Mindestens eine
Berufsgruppe ist absolut zufrieden über den Ausgang
der ersten Runde der französischen
Präsidentschaftswahl. Die Demoskopen und
Mitarbeiter/innen von Meinungsforschungsinstituten
sind überglücklich: Ihre berufliche Reputation
wurde vorläufig gerettet, denn die Ergebnisse vom
Sonntag decken sich in ihren Grundtendenzen absolut
mit dem, was über die letzten Wochen hinweg
vorhergesagt wurde. Sie stimmen sogar in den
genaueren Prozentanteilen sehr weitgehend mit dem
überein, was am Ende der vergangenen Woche als
wahrscheinlicher Ausgang der ersten Wahlrunde
angegeben wurde. Das Geraune und Gerede über die
„Lügenpresse“, in das die
Meinungsforschungsinstitute oft gleich mit
einbezogen wurden, sowie die Spekulationen über die
vermeintliche totale Unvorhersagbarkeit der
politischen Entwicklung wurden fürs Erste
dementiert.
Aus Sicht der beiden
Präsidentschaftsbewerber, die nun in die Endrunde
kamen – Emmanuel Macron mit 24 und Marine Le Pen
mit 21,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, bei einer
Wahlenthaltung in Höhe von rund 23 Prozent – stellt
die nunmehr eingetretene Konstellation jeweils die
günstigste da. Beide halten die
politisch-ideologische Konfiguration für optimal.
Aus Sicht des Liberalen Emmanuel Macron stellt sie
die Kräfte der „offenen Gesellschaft“, zu der die
Bewegungsfreiheit des Kapitals und der Abbau von
„Barrieren“ wie Arbeitsrecht oder „starren
Regelungen“ ebenso wie eine gewisse interkulturelle
Toleranz gehören, denen des Rückzugs auf nationale
Grenzen gegenüber.
Allerdings tritt Macron - neben einem Plädoyer für
multikulturelles Zusammenleben - in seinem Programm
auch für eine Verstärkung der Außengrenzen der
Europäischen Union ein, wofür unter anderem 5.000
Grenzpolizisten speziell rekrutiert werden sollen.
Macrons Kernwählerschaft besteht aus Menschen, die
ihre Eramus-Studienerfahrungen für den Inbegriff
des weltweiten Prozesses der kapitalistischen
„Globalisierung“ halten, aus Jungunternehmern und
Start Up-Gründern, aber auch aus Personen, die ihre
politische Meinung aus dem Fernsehen und der
Lektüre der Regenbogenpresse beziehen. Vor allem
der Letzteren ist es zu verdanken, dass Emmanuel
Macron im letzten starken halben Jahr über 75
Titelseiten an den Zeitungskiosken schmückte.
Selten ging es dabei um politischen Inhalt, doch
seine mediale Präsenz war dadurch stetig
gewährleistet. Spekulationen über Emmanuel Macrons
Familienleben und die Ehe des 39jährigen mit der
63jährigen Brigitte Macron – und, unterschwellig,
über die immer wieder gemutmaßte Homosexualität des
früheren Investmentbänkers – bieten immer wieder
einen Anlass für ausführliche Bildberichte und
Fotostrecken. Emmanuel Macron erscheint dabei in
vielen Augen als eine Art idealer Schwiegersohn,
dessen wahrscheinliches Schwulsein mit einem
wohligen Schauer über den Rücken goutiert wird, und
muss nicht allzu sehr über seine politischen
Inhalte reden. Doch auch die haben es in sich.
Macron kündigt unter anderem an, „das Arbeitsrecht
auf dem Verordnungsweg“ – statt über Gesetze –
„reformieren zu wollen“, und fordert die
Gewerkschaften nachdrücklich dazu auf, sich auf
Betriebspolitik und Vertragsschlüsse in den
einzelnen Unternehmen zu konzentrieren, also die
Finger von Flächenverträgen und
gesamtgesellschaflichen Vereinbarungen zu lassen.
Vor allem die Ankündigung, solch entscheidende
Fragen per Verordnung zu regeln, kündigt eine
Potenzierung des Reformterrors an, der im Jahr 2016
von Seiten einer Regierung, welcher er angehörte,
mit den Begriffen „Arbeitsgesetz“ und
„Verfassungsartikel 49-3“ verbunden war. Letzterer
erlaubt es, einen Gesetzestext durch das Parlament
zu drücken, ohne dass die Abgeordneten inhaltlich
darüber diskutieren. Der Verordnungsweg würde das
Gesetzgebungsverfahren ganz einsparen. In anderem
Zusammenhang erklärte Macron zu Jahresbeginn, als
der studierte Philosoph sich in etwas verquaster
Weise über die transzendentale Dimension von
Politik und über Christusvergleiche – die
dimension christique des Berufspolitikers –
ausließ: „Ich stehe zu dieser Vertikalität der
politischen Macht.“ Dies bedeutet so viel wie, dass
alles Gute von oben kommt, besonders wenn es gilt,
das Volk mit Reformterror zu beglücken.
Auch aus Sicht von
Marine Le Pen ist die Konstellation optimal. Aus
ihrer Sicht wiederum – die einfach die Vorzeichen
gegenüber der Wahrnehmung der Macron-Anhänger
umkehrt - stellt sie die Kräfte einer
zerstörerischen Globalisierung und seelen-, da
grenzenlosen Welt denen des „eingewurzelten
Patriotismus“ und der unterschiedlichen nationalen
Identitäten entgegen. Dass Marine Le Pen in den
Umfragen der letzten zwei Wochen vor der Wahl, und
in den Stimmergebnissen selbst, auf den zweiten
statt wie ursprünglich erwartet auf den ersten
Platz kam, hängt mit einer gewissen Abnutzung ihrer
Wahlkampagne zusammen. Vor allem aber bekam es ihr
nicht gar zu gut, dass sie am 09. April 17 die
historische Verantwortung Frankreichs für die
„Razzia vom Velodrome d’Hiver“ – eine
Massenverhaftung von 13.000 Juden im Juli 1942
durch französische Polizeikräfte unter der
nazideutschen Besatzung – in einem Fernsehinterview
abstritt.
Zwar wiederholte sie damit theoretisch nur einen
Kernsatz der Doktrin des historischen Gaullismus,
der zufolge „Vichy nicht Frankreich war“, sondern
eine Art Fremdkörper in der Nation darstellte;
Charles de Gaulle hätte hinzugefügt, dass das wahre
Frankreich ja ab 1940 in London saß. Nicolas
Sarkozys Redenschreiber ab 2007, Henri Guaino, der
sich in seinem Grö
ßenwahnsinn für einen Wiedergänger der Seele de
Gaulles oder seines Kulturministers André Malraux
hält, gab zwar Marine Le Pen öffentlich darin
Recht. Doch in den Augen der breiten Öffentlichkeit
hat es den Front National in gewisser Weise
re-nazifiert, dass er das Thema der
Nazikollaboration anspricht, da die offenen
Sympathien zu Zeiten des früheren Parteichefs
Jean-Marie Le Pen nur notdürftig zugedeckt wurden.
Entscheidend wird nun sein, wie sich das Potenzial
der unterlegenen Kandidaten aufteilen wird. Am
Abend des ersten Wahlsonntags erklärten sich 48
Prozent des mit 19,9 Prozent gescheiterten
konservativen Kandidaten François Fillon bereit, in
der Stichwahlrunde für Macron zu stimmen, 33
Prozent wollen jedoch für Le Pen stimmen. Fillon
selbst rief zur Wahl Emmanuel Macrons auf, die
rechtskatholische Ex-Ministerin der Sarkozy-Ära
Christine Boutin etwa tendiert explizit zu Le Pen.
Im Lager des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon –
er wurde mit 19,6 Prozent Vierter – tendieren 62
Prozent der Wählerinnen zu Macron, nur neun Prozent
zu Le Pen. Allerdings gibt es in der
Arbeiterwählerschaft Mélenchons stärkere
Widerstände gegen eine Unterstützung für den
wirtschaftsliberalen Kandidaten Emmanuel Macron.
Erstmals erklärte am Montag eine vermeintlich linke
Stimme, die neostalinistische Webseite
Canempechepasnicolas – die bislang Mélenchon
„kritisch unterstützte“, ihm jedoch einen
mangelnden EU-Austrittswillen vorwarf – Macron zum
größeren und Le Pen zum kleineren Übel.
Editorische Hinweise: Wir erhielten diesen
Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine gekürzte
Fassung erschien in der Wochenzeitung ,Jungle
World’ vom 27. April 17
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