Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl
Zum Abschneiden des Front National (FN) in der ersten Runde

Artikel vom 25. April 2017

5-6/2017

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Wer kurz nach dem ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl vom Sonntag, den 23. April geglaubt haben sollte, diese Wahl sei nunmehr gelaufen, irrt. Viele dachten tatsächlich daran, der in gesellschaftspolitischen Fragen linksliberal und in ökonomischen Fragen marktradikal auftretende frühere Minister Emmanuel Macron habe das Rennen bereits gewonnen: Seine rechtsextreme Gegenkandidatin Marine Le Pen könne nicht siegen. Macron erhielt in der ersten Runde laut Endergebnis 24,0 Prozent und Le Pen 21,3 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bisherigen Umfragen zufolge liegen die Stimmblöcke in der zweiten Runde voraussichtlich bei rund sechzig Prozent (Macron) und rund vierzig Prozent. Doch nichts ist garantiert.

Dass die Chefin des Front National (FN) doch noch gewinnt – es ist auch tatsächlich „unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich“, wie vorsichtige Kommentatorinnen und Kommentaren nunmehr formulieren. Am 26. April 17 zitiert die Webseite der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt France télévisions etwa den Politologen Serge Galam; er hatte im Sommer 2016 den späteren Wahlsieg von Donald Trump richtig vorausgesagt. Ihm zufolge ist ein Wahlsieg Marine Le Pens zwar kein wahrscheinliches Szenario, doch dann möglich, wenn die Wahlenthaltung unter den potenziellen Wählerinnen und Wählern Emmanuel Macrons erheblich stärker ausfällt als unter denen Marine Le Pens.

Tatsächlich wird die Enthaltung auf Seiten der Le Pen-Anhänger/innen ihm zufolge geringer ausfällen, denn ihre Wählerschaft ist motiviert, die Dinge in ihrem Sinne zu ändern. Macrons potenzielle Wählerschaft ist stärker mit den momentanen sozialen und politischen Gegebenheiten zufrieden, und überdies votierte bereits ein Teil der Wählerinnen und Wähler Emmanuel Macrons im ersten Wahlgang ausgesprochen taktisch. Bis weit nach links hin gaben viele Menschen Macron ihre Stimme, um den aussichtsreichsten Bewerber gegen Le Pen vor der Stichwahl möglichst gut platziert zu sehen. Die Identifikation mit dem Kandidaten ist jedenfalls bei diesen taktisch motivierten Stimmgebern jedoch eher gering oder sogar ausgesprochen niedrig. Und wenn sie nicht überzeugt davon sind, dass wirklich Gefahr droht, könnten manche von ihnen dann der Stichwahl fern bleiben.

Hinzu kommen Faktoren, wie sie durch die französisch-amerikanische Zeitung Huffington Post zitiert werden : Ihr zufolge spielt etwa das lange Wochenende, in dessen Mitte der zweite Wahlsonntag fällt, eher Marine Le Pen denn Emmanuel Macron in die Hände. Der 8. Mai, der in diesem Jahr auf den Montag nach der Stichwahl fällt, ist in Frankreich ein gesetzlicher Feiertag. Und zwar in Erinnerung an den 8. Mai 1945. Es bleibt nur zu hoffen, dass nicht ausgerechnet am Vorabend dieses Jahrestages die Erbin einer neofaschistischen Partei die Präsidentschaftswahl gewinnt. Allerdings erklärt der Demoskop Brice Teinturier seinerseits im Wochenmagazin L’Obs, Marine Le Pen könne strukturell „nicht gewinnen“, die Hürde einer absoluten Mehrheit liege mit ihrem Profil definitiv zu hoch.

Bislang wird Marine Le Pen in der öffentlichen Meinung attestiert, sie habe einen guten Beginn ihrer Stichwahlkampagne – also des Wahlkampfs in den 14 Tagen zwischen den beiden Durchgängen – hingelegt. Am Mittwoch, den 26. April d.J. publizierte das Meinungsforschungsinstitut Harris Interactive eine Umfrage dazu, die im Auftrag von Radio Monte Carlo (RMC) und der Zeitschrit Atlantico erstellt wurde. Ihr zufolge erklären 61 Prozent der Befragten, Le Pen habe einen guten Wahlkampf-Neustart nach der ersten Runde hingelegt. Zu dessen bisherigen Höhepunkten zählte ein längerer TV-Auftritt im ersten Kanal des französischen Fernsehens – bei TF1 – am Abend des 25. April 17. Hingegen halten 52 Prozent den Neustart Macron nach der ersten Wahlrunde für verpatzt.

Am Montag (24. April) war Emmanuel Macron zunächst in eine Polemik darüber verwickelt worden, ob er nicht seine Wahlnacht am Vorabend an einem zu luxuriösen Ort – dem Etablissement La Rotonde im sechsten Pariser Bezirk – verbracht habe. Manchen Beobachter fühlten sich an Nicolas Sarkozy erinnert, der im Mai 2007 seinen Wahlsieg in der Stichwahl um die Präsidentschaft im Nobelrestaurant Fouquet’s auf den Champs-Elysées (das allerdings noch deutlich teurer und exklusiver ist) zusammen mit Milliardären und Börsengrößen feierte. Dies hatte damals bereits den ersten Kratzer am Image Sarkozys gebildet, der in den folgenden Monaten zudem als neureicher Parvenu und Angeber betrachtet wurde und dessen Popularität schnell verfiel, betrachtet. Einige führende Journalisten fühlten sich daraufhin berufen, die Dinge zurechtzurücken und Macrons Wahlabend auf verschiedenen Kanälen als weitaus bescheidener als jene berühmt gewordenen Fouquet’s-Nacht zu beschreiben.

Tendenziell ist die soziale Zusammensetzung der beiden Wählerschaften – jener Macrons und jener Le Pens im ersten Wahlgang – fast genau umgekehrt. Je geringer das Einkommen und/oder der Bildungsstand ausfallen, desto stärker wächst der Anteil für Marine Le Pen. Die Zahlen variieren; denen der Tageszeitung Libération (25. April) zufolge wurde die FN-Chefin überdurchschnittlich bei den Industriearbeitern mit 37 Prozent, den unteren Angestellten mit 32 Prozent sowie den Erwerbslosen mit 27 Prozent gewählt. Die Zahlen beziehen sich natürlich jeweils auf den Teil der sozialen Gruppe, der überhaupt zur Wahl ging und sich nicht der Stimme enthielt. In führender Position, d.h. als stärkste Einzelkandidatin schnitt Marine Le Pen demnach in den Altersgruppen zwischen 35 und 49 Jahren (mit 29 %) sowie zwischen 50 und 59 Jahren (mit 27 % der Stimmen) ab, also tendenziell bei den Berufstätigen. Die sehr jungen Generationen stimmten dagegen in schwächerem Ausmaß für Marine Le Pen; bei den 18- bis 24jährigen waren es demnach 21 Prozent, womit Marine Le Pen hinter dem Linkssozialdemokraten und Linksnationalisten Jean-Luc Mélenchon (jedoch vor Macron) liegt, und bei der 25- bis 34jährigen waren es 24 Prozent.

Die Rentnerinnen und Rentner wählten hingegen weit unterdurchschnittlich Marine Le Pen – zu knapp zehn Prozent – und dafür überdurchschnittlich den Konservativen François Fillon: Rechte Tendenzen kamen in dieser Altersgruppe nicht dem FN zugute, weil dessen Forderung nach einem Euro-Austritt viele Pensionierte um ihre Ersparnisse fürchten lässt.

In Bezug auf die Geographie lässt sich nahezu eine gerade Linie quer durch das Land ziehen: Im Nordosten, Osten und Südosten Frankreichs wurde Marine Le Pen in vielen Départements (Verwaltungsbezirken) die stärkste Kandidatin in der erste Runde. Dagegen war dies, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast nirgendwo westlich einer Linie Le Havre / Marseille der Fall. Die Ursachenforschung dafür fällt relativ leicht: Die industriellen Krisenzonen Frankreichs liegen alle im Osten und im Nordosten. Dagegen hat die Stärke des FN in Südostfrankreich andere Ursachen und baut auf einer anderen sozialen Basis auf; hier spielt vor allem die Präsenz der Pieds Noirs oder früheren Algeriensiedler an der französischen Mittelmeerküste, die eine Art Vertriebenenmilieu bilden, eine wichtige Rolle. Westfrankreich war dagegen lange von ländlichen Sozialbeziehungen und einer starken religiösen Praxis geprägt. Hier bleibt ein konservatives Milieu stark verankert, verweigert sich jedoch dem Front National. Neu hingegen ist der Durchbruch Marine Le Pens in manchen Regionen, in denen der FN bislang eine periphere Rolle spielte. Etwa auf Korsika, dort wird Le Pen stärkste Einzelkandidatin, oder in „Überseegebieten“ wie Französisch-Guyana (dort allerdings vor dem Hintergrund einer starken Enthaltung).

Aus Sicht von Marine Le Pen ist die Konstellation in der Stichwahl ideologisch optimal. Aus ihrer Sicht – die einfach die Vorzeichen gegenüber der Wahrnehmung der Macron-Anhänger umkehrt, denen zufolge es sich um eine Gegenüberstellung von „offener Gesellschaft“ und „nationalem Rückzug“ handelt - stellt sie die Kräfte einer zerstörerischen Globalisierung und seelen-, da grenzenlosen Welt denen des „eingewurzelten Patriotismus“ und der unterschiedlichen nationalen Identitäten entgegen.

Dass Marine Le Pen in den Umfragen der letzten zwei Wochen vor der Wahl, und in den Stimmergebnissen selbst, auf den zweiten statt wie ursprünglich erwartet auf den ersten Platz kam, hängt mit einer gewissen Abnutzung ihrer Wahlkampagne zusammen. Vor allem aber bekam es ihr nicht gar zu gut, dass sie am Sonntag, den 09. April 17 die historische Verantwortung Frankreichs für die „Razzia vom Velodrome d’Hiver“ – eine Massenverhaftung von 13.000 Juden im Juli 1942 durch französische Polizeikräfte unter der nazideutschen Besatzung – in einem Fernsehinterview abstritt.

Zwar wiederholte sie damit theoretisch nur einen Kernsatz der Doktrin des historischen Gaullismus, der zufolge „Vichy nicht Frankreich war“, sondern eine Art Fremdkörper in der Nation darstellte; Charles de Gaulle hätte hinzugefügt, dass das wahre Frankreich ja ab 1940 in London saß. Nicolas Sarkozys Redenschreiber ab 2007, Henri Guaino, der sich in seinem Größenwahnsinn für einen Wiedergänger der Seele de Gaulles oder seines Kulturministers André Malraux hält, gab zwar Marine Le Pen öffentlich darin Recht. Doch in den Augen der breiten Öffentlichkeit hat es den Front National in gewisser Weise re-nazifiert, dass er das Thema der Nazikollaboration anspricht, da die offenen Sympathien zu Zeiten des früheren Parteichefs Jean-Marie Le Pen nur notdürftig zugedeckt wurden.

Entscheidend wird nun sein, wie sich das Potenzial der unterlegenen Kandidaten aufteilen wird. Am Abend des ersten Wahlsonntags erklärten sich 48 Prozent des mit 20 Prozent gescheiterten konservativen Kandidaten François Fillon bereit, in der Stichwahlrunde für Macron zu stimmen, 33 Prozent wollen jedoch für Le Pen stimmen.

Fillon selbst rief zur Wahl Emmanuel Macrons auf, die rechtskatholische Ex-Ministerin der Sarkozy-Ära (2007 bis 2012) Christine Boutin etwa tendiert explizit zu Marine Le Pen. Ihr wurde allerdings ein Dämpfer vom FN-Vizevorsitzenden Florian Philippot verpasst: Der junge Politiker – dessen Homosexualität bekannt ist – zeigte sich in einem Radiointerview am 24. April 17 wenig von der 2016 wegen homophober Äußerungen gerichtlich verurteilten religiösen Fanatikerin Boutin angetan. Er wollte sie denn auch nicht als „Unterstützerin“ bezeichnet wissen, sondern stufte sie nur als „eine Wählerin neben anderen“ ein. Christine Boutin bleibt allerdings bei ihrer Orientierung, da sie ja nicht für Le Pen stimme, sondern „gegen Macron“ als „besonders familienzerstörerischen Politiker“, unter Anspielung auf dessen oft unterstellte Homosexualität. Auch die organisierte Reststruktur aus der Bewegung gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare (2013), La Manif pour tous oder „die Demo für alle“ positionierte sich ähnlich. Ihre Sprechering Ludovine de la Rochère forderte ihre Anhängerinnen und Anhänger dazu auf, im Sinne einer „Verhinderung Macrons“ zu wählen.

Die weniger religiöse, doch für rassistische Aussprüche – etwa ihre Forderung zur „Verteidigung der weißen Rasse“ – bekannte konservative Ex-Ministerin Nadine Morano polterte empört gegen den Aufruf ihres vomaligen Präsidentschaftskandidaten Fillon (und anderer konservativer Spitzenpolitiker) zur Macron-Wahl drauf los.

Im Lager des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon – er wurde mit 19,6 Prozent Vierter – tendieren laut Zahlen von Le Monde 62 Prozent der Wählerinnen zu Macron, nur neun Prozent zu Le Pen. Allerdings gibt es in der Arbeiterwählerschaft Mélenchons stärkere Widerstände gegen eine Unterstützung für den wirtschaftsliberalen Kandidaten Emmanuel Macron. Der gescheiterte Kandidat Mélenchon selbst weigerte sich bislang, eine Stimmempfehlung abzugeben. Er begnügte sich seit dem Wahlabend mit dem Hinweis, 450.000 Personen, die sich auf seiner Webseite als Unterstützerinnen und Unterstützer registrierten, dürften nun ihre Meinung äußern. Auf elektronischem Wege solle sie über die vorhandenen Optionen abstimmen – einen Wahlaufruf zugunsten Macrons, einen Appell zur Enthaltung, zum Ungültigstimmen oder gar keine Aussage. Nur eine Unterstützung Le Pens wird nicht in Betracht gezogen. Das Ergebnis will die Umgebung Mélenchons nicht vor dem Freitag, 28. April bekannt geben. Unterdessen verkündete Mélenchon allerdings bereits am Mittwoch Mittag (26. April), er werde nicht verraten, ob bzw. für wen er im zweiten Wahlgang abstimme.

Erstmals erklärte am 24. April eine vermeintlich linke Stimme, die neostalinistische Webseite Canempechepasnicolas – die bislang Mélenchon „kritisch unterstützte“, ihm jedoch einen mangelnden EU-Austrittswillen vorwarf – Macron zum größeren und Le Pen zum kleineren Übel.

Marine Le Pen und der FN buhlen ihrerseits nunmehr auf betonte Weise um die vormaligen Mélenchon-Wähler. Aus der rechtsextremen Partei wurde dazu ein eigenes Flugblatt in Umlauf gebracht, das die vermeintlichen „gemeinsamen Punkte“ zwischen beiden Kandidaten – wie sozialpolitische Formulierungen oder die Forderung nach NATO-Austritt – unterstreicht. Auch Philippot strich den Wählerinnen und Wählern des Linkskandidaten in seinem Rundfunkinterview erkennbar Honig um den Mund.

Entscheidende Bedeutung wird nun sicherlich noch der Fernsehdebatte zwischen den beiden übriggebliebenen Präsidentschaftsbewerbern, Macron und Le Pen, am 03. Mai 17 zukommen.

Editorische Hinweise: Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.