Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Was ist los im Märkischen Viertel
Eine Zwangsräumung und was man dagegen machen kann


ein Artikel aus der 1.Mai-Zeitung 1968

5-6/2018

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Der Berliner Senat ist besonders stolz auf seine Sanierungsstädte, und in der Tat gehören Gropiusstadt und Märkisches Viertel zu den bestorganisierten Betrugsunternehmen, die der Senatsbürokratie zusammen mit den Unternehmern in den letzten zehn Jahren geglückt sind. Saniert haben sich die privaten und senatseigenen Grundstücksspekulanten und Baufirmen, deren Profite ausreichen würden, nicht nur um alte Wohnungen in Kreuzberg und in Wedding auf den neuesten Stand zu bringen, sondern auch um die Mietpreise in den neuen Städten auf einen Bruchteil der jetzigen Summen zu reduzieren. Die Familien dagegen, die ins Märkische Viertel umgesiedelt werden, zahlen den fünffachen Preis ihrer früheren Wohnungsmieten und mehr. Sie haben dafür den Vorteil, in einem der modernsten Teile der Stadt zu leben, auch wenn es dort zuwenig Kindergär­ten, keine Jugendheime, kein Kino gibt und die Schulen, die vorhanden sind oder gerade gebaut werden, sich schon in der Planung als zu klein er­weisen.

Man kann nicht alles auf einmal haben, sagen die zuständigen Ämter, während die Wohnungsbaugesellschaften Mietpreise zwischen 250 und 450 Mark einkassieren.

Wer ins Märkische Viertel einzieht, dem wird vom Bezirksamt ein Prospekt überreicht, in dem er dazu beglück­wünscht wird, daß er nun Bürger in einem der komfortabelsten und modernsten Viertel der Stadt ist.

Der Arbeiter B. ist vor zwei Jahren dort eingezogen. Er war auch wirklich froh, daß er aus seiner 8 Quadratmeter großen Kochstube in Wedding heraus­kam und nicht mehr abends seine Möbel vor die Tür stel­len mußte, damit seine sieben­köpfige Familie überhaupt schlafen konnte» Er bekam eine 3%-Zimmer-Wohnung im Märkischen Viertel, hatte dankbar zu sein und 300 Mark Miete zu zahlen.

Seit einem halben Jahr kann B. nicht arbeiten, weil er magenkrank ist. Krankengeld und Kindergeld reichen nicht, um 7 Personen zu ernähren und die Miete zu bezahlen. Das Sozialamt hat ihm dreimal einen Mietvorschuß gegeben, den B. bisher nicht zurückzahlen konnte. Jetzt kam die Kündigung der Wohnungsbaugesellschaft Gesobau, auf die innerhalb von vierzehn Tagen die Zwangsräumung folgen sollte. B. hatte sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, mit seiner Familie ins Obdachlosenasyl zu ziehen.

Was B. passiert ist, passierte schon vorher zahlreichen anderen Familien. Es wird auch weiter passieren, wenn nicht irgend etwas dagegen unter­nommen wird.

Die Frage ist nur, wie und von wem etwas unternommen werden kann. Das Bezirksamt verweist an das zuständige Sozialamt. Das Sozialamt fühlt sich nicht verantwortlich, denn es kann nichts dafür, wenn Leute krank werden, und hat schließlich dreimal die Miete vorgestreckt. Außerdem sind Mietzuschüsse gezahlt worden, die man zwar sechs Monate lang beantragen muß­te, die aber gezahlt werden, wenn man zufällig weiß, daß man jedes Jahr einen neuen Antrag stellen muß.

Die Instanzen, die wirklich verantwortlich sind, scheinen das Glück zu haben, daß im­mer nur einzelne Pech haben und krank werden, ihren Ar­beitsplatz verlieren, ihre Mie­te nicht bezahlen können. Würden in einem Häuserblock zehn Familien auf die Straße gesetzt, hätten in einer Sied­lung plötzlich hundert Fami­lien nichts mehr zu verlieren, dann könnte es passieren, daß diese zehn, hundert Familien sich weigern würden, die Häu­ser zu verlassen und ihre Mie­ten zu zahlen, daß sie sich or­ganisieren würden und die Ausbeutungs- und Zwangs­maßnahmen durch Widerstand und Selbsthilfeorganisationen abschaffen würden, so wie es in einzelnen Berliner Stadt­vierteln in den zwanziger Jah­ren tatsächlich geschehen ist. Aber es ist kein Zufall, es ist auch nicht das Glück der Kapitalisten und das Pech der Ausgebeuteten, daß nur ein­zelne oder wenige isoliert von­einander aus ihren Wohnun­gen, aus ihren Betrieben hin­ausgeworfen werden.

Es ist System dahinter. Ebenso wie in den Berliner Großbetrieben Massenentlas­sungen dadurch verschleiert werden, daß in regelmäßigen Abständen eine kleine Zahl von Arbeitern ihren Arbeits­platz verliert, ebenso werden überhöhte Mieten, Räumungs­klagen, Absprachen zwischen Arbeitgebern und Wohnungs­ämtern usw. dadurch ent­schärft, daß sie immer nur einzelne Unglückliche zu tref­fen scheinen. Und weil jeder Angst hat, es könnte auch ihn treffen, konnten bisher dieje­nigen beruhigt sein, die ein Interesse daran haben, daß das allgemeine Elend nur als das Elend einzelner erscheint.

Der Arbeiter B. aus der Papageiensiedlung im Märki­schen Viertel hat aber begon­nen, sich zu wehren. Er hat be­griffen, daß er alleine nichts schafft, daß es auf kollektiven Widerstand ankommt, wenn man sich wehren will.

Unterstützt von Studenten, die von der Sache erfahren hatten und ihm helfen woll­ten, begann B. Flugblätter zu verteilen und mit den Hausbewohnern zu diskutieren, vor denen er früher seine Sorgen ängstlich verborgen gehalten hatte.

Auf den Flugblättern wurde zu einer Versammlung in B.s Wohnung aufgerufen, in der über die Verhinderung der Zwangsräumung beraten wer­den sollte.

Die Wohnungsbaugesellschaft, die über alle Vorgänge im Viertel sofort Bescheid weiß, reagierte prompt: Sie drohte allen, die zu der Versammlung gehen würden mit unverzüglicher Kündigung.

Trotzdem kamen 20 Haus­bewohner, um mit B. und den Studenten zu diskutieren. Und es kamen plötzlich auch Leute von der Wohnungsbaugesell­schaft, es kamen Vertreter vom Sozialamt, vom Bezirks­amt, von der Fürsorge, von der Kirche. Der Versuch dieser of­fiziellen Vertreter, der Familie B. selber die Schuld in die Schuhe zu schieben, scheiterte ebenso wie der Versuch, die Studenten als Kommunisten und Aufwiegler abzufertigen und gegen die Hausbewohner auszuspielen.

Die Hausbewohner solidarisierten sich mit den Studen­ten, weil sie bereit waren, et­was zu tun. Und sie solidarisierten sich mit B., weil sie wußten, daß sie selber auch in dessen Lage kommen könnten.

Am anderen Tag war die Kündigung rückgängig ge­macht, B. erhielt Mietrückzah­lungen zugesichert, Mietzu­schüsse, Schuldenerlaß und freundliche Worte: Er hätte doch gleich kommen sollen, man hätte doch immer ein offenes Ohr für ihn gehabt.

Warum konnte der Familie B. auf einmal geholfen werden? Warum waren plötzlich alle zuständigen Bürokraten zur Stelle? Warum wurde die Zwangsräumung so eilig rück­gängig gemacht? Warum war man auf einmal so freundlich? Es ist klar, wovor die Büro­kratie Angst bekommen hat: Sie hat Angst, daß das Bei­spiel der Familie B. Schule macht, daß die Mieter ihre Sache selbst in die Hand neh­men, daß sie lernen, wie sie sich solidarisieren und organi­sieren können.

Wo sie diese Angst nicht zu haben braucht, hört ihre Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit schnell auf. Am Tage nach der Versammung in B.s Wohnungist, ohne daß jemand da­von wußte, eine andere kinderreiche Familie aus ihrer Wohnung hinausge­worfen und ins Obdach­losenasyl gebracht worden.

Willi Pohlmann

Editorische Hinweise

Der Artikel und die Glosse wurden entnommen aus: 1.Mai - Zeitung der Arbeiter, Schüler & Studenten. Herausgegeben vom Komitee der Arbeiter, Schüler und Studenten, vernatwort für den Inhalt: Tilman Fichter, Peter Neitzke und Wolfgang Hohmann. 1 Berlin 31, Kurfürstendamm 140/II. Druck: Erich Lezinsky Verlag und Buchdruckerei, 1 Berlin 20, Neuendorferstr. 101