Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl
Ein allgemeiner Überblick
 

5-6/2017

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Mindestens eine Berufsgruppe ist absolut zufrieden über den Ausgang der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl. Die Demoskopen und Mitarbeiter/innen von Meinungsforschungsinstituten sind überglücklich: Ihre berufliche Reputation wurde vorläufig gerettet, denn die Ergebnisse vom Sonntag decken sich in ihren Grundtendenzen absolut mit dem, was über die letzten Wochen hinweg vorhergesagt wurde. Sie stimmen sogar in den genaueren Prozentanteilen sehr weitgehend mit dem überein, was am Ende der vergangenen Woche als wahrscheinlicher Ausgang der ersten Wahlrunde angegeben wurde. Das Geraune und Gerede über die „Lügenpresse“, in das die Meinungsforschungsinstitute oft gleich mit einbezogen wurden, sowie die Spekulationen über die vermeintliche totale Unvorhersagbarkeit der politischen Entwicklung wurden fürs Erste dementiert.

Aus Sicht der beiden Präsidentschaftsbewerber, die nun in die Endrunde kamen – Emmanuel Macron mit 24 und Marine Le Pen mit 21,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, bei einer Wahlenthaltung in Höhe von rund 23 Prozent – stellt die nunmehr eingetretene Konstellation jeweils die günstigste da. Beide halten die politisch-ideologische Konfiguration für optimal. Aus Sicht des Liberalen Emmanuel Macron stellt sie die Kräfte der „offenen Gesellschaft“, zu der die Bewegungsfreiheit des Kapitals und der Abbau von „Barrieren“ wie Arbeitsrecht oder „starren Regelungen“ ebenso wie eine gewisse interkulturelle Toleranz gehören, denen des Rückzugs auf nationale Grenzen gegenüber.

Allerdings tritt Macron - neben einem Plädoyer für multikulturelles Zusammenleben - in seinem Programm auch für eine Verstärkung der Außengrenzen der Europäischen Union ein, wofür unter anderem 5.000 Grenzpolizisten speziell rekrutiert werden sollen. Macrons Kernwählerschaft besteht aus Menschen, die ihre Eramus-Studienerfahrungen für den Inbegriff des weltweiten Prozesses der kapitalistischen „Globalisierung“ halten, aus Jungunternehmern und Start Up-Gründern, aber auch aus Personen, die ihre politische Meinung aus dem Fernsehen und der Lektüre der Regenbogenpresse beziehen. Vor allem der Letzteren ist es zu verdanken, dass Emmanuel Macron im letzten starken halben Jahr über 75 Titelseiten an den Zeitungskiosken schmückte.

Selten ging es dabei um politischen Inhalt, doch seine mediale Präsenz war dadurch stetig gewährleistet. Spekulationen über Emmanuel Macrons Familienleben und die Ehe des 39jährigen mit der 63jährigen Brigitte Macron – und, unterschwellig, über die immer wieder gemutmaßte Homosexualität des früheren Investmentbänkers – bieten immer wieder einen Anlass für ausführliche Bildberichte und Fotostrecken. Emmanuel Macron erscheint dabei in vielen Augen als eine Art idealer Schwiegersohn, dessen wahrscheinliches Schwulsein mit einem wohligen Schauer über den Rücken goutiert wird, und muss nicht allzu sehr über seine politischen Inhalte reden. Doch auch die haben es in sich.

Macron kündigt unter anderem an, „das Arbeitsrecht auf dem Verordnungsweg“ – statt über Gesetze – „reformieren zu wollen“, und fordert die Gewerkschaften nachdrücklich dazu auf, sich auf Betriebspolitik und Vertragsschlüsse in den einzelnen Unternehmen zu konzentrieren, also die Finger von Flächenverträgen und gesamtgesellschaflichen Vereinbarungen zu lassen. Vor allem die Ankündigung, solch entscheidende Fragen per Verordnung zu regeln, kündigt eine Potenzierung des Reformterrors an, der im Jahr 2016 von Seiten einer Regierung, welcher er angehörte, mit den Begriffen „Arbeitsgesetz“ und „Verfassungsartikel 49-3“ verbunden war. Letzterer erlaubt es, einen Gesetzestext durch das Parlament zu drücken, ohne dass die Abgeordneten inhaltlich darüber diskutieren. Der Verordnungsweg würde das Gesetzgebungsverfahren ganz einsparen. In anderem Zusammenhang erklärte Macron zu Jahresbeginn, als der studierte Philosoph sich in etwas verquaster Weise über die transzendentale Dimension von Politik und über Christusvergleiche – die dimension christique des Berufspolitikers – ausließ: „Ich stehe zu dieser Vertikalität der politischen Macht.“ Dies bedeutet so viel wie, dass alles Gute von oben kommt, besonders wenn es gilt, das Volk mit Reformterror zu beglücken.

Auch aus Sicht von Marine Le Pen ist die Konstellation optimal. Aus ihrer Sicht wiederum – die einfach die Vorzeichen gegenüber der Wahrnehmung der Macron-Anhänger umkehrt - stellt sie die Kräfte einer zerstörerischen Globalisierung und seelen-, da grenzenlosen Welt denen des „eingewurzelten Patriotismus“ und der unterschiedlichen nationalen Identitäten entgegen. Dass Marine Le Pen in den Umfragen der letzten zwei Wochen vor der Wahl, und in den Stimmergebnissen selbst, auf den zweiten statt wie ursprünglich erwartet auf den ersten Platz kam, hängt mit einer gewissen Abnutzung ihrer Wahlkampagne zusammen. Vor allem aber bekam es ihr nicht gar zu gut, dass sie am 09. April 17 die historische Verantwortung Frankreichs für die „Razzia vom Velodrome d’Hiver“ – eine Massenverhaftung von 13.000 Juden im Juli 1942 durch französische Polizeikräfte unter der nazideutschen Besatzung – in einem Fernsehinterview abstritt.

Zwar wiederholte sie damit theoretisch nur einen Kernsatz der Doktrin des historischen Gaullismus, der zufolge „Vichy nicht Frankreich war“, sondern eine Art Fremdkörper in der Nation darstellte; Charles de Gaulle hätte hinzugefügt, dass das wahre Frankreich ja ab 1940 in London saß. Nicolas Sarkozys Redenschreiber ab 2007, Henri Guaino, der sich in seinem Grö ßenwahnsinn für einen Wiedergänger der Seele de Gaulles oder seines Kulturministers André Malraux hält, gab zwar Marine Le Pen öffentlich darin Recht. Doch in den Augen der breiten Öffentlichkeit hat es den Front National in gewisser Weise re-nazifiert, dass er das Thema der Nazikollaboration anspricht, da die offenen Sympathien zu Zeiten des früheren Parteichefs Jean-Marie Le Pen nur notdürftig zugedeckt wurden.

Entscheidend wird nun sein, wie sich das Potenzial der unterlegenen Kandidaten aufteilen wird. Am Abend des ersten Wahlsonntags erklärten sich 48 Prozent des mit 19,9 Prozent gescheiterten konservativen Kandidaten François Fillon bereit, in der Stichwahlrunde für Macron zu stimmen, 33 Prozent wollen jedoch für Le Pen stimmen. Fillon selbst rief zur Wahl Emmanuel Macrons auf, die rechtskatholische Ex-Ministerin der Sarkozy-Ära Christine Boutin etwa tendiert explizit zu Le Pen. Im Lager des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon – er wurde mit 19,6 Prozent Vierter – tendieren 62 Prozent der Wählerinnen zu Macron, nur neun Prozent zu Le Pen. Allerdings gibt es in der Arbeiterwählerschaft Mélenchons stärkere Widerstände gegen eine Unterstützung für den wirtschaftsliberalen Kandidaten Emmanuel Macron. Erstmals erklärte am Montag eine vermeintlich linke Stimme, die neostalinistische Webseite Canempechepasnicolas – die bislang Mélenchon „kritisch unterstützte“, ihm jedoch einen mangelnden EU-Austrittswillen vorwarf – Macron zum größeren und Le Pen zum kleineren Übel.

Editorische Hinweise: Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine gekürzte Fassung erschien in der Wochenzeitung ,Jungle World’ vom 27. April 17