Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Fünf Todesfälle und ein Tatverdächtiger
Bislang unbekannte Opfer faschistischer Gewalt tauchen auf

5-6/2017

trend
onlinezeitung

Es ist eine Story, bei der es viel um brutale Gewalt geht, um bierselige Dummheit und Primitivität, um kahlköpfige Schulabbrecher. Aber auch um selbstermächtigte Folterer, Sadisten und um politische Kader, die ihre Hintermänner bildeten. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Story, durch die deutlich wird, dass die nach außen hin betonte Trennungsstriche und Unterscheidungen im aktivistischen rechtsextremen Lager in Wirklichkeit Makulatur sind.

In Frankreich wird das ungeschminkt gewaltaffine rechtsextreme Spektrum meist als extrême droite radicale („radikale extreme Rechte“) bezeichnet. Ein Begriff, der zwar insofern fragwürdig erscheint, als es definitiv keine „moderate extreme Rechte“ gibt, aber zwecks Unterscheidung von der eher auf Wahlen orientierenden, also institutionellen extremen Rechten benutzt wird. Zu Letzterer zählt insbesondere der Front National (FN) – die vollkommen unsinnige Bezeichnung als „populistisch“, die in deutschen Medien gang und gäbe ist, wird in Frankreich nur selten für diese gewöhnlich als extrême droite qualifizierte Partei benutzt.

Zur Erstgenannten rechnet man Gruppen wie die 2013 nach dem Tod des jungen Antifaschisten Clément Méric verbotenen Vereinigungen Troisième Voie („Dritter Weg“) und Jeunesses nationalistes révolutionnaires (JNR, „Revolutionäre nationalistische Jugend“) unter Serge Ayoub, aber auch L’Oeuvre française (ungefähr „Französisches Werk“) unter Yvan Benedetti und die Jeunesses nationalistes (JN) von Alexandre Gabriac. Die meisten dieser Gruppierungen machen seit dem Organisationsverbot weiter. Ayoub und seine Anhänger halten sich in organisatorischer Hinsicht eher zurück, und ihr Anführer ist ist 2015 vor allem bei einem von ihm aufgebauten Motorradclub aktiv. Yvan Benedetti und Alexandre Gabriac – beide wurden im April 2010 sowie im Juni 2011 vom Front National ausgeschlossen – machen nahezu ungebrochen weiter. Als Medium und Internetplattform benutzen sie die Organisationsbezeichnung Jeune Nation („Junge Nation“, so hieß bereits eine 1958 verbotene rechtsextreme Vereinigung) und als Parteinamen PNF, für Parti nationaliste français. Am zurückliegenden Wochenende des 13./14. Mai 17 hielten sie in Paris ein „Europaforum“ ab, unter anderem mit Matthias Deyda von der Partei Die Rechte aus Deutschland und Irene Pappa-Dimopoulou von der Goldenen Morgenröte aus Griechenland.

Neben oder zwischen beiden findet man noch die so genannte identitäre Bewegung. Diese bildet einen außenparlamentarischen Stoßtrupp, eine Aktivistentruppe – auch wenn ihr örtlicher Ableger in Nizza über den Front National eine parlamentarische Vertretung erlangt hat -, vermeidet jedoch in der Öffentlichkeit im allgemeinen ein offen gewalttätiges Auftreten ebenso wie erkennbare Bezüge zum historischen Faschismus und Nazismus. Zu ihren Stärken zählen eher PR-Arbeit und Agitpropaktionen. Oft treten die Identitären auch mit der Behauptung auf, sie seien gar kein Bestandteil der extremen Rechten, sondern etwas weitgehend Neues.

Diese natürlich nur vordergründigen Abgrenzungen werden nun brüchig, denn der jüngst bekannt gewordene schreckliche Vorfall lässt Bündnislinien und Überschneidungen erkennen. Aber auch den offen kriminellen Charakter vieler Kräfte dieses Spektrums; und ferner seine Durchsetzung mit polizeilichen V-Leuten, die jedoch eher als Komplizen agierten, anstatt seine Umtriebe zu stoppen.

Ende vergangener Woche begann es, mit einer guten Woche Verspätung gegenüber Frankreich auch durch deutschsprachige Medien zu gehen: Drei Aktivisten der gewalttätigen extremen Rechten im nordfranzösischen Lille wurden Ende April dieses Jahres festgenommen, und ein Strafverfahren wegen gemeinschaftlich begangener Körperverletzung mit Todesfolge wurde gegen sie eröffnet. Darüber berichtete erstmals am 03. Mai 17 die Regionalzeitung La Voix du Nord. Vorgeworfen wird ihnen konkret, in der Nacht vom 11. zum 12. November 2011 daran beteiligt gewesen zu sein, als der antifaschistische Aktivist Hervé Rybarczyk – bekannt als Gitarrist der Punkrockband Ashtones – mutmaßlich ertränkt wurde.

Seine Leiche wurde im nordfranzösischen Deûle-Kanal aufgefunden. Die Ermittlungsbehörden schlossen zunächst auf „Selbstmord“. Die Affäre hatte schon deswegen einen äußerst üblen Geruch, weil zwischen Oktober 2010 und September 2011 bereits vier junge Männer im Alter zwischen 19 und 33 tot aus demselben Kanal gefischt worden waren. Mehrere der Opfer waren entweder als homosexuell bekannt oder hatten kurz zuvor einen als Homosexuellentreffpunkt bekannten Ort wie die Bar L’Esplanade verlassen. Die Staatsanwaltschaft hatte Ermittlungen eingeleitet. Doch die Polizei konnte leider, leider nichts finden, und die Todesfälle wurden als „Unfälle“ eingestuft.

Ende März dieses Jahres fand in Amiens der Prozess gegen 18 Mitglieder der vor allem zwischen 2012 und 2014 mit brutalen Gewalttaten hervortretenden Gruppe WWK (White Wolve Klan) statt. 35 Straftaten wurden ihnen vorgeworfen. Ihr Anführer, Jérémy Mourain, wurde dabei zu neun Jahren Haft verurteilt. Er hatte unter anderem 2012 Mitglieder einer rivalisierenden Rockergang attaciert. Eines seiner Opfer wurde mit Fußtritten, Motorradketten und einem Messer gefoltert. Mit angeklagt war aber auch Serge Ayoub als mutmaßlicher Hintermann. Denn Mourain war Mitglied in der von ihm geleiteten Gruppierung Troisième Voie und mit deren regionalem Aufbau in der Picardie betraut worden. Äußerungen Ayoubs waren dahingehend interpretiert worden, dass er seine Anhänger auf die rivalisierende Gruppe gehetzt hatte. Der alternde Ayoub, der in den 1980er Jahren durch seine Aktivitäten in der Pariser Skinheadszene bekannt geworden war, erzielte jedoch einen Freispruch für sich. Die übrigen 17 Angeklagten wurden zu Haftstrafen zwischen zwei Monaten und fünf Jahren verurteilt, lediglich eine Frau wurde freigesprochen.

Anlässlich des Prozesses redeten einige der Mitangeklagten jedoch ein wenig zu viel über Mourain, sei es aus Trottelei, sei es, weil inoffizielle Vereinbarungen getroffen worden waren, die ihnen Strafmilderung verschafften sollten. Unter anderem wurde kolportiert, Mourain habe in der Untersuchungshaft von einem in Lille durch ihn begangenen Tötungsdelikt gesprochen und seine Hoffnung ausgedrückt, dass die Richter „ihre Nase nicht zu sehr in meine Zeit in Lille stecken“ möchten.

Dadurch erhielten die Ermittlungen zu dem Todesfall Hervé Rybarczyk doch noch einmal neuen Schwung. Zu den in diesem Zusammenhang Festgenommenen zählt Yohan Mutte, ein führendes Mitglied der Gruppierungen Troisième Voie und JNR – er hatte dort für die Aufnahme Jérémy Mourains gesorgt.

Viele französische Medien berichteten daraufhin übereinstimmend von Festnahmen „im Milieu der identitären Bewegung in Lille“. Dies veranlasste wiederum den deutschsprachigen Ableger der französischen Organisation Bloc identitaire – diese seit 2003 bestehende Gruppierung bildet die Matrix für die „Bewegung“ -, die vor allem in Österreich verankerte Identitäre Bewegung (IB), zu einer Strafanzeige gegen die deutsche Wochenzeitung Die Zeit: Diese habe von einer polnischen Antifa-Seite die Meldung übernommen, die drei Festgenommenen gehörten der identitären Bewegung an, was jedoch falsch sei. Vielmehr bestehe kein Zusammenhang zwischen den Strafverdächtigen und der genannten „Bewegung“.

Natürlich handelt es sich seitens der IB um eine faustdicke Lüge. Die rechtsextreme Organisation schreibt dazu: „In französischen Zeitungen befindet sich keine solche absurde Behauptung.“ Doch anders, als die IB angibt, findet man den genannten Zusammenhang zu den Identitären seit dem ersten Mittwoch im Mai in zahlreichen französischen Medien.

Dennoch ist die dort angegebene Organisationsbezeichnung zunächst insofern vergröbernd, als die Tatverdächtigen unmittelbar vor allem den heute verbotenen Gruppierungen Troisième Voie und JNR zuzurechnen sind. Nur war deren Treffpunkt in Lille wiederum Jahre lang das Lokal der „identitären Bewegung“, das so genannte Flämische Haus oder Vlaams Huis. Und heute ist es die seit vorigem Herbst eröffnete Bar La Citadelle. Der örtliche Chef der Génération identitaire – Jugendorganisation des Bloc -, der 33jährige Aurélin Verhassel, ist der Betreiber von La Citadelle. Seine Nähe zu und Zusammenarbeit mit Mourain und Mutte ist seit Jahren bekannt. Beide Seiten arbeiteten in einer gemeinsamen Organisation unter dem Namen Front populaire solidariste („Solidaristische Volksfront“) intensiv zusammen. Verhassel wurde in Deutschland zu 80 Tagessätzen Geldstrafe wegen Sprengstoffbesitzes und Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen verurteilt. In diesem Frühjahr war er auf regionaler Ebene aktiv am Wahlkampf des Front National beteiligt.

Neben den dreien verkehrt im selben Umfeld auch ein gewisser Antoine Denevi, der frühere Chef von Troisième Voie in Nordfrankreich. Der 29jährige Ex-Hooligan Denevi war aber laut einem Bericht der Internetzeitung Mediapart vom Mai 2016 auch an einem Waffenhändlerring beteiligt, über den Kriegswaffen aus der Slowakei in Frankreich in Umlauf gebracht wurden. An dessen Spitze stand der rechtsextreme frühere Berufsmilitär Claude Hermant, ebenfalls Gründer des Vlaams Huis und früherer Co-Sprecher des Front populaire solidariste neben Serge Ayoub.

Hermant wird unter anderem verdächtigt, den jihadistischen Attentätern vom Januar 2015 bei Charlie Hebdo und in einem koscheren Supermarkt – den Kouachi-Brüder und Amedy Coulibaly – Schusswaffen geliefert zu haben. Dazu wurde er im Dezember 2015 und im April dieses Jahres polizeilich vernommen, bislang ohne Resultat. Mediapart und La Voix du Nord wiederum schrieben, Claude Hermant sei seinerseits ein Informant der Gendarmerie und der Zollfahndung gewesen und habe in deren Auftrag im Waffenhandel mitgemischt. Er soll laut einem bei Mediapart beherbergten Blogger in der Vergangenheit auch beim Ordnerdienst des FN, dem DPS („Abteilung Schutz und Sicherheit“), tätig gewesen sein.

Vor diesem Hintergrund wird eventuell verständlich, warum polizeiliche Ermittlungen zu den Todesfällen im Kanal in der Vergangenheit leider, leider ergebnislos blieben. In der Vergangenheit war bereits der Verdacht aufgekommen, mit der extremen Rechten sympathisierende Polizisten hätten Namen und Adressen antifaschistischer Aktivistinnen – die infolge von Personalienfeststellungen gesammelt worden waren - an das Vlaams Huis weitergegeben. Dieses veröffentlichte mehrfach entsprechende Listen. 2009 hatten sieben Anarchisten deswegen gemeinsam Strafanzeige erstattet; zuvor waren im Mai jenes Jahres 26 Demonstranten einer Personalienkontrolle unterzogen worden, deren Namen im Juni 09 in einem Video des Vlaams Huis bei Youtube auftauchten. Das Verfahren wurde jedoch, völlig überraschend natürlich, eingestellt.

Nunmehr ermitteln die Behörden zumindest wegen des Todes von Hervé Rybarczyk erneut. Die Akten der übrigen vier Toten aus dem Kanal bleiben vorerst geschlossen.

Es handelt sich im Übrigen nicht um die ersten, auf faschistische Gewalt zurückzuführenden Todesfälle, die erst Jahre später als solche erkennbar werden. Am 03. Februar dieses Jahres berichtete die westfranzösische Zeitung Ouest France, dass drei frühere Naziskins am Vortag in Rennes zu vier- und fünfjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, weil sie im August 2009 den 27jährigen Frédéric Bourget totschlugen. Der Artikel erwähnte Hitlergrüße, die am Tatort – in einer Bar – gezeigt worden seien. Am selben Tag erfuhr der Verf. dieser Zeilen aus dem autonomen und antifaschistischen Milieu in Rennes, niemandem dort sei der Zusammenhang zwischen diesem Tod und der rechtsextremen Szene bis dahin bekannt gewesen.

Stand: 15.05.17

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.