Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Am Tag des zweiten Durchgangs der Präsidentschaftswahl und danach
Nach dem Wahlausgang kriegt der neofaschistische Front National (FN) die Krise

5-6/2017

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Die Nachricht löste ein mittleres „politisches Erdbeben“ auf der politischen Rechten in Frankreich aus: Marion Maréchal-Le Pen, die 27jährige Juristin und Parlamentsabgeordnete des Front National (FN) währen der letzten fünf Jahre, will im Juni dieses Jahres nicht erneut zu den Parlamentswahlen kandidieren. Dies kündigte sie am Mittwoch, den 10. Mai in einem Interview mit der im Raum Avignon – ihrem Wahlkreis - erscheinenden Lokalzeitung Vaucluse Matin an. Zugleich will sie ihre derzeitigen politischen Ämter, insbesondere im Regionalparlament in Marseille, niederlegen.

Die bisherige jüngste Abgeordnete der französischen Nationalversammlung erklärte, sie wolle sich „vorläufig“ aus der aktiven Politik zurückziehen. Wahrscheinlich wolle sie zunächst Erfahrungen in der Privatwirtschaft sammeln, zudem wolle sie ihrer dreijährigen Tochter mehr Zeit widmen. Allerdings fügte sie hinzu: „Vielleicht komme ich wieder“.

Diese Verlautbarung wird von vielen Beobachterinnen und Beobachtern als falscher Rückzug aus dem politischen Leben gewertet. Zwar fasste Marion Maréchal-Le Pen ihren Beschluss nicht spontan, infolge der Niederlage ihrer Parteivorsitzenden und Tante Marine Le Pen bei der Präsidentschafts-Stichwahl am 07. Mai. Vielmehr hatte sie ihren Schritt intern bereits im November 2016 als wahrscheinlich angekündigt, unter anderem auch vor dem Hintergrund von Dauerkonflikten mit Marine Le Pen.

Dennoch kommt er zu einem Zeitpunkt, zu dem infolge der Wahlniederlage der ideologische Linienstreit bei der rechtsextremen Partei erneut mit voller Wucht aufbricht. Er kann dementsprechend als Versuch, durch ein Alarmzeichen auf diesen Linienstreit Einfluss zu nehmen, gewertet werden. Oder auch, je nach Sichtweise, als Schwächung eines Flügels innerhalb des innerparteilichen Spektrums, als dessen profilierter Vertreter die Ultrakatholikin gilt. Ihr Großvater, der in wenigen Wochen 89jährige Jean-Marie Le Pen – dessen Positionen Marion Maréchal-Le Pen näher stand als die derzeitige Parteivorsitzende – sprach in einer ersten Reaktion auf das Durchsickern der Rückzugspläne am Abend des 09. Mai von einer „Desertion“. Und falls es für diese keine „gewichtigen Gründe“ dafür gebe, müsse er einen solchen Schritt als unverzeihlich betrachten. Andere werten die Ankündigung hingegen eher als taktisches Manöver.

Marine Le Pen erhielt in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 33,9 % der Stimmen. Dies war weniger als erwartet und ist vor allem auf ihr miserables Abschneiden bei der Fernsehdebatte mit ihrem damaligen Gegenkandidaten Emmanuel Macron am 03. Mai zurückzuführen. Dabei bewies Le Pen vor allem in wirtschaftlichen Fragen eine beinahe erstaunliche Inkompetenz, nachdem der FN jahrelang auf „Professionalisierung“ und „Intellektualisierung“ gesetzt hatte.

Hätte Marine Le Pen in der Debatte obsiegen wollen, dann hätte sie eine von zwei Optionen erfolgreich verfolgen müssen: Entweder hätte sie sich als „konstruktiv“ argumentierende, die einzelnen Sachfragen beherrschende, potenzielle „Staatsfrau“ inszenieren können. Oder aber sie hätte als selbsternannte „Herausforderin des Systems“ Macron erfolgreich destabilisieren, ihn aus der Fassung bringen, in die Defensive reden müssen. Dann hätte sie eventuell gepunktet, was aber voraussetzen würde, dass die Unzufriedenheit im Lande stark genug ist, dass es in den Augen der Mehrheit entscheidend ist, wenn jemand „tüchtig auf den Tisch klopft“. Beides ist Marine Le Pen jedoch im Endeffekt nicht gelungen. Aufgrund ihrer Ahnungslosigkeit in wirtschaftlichen Fragen behandelte Emmanuel Macron seine Herausfordererin streckenweise ähnlich, wie ein Lehrer eine ungehörige Schülerin zurechtweisen würde. Le Pen brachte dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis sogar an einer Stelle selbst zur Sprache, um sich darüber zu beklagen.

Dennoch schnitt Marine Le Pen, die insgesamt knapp elf Millionen Stimmen – ein neuer historischer Rekord für den FN – einfuhr, in einigen Landstrichen und sozialen Gruppen bedenklich hoch ab. 56 Prozent der Industriearbeiter/innen, sofern sie überhaupt zur Wahl gingen (und überhaupt das Stimmrecht innehatten), wählten Marine Le Pen. In 45 von 577 Wahlkreisen erhielt sie eine absolute Stimmenmehrheit, und in zwei von knapp einhundert französischen Départements oder Bezirken: Aisne und Pas-de-Calais. Beide liegen im von der industriellen Krise gebeutelten Nordosten Frankreich. In weiteren 66 Wahlkreisen lag Marine Le Pen über 45 Prozent. Auf diese insgesamt 111 Stimmbezirke von 577 will der FN sich nun bei den im Juni d.J. bevorstehenden Parlamentswahlen konzentrieren. Aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts dürfte der Front National nur dort realistische Chancen haben, einige Kandidaten durchzubringen.

Doch spätestens, wenn diese anstehenden Wahlen vorüber sind, wird der ideologische Ausrichtungsstreit voll aufbrechen – bis dahin wird der Flügelkampf noch zurückgestellt, um den Erfolg nicht zu gefährden.

Zwei grundlegende Orientierungen stehen sich dabei innerhalb der Partei gegenüber. Die eine besteht darin, sich als entschiedene Rechtspartei auf einer Links-Rechts-Achse zu verordnen. Dies impliziert, „die Sozialisten“ neben dem Islam und den Einwanderern als Hauptgegner zu betrachten. Der Misserfolg der Regierungspolitik in der fünfjährigen Amtszeit von Präsident François Hollande illustriert demnach den Fehlschlag „linker Politik“ generell, was wiederum auf ihrer „utopischen“ und zu sehr auf soziale Gleichheit ausgerichteten Charakter zurückzuführen sei. Zwar gehört ziemlich viel Fantasie dazu, Hollandes Politik seit 2012 mit dem Marxismus in Verbindung zu bringen, doch wird in dieser Sichtweise François Hollandes Scheitern als Ausdruck des Bankrotts der politischen Linken schlechthin dargestellt. Angriffspunkte dieser Linie im rechten Lager – zu welcher Marion Maréchal-Le Pen gehört - sind folglich vor allem die „Attacken der Linksregierung auf tradierte Werte“, wie durch die Zulassung der Ehe für homosexuelle Paare seit einem Gesetz vom 17. Mai 2013.

Die andere Linie jedoch verwirft das Links-Rechts-Schema generell und gibt an, als Repräsentantin einer fundamentalen Alternative sei die eigene Partei „weder links noch rechts, sondern national“ und deswegen der übergreifenden Volksgemeinschaft verpflichtet. Dieses Motto war sinngemäß – Ni droite ni gauche, français – im Jahr 1995 erstmals durch Teile des Front National übernommen wurde. Eine Vorreiterrolle dabei spielte damals der Chef der Jugendorganisation FNJ, Samuel Maréchal. Dieser damalige Schwiegersohn von Jean-Marie Le Pen hat sich heute aus der Politik zurückgezogen und ist mittlerweile mit der Urenkelin eines afrikanischen Präsidenten, Félix Houphoët-Boigny, verheirat, doch damals war er einer der Vertreter einer „radikalen Linie“, die auf Äquidistanz zu Konservativen und Linken gleichermaßen besteht. Der Slogan („Weder links nicht rechts, sondern französisch“) war allerdings gleichlautend bereits in den 1930er und frühen 40er Jahren durch den PPF von Jacques Doriot, eine eng mit Nazideutschland zusammenarbeitende Partei, deren Chef ein ex-kommunistischer Renegat war und 1945 in Nazideutschland starb, verwendet worden.

Eine Grundidee hinter der „Nicht links, nicht rechts“-Parole lautet, die wirkliche politische Frontlinie verlaufe nicht mehr zwischen den traditionellen Ideologien der so genannten Altparteien – die Gedankengebäude von gestern seien -, sondern zwischen den Nationalisten oder „Verteidigern der eingewurzelten Identitäten“ einerseits und den „Globalisten“ andererseits. Zu Letzteren lassen sich dann die Anhänger eines kapitalistischen Freihandelsregimes, die linken Internationalist/inn/en oder auch Verfechter/innen der Universalität der Menschenrechte hinzurechnen. Der ideologisch gefestigte harte Kern kann dann erklären, Juden, Freimaurer und/oder die Weltverschwörung bildeten das einigende Band.

In abgemilderter Form, ohne die offensichtlich braunen Erklärungsmuster – die in den 1990er Jahren beim FN noch explizit en vogue waren - mitzuliefern, hat Marine Le Pen diese Linie nach ihrer Übernahme des Parteivorsitzes 2011 übernommen. Zur Anwendung dieser Linie, die an prominenter Stelle durch ihren Vizevorsitzenden Florian Philippot durchexerziert wird, zählt insbesondere eine starke Betonung der sozialen Demagogie, da es Wähler/innen aus der Linken anzuziehen gelte, die von Hollandes Bilanz enttäuscht seien. Zur Durchsetzung der eigenen sozialen Versprechungen wird wiederum der Austritt aus dem Euro – zwecks „Erlangung finanz- und wirtschaftspolitischer Souveränität“ – durch diese Strömung als zentral betrachtet. Umgekehrt werden „moralische“ und gesellschaftspolitische Fragen, etwa die Ablehnung der Homosexuellenehe, auf diesem Flügel allenfalls als peripher betrachtet. Und dies nicht allein deswegen, weil Philippot selbst homosexuell ist und dafür auch innerparteilich angegriffen wird.

Die „Philippot-Linie“, die umso mehr mit dem Namen des jungen Vizevorsitzenden verknüpft wird, als dieser nach verlorener Wahl nun verstärkt unter Beschuss gerät, rückt nun seit Anfang dieser Woche in die Kritik. Die Vernachlässigung des reaktionären „Kulturkampfs“ bei gleichzeitiger Betonung sozialer Themen wird als schwerer Fehler dargestellt. Ein anonym bleibender Regionalverordneter des FN verweist in der Le Monde (Ausgabe vom 10. Mai) darauf, nur sieben Prozent der zwischen den beiden Durchgängen der Präsidentschaftswahl umworbenen Wähler/innen des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon, doch zwanzig Prozent jener des Konservativen François Fillon in der ersten Runde hätten in der Stichwahl Le Pen gewählt. Der Energieaufwand gegenüber Ersteren sei demzufolge weitgehend umsonst gewesen.

Zudem verweisen die innerparteilichen Kritiker/innen darauf, der Euro-Austritt mache vielen zwischen Konservativen und FN stehenden Wechselwähler/innen nach wie vor Angst – Kleinunternehmer und Renter/innen fürchten bei einer Währungsumstellung um ihre Ersparnisse -, und diese Forderung müsse relativiert werden. Die Verfechter einer stärkeren Annäherung an rechte Konservative sind ohnehin tendenziell bereit dazu, die EU- und Eurokritik hintanzustellen, und könnten auch mit einer Bezugnahme auf ein „weißes und christliches Abendland“ innerhalb des EU-Rahmens mehr oder minder gut leben. Dies wird in einer Stellungnahme des rechtsextremen Bürgermeisters von Béziers – Robert Ménard – vom 09. Mai 17 erkennbar. Er verkündete, es gelte nicht immer den Fehler in Brüssel zu suchen, wenn es in Frankreich „an Autorität mangelt“ und es „Einwanderungsprobleme“ gebe. Nicht die EU sei an den – aus einer Sicht – gravierenden Fehlentwicklungen schuld, vielmehr sei „Frankreich groß genug, eigene Dummheiten zu machen“.

Auch in anderen Reaktionen, die auf die Ankündigung von Marion Maréchal-Le Pens Rückzug hin erfolgten, deutet sich an, dass nunmehr bevorzugt die Euro-Austrittsforderung sowie einige soziale Diskurselemente unter Beschuss kommen könnten. Beispielsweise erklärte ein ungenannter „FN-Mandatsträger aus Südfrankreich“, den eine AFP-Meldung zitiert, er wolle nicht in der Partei bleiben, „um Forderungen wie die nach einem niedrigeren Rentenalter aufrecht zu erhalten oder die Idee eines Euro-Austritts innerhalb von acht Tagen zu verteidigen“.

Zu allem Überfluss ließ Marine Le Pen bereits am Wahlabend erkennen, sie strebe nunmehr eine Umbenennung der Partei an, um in Teilen der Gesellschaft noch bestehenden Vorbehalten gegenüber ihrem historischen Erbe den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Idee hatte Philippot jedoch bereits 2014 aufgebracht – und er ließ sich damals bereits einen potenziellen Namen beim Patentamt eintragen: Les Patriotes. Aufgrund massiver innerparteilicher Widerstände, die schnell mit Verrats- und Aufgabe-Vorwürfen einhergingen, wurde das Vorhaben vor dem Parteitag vom November jenes Jahres in Lyon sang- und klanglos zurückgezogen. Auch dieses Mal könnte sich verbrennen, wer dieses heiße Eisen anfasst. Jean-Marie Le Pen wetterte am 09. Mai d.J. gegen diesen neuen Versuchs eines „Verrats“ an Grundlagen und Traditionen der Partei.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Er ist eine Langfassung, dessen gekürzte Version am 10. Mai 17 beim ,Blick nach Rechts’ (BnR) publiziert wurde.