die »absolute Geschichtlichkeit«
begründete, aber keinesfalls in dialektische
Gesetze zu fassen war und ist.
Weiter hált Lukács
Bucharin entgegen, er habe die Beziehungen
zwischen Marx/Engels und dem materialistischen
Philosophen Feuerbach nicht richtig untersucht (er
hat wie Gramsci Magenschmerzen mit dem
Materialismus) und folgert daraus:
»Diesen Punkt
haben wir besonders hervorgehoben, weil sich
hieraus die wesentlichsten Fehler der
Bucharinschen Auffassung des historischen
Materialismus am leichtesten begreifen lassen. Die
sehr stark dem bürgerlichen -
naturwissenschaftlichen - Materialismus
angenáherte Theorie Bucharins erhált dadurch den
Typus einer 'science' (nach dem französischen
Wortgebrauch) ... «(6)
Das französische Wort
»science«, das Lukács zur Beschreibung der
Bucharinschen Theorie heranzieht, bedeutet
Wissenschaft - jedoch, und daraufkommt es ihm
anscheinend an, mit der Nebenbedeutung
»Kenntnisse«. Der wesentliche Vorwurf gegenüber
Bucharin besteht also darin, er mache aus dem
Marxismus eine Ansammlung von Kenntnissen. Der
zuvor erhobene Vorwurf, Bucharin entferne
sámtliche aus der klassischen deutschen Philosophie
überkommenen »Elemente der marxistischen Methode«(7),
wird so verstándlich. Es ist faktisch der Vorwurf,
Bucharin stelle die Dialektik nicht dar, sondern
gebe ein Gebáude von Lehrsátzen als Marxismus aus.
Das richtet sich erneut gegen das Bemühen um eine
inhaltliche Fassung der Dialektik. Zugleich
bezieht Lukács hier die gleiche Frontstellung gegen
die Naturwissenschaften - den
»naturwissenschaftlichen Materialismus«, der von
ihm rundweg als »bürgerlich« bezeichnet wird - ,
die wir bei Gramsci und Croce kennengelernt haben.
Dies ist die Wendung gegen den »Scientismus«, gegen
das Verstándnis von Wissenschaft als einer
Ansammlung positiver Kenntnisse. In »Geschichte und
Klassenbewußtsein« geschieht das noch
ausdrücklicher:
»Die Methode der
Naturwissenschaften, das methodische Ideal .. .
jedes Revisionismus kennt keine Widersprüche,
keine Antagonismen in ihrem Material. (...) Das
Erkenntnisideal der Naturwissenschaften, das auf
die Natur angewendet bloß dem Fortschritt der
Wissenschaft dient, erscheint auf die
gesellschaftliche Entwicklung gerichtet als
ideologisches Kampfmittel der Bourgeoisie.«(8)
Die Behauptung, in
den Naturwissenschaften könne es nicht dialektisch
zugehen, weil es »in ihrem Material«, der Natur,
keine Widersprüche gebe, interessiert uns hier nur
am Rande. Wichtiger ist die Behauptung, die Methode
der Naturwissenschaften sei als solche das »Ideal
jedes Revisionismus« und ein »ideologisches
Kampfmittel der Bourgeoisie«. Das ist eine ganz
andere Frontstellung, als Lenin sie etwa in
»Materialismus und Empiriokritizismus« bezogen hat
- wie sich überhaupt Lenins Auseinandersetzung mit
Bucharin sehr von der Gramscis und Lukács'
unterscheidet. Diese prinzipielle Abgrenzung von
den Naturwissenschaften war ein Produkt der Zeit
und weist auf tieferliegende Gemeinsamkeiten hin.
Anmerkungen
1)
Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis, hrsg. von
Christian Riechers, Frankfurt 1967 (im folgenden
zitiert als PdP), S. 230
2) Georg Lukács:
Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied und
Berlin 1970, S. 63; Originalausgabe von 1923, S.
17; im folgenden zitiert aus beiden Ausgaben:
Lukäcs: Geschichte, S. 63/17
3) Lukács:
Geschichte, S. 353/226 f.
4) vgl. das Vorwort
von 1967 zur Neuauflage von Geschichte und
Klassenbewußtsein. ebenda, S. 15 f.
5) Lukács: Rezension zu N. Bucharin: Theorie des
historischen Materialismus, in: Abram Deborin /
Nikolai Bucharin: Kontroversen über dialektischen
und mechanistischen Materialismus, hrsg. von Oskar
Negt, Frankfurt 1969, S. 287 f.
6) ebenda, S. 283 f.
7) ebenda, S. 283
8) Lukács: Geschichte, S. 72 f./23
Editorischer Hinweis
Der Leseauszug stammt aus dem III. Kapitel wurde
entnommen aus: Franz Kaminski, Heiner Karuscheit,
Gramsci, Lukács der Sujektivismus und die Kritische
Theorie, in: Franz Kaminski, Heiner Karuscheit,
Klaus Winter, Antonio Gramsci - Philosophie und
Praxis, Frankfurt/M 1982, S.132-135
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