Frankreich: Linke Intellektuelle laufen ins gegnerische Lager über
Ein CIA-Forschungsbericht vom Office of European Analysis

Deutsche Erstübersetzung von Andrea Eismann

5-6/2017

trend
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Vorbemerkung: Wie im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb der Hochschulmarxismus deformiert wurde, um das in Folge von 1968 unter Student*innen aufgetretene Interesse am wissenschaftlichen Sozialismus zu delegitimieren, hat der CIA in den 1980er Jahren am Beispiel Frankreichs mit Interesse verfolgt. Auf den Internetseiten des CIA findet sich ein "Forschungsbericht" aus dieser Zeit, in dem es weise vorausschauend heißt:

"In der Anthropologie hat die einflussreiche strukturalistische Schule, zu der Claude Levi-Strauss, Foucault und andere gehören, praktisch die gleiche Mission erfüllt. Auch wenn der Strukturalismus und die Annales-Schule mit ihrer Methodik derzeit noch einen schweren Stand haben (Kritiker werfen ihnen vor, sie seien viel zu kompliziert, um von Uneingeweihten verstanden zu werden), gehen wir davon aus, dass sich deren kritische Demontage der marxistischen Einflussnahme auf die Dauer als wichtiger Beitrag zur Modernisierung der Sozialwissenschaften in Frankreich und anderswo in Westeuropa durchsetzen wird."

Und im Hinblick auf die praktisch politischen Auswirkungen für diesen, sich in den 1980er Jahren andeutenden Paradigmenwechsel, stellte der CIA fest:

"In einer kürzlich durchgeführten Umfrage haben prominente Autoren angegeben, dass sie bereit wären, das für linke Intellektuelle einst charakteristische Engagement wieder aufzunehmen – aber dass sie nicht daran dachten, für eine Partei oder eine Ideologie mobil zu machen."

Wir baten Andrea Eismann, den CIA-Bericht ins Deutsche zu übersetzen, um deutschen Linken ein wenig ihre politische Unschuld zu nehmen, wenn sie uns weismachen, dass der historische und dialektische Materialismus schwer reparaturbedürftig wären, und sich dabei auf ideologisch auf Foucault, Althusser und Co. sowie jüngstens auf Eribon stützen. / red. trend

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Der vorliegende Bericht wurde erstellt von …, Office of European Analysis. Kommentare und Nachfragen sind ausdrücklich erwünscht und werden an den Vorsitzenden, Central Mediterranean Branch, EURA, …, gerichtet.

Eingrenzung des Themas

Im politischen Leben Frankreichs spielen Intellektuelle traditionellerweise eine wichtige Rolle. Sie unternehmen zwar nur selten den Versuch, einen direkten Einfluss auf die Formulierung politischer Programme auszuüben, aber sie bestimmen das Klima, in dem Politik gemacht wird und treten immer wieder als wichtige Gestalter politischer und ideologischer Trends in Erscheinung, die der französischen Politik die Richtung weisen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich deren Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung nur schwer bemessen lässt, konzentriert sich der vorliegende Bericht auf den Stimmungswandel unter den französischen Intellektuellen und nimmt eine Einschätzung der wahrscheinlichen Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen vor, unter denen Politik gemacht wird.

Grundsätzliche Einschätzung der Lage

In den vorliegenden Bericht sind Informationen eingeflossen, die seit dem 15. November 1985 zur Verfügung stehen.

In Frankreich herrscht ein neues geistiges Klima – ein antimarxistisches und antisowjetisches Klima, das einer Mobilisierung für eine ernstzunehmende intellektuelle Opposition gegen die US-Politik ernsthafte Schwierigkeiten bereiten wird. Genauso unwahrscheinlich ist, dass französische Intellektuelle sich wie bisher auf die Seite ihrer Kollegen aus anderen westeuropäischen Ländern stellen, die in wichtigen Fragen wie etwa der Abrüstung eine antiamerikanische Haltung haben. Auch wenn in Frankreich die US-Politik zu keinem Zeitpunkt gegen Kritik immun gewesen sein dürfte, ist ganz eindeutig die Sowjetunion im Ansehen der Intellektuellen der Neuen Linken in die Defensive geraten – und daran wird sich wahrscheinlich auch mittelfristig nichts ändern. So lässt sich Präsident Mitterands merklich abgekühltes Verhältnis zu Moskau zumindest teilweise auf diese Grundstimmung zurückzuführen.

Darüber hinaus wird mit Mitterrands Scheitern, die dringend benötigte Unterstützung der in Frankreich traditionell einflussreichen linken Intellektuellen zu gewinnen, eine historische Wende sichtbar, die Vorbote für eine neue Rolle der Intelligenzija sein könnte. Mitterrand und die Sozialistische Partei können sich nicht mehr darauf verlassen, dass Intellektuelle eine Begründung ihrer Politik liefern und diese Begründung an eine Öffentlichkeit verkaufen, die üblicherweise einen hohen Wert auf die Erläuterung politischer Programme durch ihre Geisteseliten legt.

Mitterands politisches Versagen und sein kurzlebiges Bündnis mit den Kommunisten dürfte die Unzufriedenheit mit seiner Regierung forciert haben, aber schon seit mindestens den frühen 1970ern distanzieren sich linke Intellektuelle vom Sozialismus – d.h., von der Partei wie auch von der Ideologie. Unter Führung einer Gruppe junger exkommunistischer Renegaten, die sich als „Neue Philosophen“ anpreisen, haben einige Intellektuelle der Neuen Linken den Marxismus verworfen und eine tief sitzende Antipathie für die Sowjetunion entwickelt. Eigentlich lässt sich sagen, dass in linken Kreisen der Antisowjetismus zum Prüfstein der politischen Glaubwürdigkeit geworden ist. Diese antisowjetische Stimmung schwächt den traditionellen Antiamerikanismus linker Intellektueller und hat ermöglicht, dass die US-amerikanische Kultur – und sogar US-amerikanische Politik und Wirtschaftspolitik – neuerdings auf Beliebtheit stoßen.

Die breite Annahme einer kritischeren Sicht auf den Marxismus und die Sowjetunion wird von einem allgemeinen Niedergang des französischen Geisteslebens begleitet, der das politische Engagement linker Intellektueller schwächt. Ihre Bereitschaft, für eine Sache Partei zu ergreifen, mag zwar deutlich nachgelassen haben, aber wir gehen davon aus, dass Intellektuelle der Neuen Linken sich an zwei Konfliktlinien meinungsstark einbringen werden:

  • Sie werden gemäßigte Sozialisten unterstützen, die ein breit aufgestelltes Mitte-Links-Bündnis anstreben.

  • Sie werden gegen sämtliche Versuche sozialistischer Hardliner vorgehen, die zerschlagene „Einheit der Linken“ mit der Kommunistischen Partei Frankreichs in den anstehenden Parlamentswahlen wiederherzustellen.

Die Aktivitäten der Neuen Linken werden voraussichtlich zu zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen den zwei linken Parteien und innerhalb der Sozialistischen Partei führen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch zu einer verstärkten Wählerabwanderung aus dem sozialistischen und kommunistischen Lager.

Inhalt

  • Eingrenzung des Themas
  • Grundsätzliche Einschätzung der Lage
  • Einführung
  • Eine traditionsreiche Rolle
  • Eine historische Wende: Das „laute“ Schweigen der Linksintellektuellen
    • Die „Neuen Philosophen“
    • „Es gibt keinen Sartre und keinen Gide mehr.“
  • Die Ursachen des Lagerwechsels
    • Der Bankrott der marxistischen Ideologie
    • Antisowjetismus.
  • Die Perspektiven für den Einfluss der Intellektuellen
    • Geistige Verödung
    • Eingeschränkte Wiederaufnahme des politischen Engagements
  • Französische Intellektuelle und US-Interessen
  • Appendix A
    • Kulturelle Aspekte im Denken der Neuen Rechten
  • Appendix B
    • Wichtige Bücher von Glucksmann und Levy

Einführung

Im Geistesleben dieses Landes herrscht eine Lethargie, die wirklich eindrucksvoll ist. Nie zuvor bin ich auf ein derartiges Schweigen, auf eine derartige Leere gestoßen. Es ist wie in einer Familie, in der jemand verstorben ist.

Alain Touraine

In Frankreich dürften Intellektuelle wohl eine größere Rolle als in allen anderen westlichen Demokratien spielen. Traditionellerweise kommt ihnen in der französischen Politik eine Schlüsselrolle zu: als Apologeten unterschiedlicher Parteipositionen und als geistiges Zierwerk bei den Bemühungen um ein bestimmtes Ansehen im In- und Ausland. Mehr noch, man schenkt ihnen Gehör. Talkshows und Journale, die sich durch einen hohen intellektuellen Anspruch auszeichnen, sind sehr beliebt. Aus unterschiedlichen Gründen konnte die Linke nach dem 2. Weltkrieg die große Mehrheit der Intellektuellen für sich gewinnen und hat einige von ihnen mit wichtigen Führungsaufgaben vertraut. Französische Intellektuelle stellten aus Routine die geistige Grundlage der Innenpolitik der Sozialisten (PS) und Kommunisten (PCF) und standen stets an erster Stelle, wenn es darum ging, die US-Politik in Europa und der Dritten Welt anzugreifen. Präsident Mitterrand, selbst ein Intellektueller, umgibt sich mit „Denkern“ und hat prominenten Intellektuellen schon einige wichtige Posten in seiner Regierung angeboten.

Aber noch vor dem Regierungsantritt der Sozialisten im Jahre 1981 zeichnete sich deutlich ab, dass die Identifizierung mit der Linken im Schwinden begriffen war. So bestand das am schlechtesten gehütete Geheimnis der Kommunisten in den vergangenen zehn Jahren darin, dass so gut wie alle kommunistischen Intellektuellen von Format entweder verstorben waren oder die Partei verlassen hatten. Und selbst wenn die Sozialisten ein paar von diesen Desillusionierten für sich gewinnen konnten, sah es eher so aus, als würden die neuen Kritiker des Marxismus in die politische Neutralität oder sogar nach rechts abdriften. Bis auf ein oder zwei Ausnahmen weigerten sich wichtige Intellektuelle – wie etwa der Anthropologe Michel Foucault –, einen Posten in Mitterands Regierung zu übernehmen. Und später, als die Sozialisten sie dazu zu bewegen versuchten, ihre scheiternde Politik gegen die Kritik von Rechts zu verteidigen, weigerten sich die Intellektuellen erneut – nur, dass sie diesmal die Regierung in aller Öffentlichkeit mit einem Schwall an Beschimpfen eindeckten.

Die vorliegende Analyse konzentriert sich auf die sich verändernden Beziehungen zwischen Intellektuellen und politischen Gruppierungen im Kontext eines fundamentalen geistigen Wandels in der französischen Gesellschaft. Sie nimmt eine Bewertung

  • des dramatischen Zusammenbruchs des herrschenden Bündnisses zwischen den Intellektuellen und der Linken in der Nachkriegszeit vor,

  • des allgemeinen Ansehensverlusts der Intellektuellen in der französischen Gesellschaft,

  • der Aussichten, die für eine Wiederaufnahme ihres politischen „Engagements“ bestehen

  • und der Konsequenzen, die diese Trends für die französische Politik und für US-Interessen haben.

Eine traditionsreiche Rolle

Die Intellektuellen – unter diesen Begriff fallen Journalisten, Künstler, Schriftsteller und Lehrende – haben sich als Interpreten politischer Traditionen, besonders als Interpreten der Tragweite und Konsequenzen der Französischen Revolution eine besondere Funktion verschafft. Die Franzosen sehen in der permanent geführten Debatte über die Bedeutung ihrer Geschichte die Grundlage für ein Verständnis der französischen Gesellschaft, und in einigen Fällen wurde auch der politische Kurs durch eine Parteinahme seitens Intellektueller einer Korrektur unterzogen (siehe Kasten).

In Frankreich unterhielten Linke und Rechte in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg ein geistiges Kräftegleichgewicht. Im 19. Jahrhundert und in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatten konservative Kritiker der revolutionären Tradition wie de Maistre, Tocqueville oder Peguy in linken Intellektuellen wie Babeuf, Proudhon oder Jaures, deren Denken den Radikalismus der Revolution des 18. Jahrhunderts und des Sozialismus des 19. Jahrhunderts umfasste, ebenbürtige Gegner.

Diese Parität sollte sich jedoch während des Krieges verflüchtigen. Auf der einen Seite hatte sich der französische Konservatismus nicht nur durch seinen fremdenfeindlichen Nationalismus, Antiegalitarismus und in den Vorkriegsjahren durch seine Affäre mit dem Faschismus diskreditiert, sondern auch dadurch, dass viele seiner führenden Vertreter kollaborierten und für das Vichyregime arbeiteten. Demgegenüber hatte die Linke (mit Ausnahme des PCF in der kurzen Zeit des Hitler-Stalin-Pakts) konsequent gegen Faschismus und Besatzung gekämpft. Sie war das Rückgrat der Resistance und stellte den größten Anteil an Kämpfern, unter denen die Kommunisten eine dominierende (und oft auch eigennützige) Rolle spielten. Die Sowjetunion wurde in dem Licht betrachtet, dass sie jahrelang allein gegen Deutschland stand und wurde damit für die Resistance zu einem leuchtenden Vorbild; die ehemalige Kommunistin und tonangebende Intellektuelle Annie Kriegel erklärt, „Es stimmt, dass die Amerikaner uns befreit haben – aber der Wendepunkt des Krieges war Stalingrad. Es war die Rote Armee, die uns Hoffnung gegeben hat.“

Während die französische Rechte durch den Krieg geistig zerschlagen wurde, war die Linke bereit, den politischen Profit für ihren Erfolg in der Resistance einzustreichen: Sie erhob den Anspruch auf die Gefolgschaft aller, die die Freiheit und die Gleichheit liebten. In der Nachkriegszeit konnten die Sozialisten und vor allem die Kommunisten sehr viele Intellektuelle für ihre Sache gewinnen. Die Konservativen hielten sich jedoch an der Macht und im Laufe der 1950er und 60er Jahre richtete sich die Linke in ihrer Oppositionsrolle ein. In dieser Zeit entwickelten linke Intellektuelle eine bestimmte Meisterschaft darin, sozialistische und kommunistische Rezepturen zur Umgestaltung der französischen Gesellschaft auszuarbeiten und deckten bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Politik der aufeinander folgenden konservativen Regierungen mit einem Sperrfeuer der Kritik ein.1

Außerdem versuchte man in der sozialistischen und kommunistischen Partei auf zweierlei Weise das zu etablieren und aufrechtzuerhalten, was ein Kritiker vor kurzem als linke „Intellokratie“ bezeichnet hat: Erstens finanzierten sie zahlreiche Journale, Periodika und Zeitungen, die Intellektuelle als Sprachrohr für ihre Invektiven gegen die herrschende Ordnung und die französische Gesellschaft nutzen konnten. Zweitens wirkten sie bei der Institutionalisierung eines linksintellektuellen Establishments mit und trugen für sein Fortbestehen Sorge, indem sie die Zusammenlegung der Universitäten mit den Fachbereichen der weiterführenden Schulen unterschrieben. Mit beiden Maßnahmen wurde gewährleistet, dass sich diejenigen, die sich in der intellektuellen Elite Frankreichs bewegten, ideologisch auf die Vorurteile und Parteiloyalitäten der Linken einstimmten. Für eine gewisse Zeit sollte dieses System nahezu reibungslos funktionieren; erst seit Ende der 1960er Jahre verwerfen Renegaten die Dogmen ihrer einstigen akademischen Lehrmeister und üben scharfe Kritik an der Linken.
 

Die Intellektuellen und die Dreyfus-Affäre

Mit der Dreyfus-Affäre im ausgehenden 19. Jahrhundert trat deutlich zutage, wie die Öffentlichkeit über die Veränderungen in der französischen Gesellschaft dachte und in welchem Verhältnis diverse Gruppen und Institutionen wie Kirche, Militär, Politiker und Journalisten zu den Prinzipien und Werten der revolutionären Tradition standen. Unter Führung des Romanciers und Journalisten Emile Zola übernahmen Intellektuelle die Rolle, eine öffentliche Debatte über die Themen anzustoßen, die von der Affäre berührt wurden. In seinen berühmten Artikeln beschuldigte Zola die Regierung und ihre Verbündeten nicht nur der Untergrabung von Gerechtigkeit und Moral, sondern, was in den Augen seiner Leser noch schwerer wiegte, auch des Verrats an der revolutionären Tradition.

Dreyfus, Jude und Offizier des französischen Generalstabs, wurde 1896 wegen Verrats militärischer Geheimnisse an die Deutschen angeklagt und verurteilt. Enthüllungen, denen zufolge Dreyfus aufgrund fingierter Beweise verurteilt und staatlicherseits weiteres Beweismaterial fabriziert wurde, um den zerrütteten Zustand der Justiz zu verdecken, führten zu einer Polarisierung in der französischen Gesellschaft und gaben den entscheidenden Anstoß zu einer Gewissensprüfung und Diskussion über Frankreichs öffentliche Moral und historische Werte.

Eine historische Wende: Das „laute“ Schweigen der Linksintellektuellen

Als die Sozialisten 1981 an die Macht kamen, hatte sich die Situation bereits dramatisch verändert. In Regierungskreisen war es offenes Geheimnis, dass die mangelnde Unterstützung durch Intellektuelle unter den sozialistischen Parteifunktionären Verwunderung und Besorgnis auslösten. Nur ein paar Intellektuelle von Format – Max Gallo, Regis Debray und Antoine Blanca – nahmen einen Posten in der Regierung Mitterrands an; manche übten offen Kritik an der Regierungspolitik, besonders an der Entscheidung, vier Ministerien den Kommunisten anzuvertrauen. Häufiger noch ließen Intellektuelle Anzeichen erkennen, in ein untypisches Schweigen zu verfallen, was sehr schnell dazu führte, dass die Presse beunruhigende Fragen über die Beziehungen zwischen der Regierung und ihren intellektuellen Verbündeten stellte. In wichtigen meinungsbildenden Zeitungen und Journalen, die von jeher mit einem sehr feinen Gespür für die geringsten Veränderungen im politischen Klima ausgestattet waren, wurde langsam in Frage gestellt, ob Intellektuelle „schon immer links standen“; es wurde auch auf die Ironie hingewiesen, dass sich in der Regierung eines linken Präsidenten, der selbst ein angesehener Intellektueller war, kaum ein Intellektueller engagieren wollte.

Nach dem Scheitern seiner expansionistischen Wirtschaftspolitik verdoppelte Mitterrand seine Anstrengungen, die Unterstützung der Intellektuellen zu gewinnen, da er zu einer Kurskorrektur gezwungen zwar und zu Sparmaßnahmen greifen musste, was eine peinliche Kritik von links wie auch von rechts zur Folge hatte, besonders von den Konservativen der französischen „Neuen Rechten“, die im Begriff einer „intellektuellen Renaissance“ war (siehe Kasten). Höchstwahrscheinlich auf Geheiß Mitterrands verfasste Max Gallo, Regierungssprecher und renommierter Romancier und Historiker, im Sommer 1983 in der Tageszeitung Le Monde einen Artikel über das „Schweigen der Intellektuellen“.

Gallo appellierte an die Linksintellektuellen, sich endlich zu äußern und argumentierte damit, dass die entscheidenden tagespolitischen Themen – vor allem die Wirtschaftspolitik der Regierung, aber auch ihre bisherige Politik in Sachen Terrorismus und Kriminalität – nach einer öffentlichen, intensiv geführten Debatte verlangten und dass man ohne eine linke Gegenkritik die öffentliche Meinung den Rechten überlassen würde. Gallos Appell löste unter den Intellektuellen heftige Reaktionen aus, von denen die meisten Ihr „Schweigen“ erklärten und verteidigten. Mindestens einer der Kritiker meinte, von Gallo und der Regierung wäre es klüger, sich mit diesem Schweigen zufrieden zu geben, weil es das Beste sei, worauf sie in ihrer Situation hoffen könnten, und dass sich Linke, die sich zu der Regierung äußerten, nur dem Heer der Kritiker anschließen würden. Gallos Scheitern bestätigte die Öffentlichkeit in ihrer Wahrnehmung, dass die Intellektuellen das linke Lager verlassen hatten. Als Gallo sich nach nicht einmal einem Jahr von der Regierung trennte – er führte den Wunsch an, sich wieder der Kunst zu widmen –, schienen sich auch die letzten Zweifel an der politischen Entfremdung der Intellektuellen zu zerstreuen.2

 

Die „intellektuelle Renaissance“ der Rechten

Die Wiederbelebung und Modernisierung konservativen Denkens geht auf die so genannte „Neue Rechte“ zurück und ist im Großen und Ganzen unabhängig von den Neuen Philosophen oder den Neuen Linken zu betrachten. Die spektakuläre und überschäumende Vitalität, mit der konservative Intellektuelle seit einigen Jahren ans Werk gehen, wird vor allem mit Jean-Francois Revel und anderen Renegaten der Elitehochschule ENS (Ecole Normale Superieure) in Verbindung gebracht. Zunächst verfassten sie Polemiken, die sich gegen die geistig-moralischen Verrenkungen richteten, die Jean Paul Sartre zur Verteidigung der UdSSR vorführte, später gingen sie dazu über, die Seichtheit kommunistischen Geisteslebens zu dekuvrieren. In der Zwischenzeit haben sie, wie der prominente Historiker Emmanuel le Roy meint, sich der bedeutenderen Aufgabe einer Neuausrichtung des intellektuellen Diskurses angenommen: weg von dem traditionellen „Links-Rechts-Schema“ hin zu „Totalitarismus vs. Freiheit“.

Mit der Unterstützung von Autoren und Verlegern, die über Verbindungen zu dem rechten Pressebaron Robert Hersant verfügen, hat die Neue Rechte die Idee aufgegriffen, mit einem modernisierten Liberalismus klassischer europäischer Prägung Frankreich von der sozialistischen „Misswirtschaft“ zu heilen. Mehr noch, der Liberalismus, dessen Anhänger die Schwächung des Staats und mehr Eigenverantwortung als seine Kernpunkte definieren, ist unter den Konservativen mittlerweile zu dem Rezept gegen die Missstände avanciert, unter denen die französische Gesellschaft schon seit Kriegsende leidet. Junge konservative Politiker, die sich in diesen Chor einreihen, vertreten in der Presse und in vertraulichen Gesprächen mit US-Diplomaten den Standpunkt, dass die Rechte den Franzosen den Weg zu mehr Eigenverantwortung weisen sollte. Ihrer Meinung nach besteht die wichtigste Aufgabe einer konservativen Regierung darin, ihre eigenen Kompetenzen zu beschneiden – ob in der Verwaltung oder beim Eintreiben und Ausgeben von Steuergeldern. Mit diesem Konzept im Hintergrund wird der Dezentralisierungsprozess, also die Auflösung stark zentralisierter Strukturen und die Übertragung von Regierungskompetenzen und -ressourcen auf die regionale Ebene von den neuen Liberalen im Großen und Ganzen begrüßt. Dieser Prozess, der bisher langsam verlaufen ist, hat unter den Sozialisten deutlich an Fahrt gewonnen (siehe auch Appendix A).

Die „Neuen Philosophen“ Ein Grund für Gallos misslungene Mobilisierung der Linksintellektuellen wäre, dass er eine bestimmte Clique junger Unruhestifter ignorierte, die sich unter dem Namen „Neue Philosophen“ vermarkten. Schon seit über einem Jahrzehnt leistet sie mit intensiver medialer Begleitung unter linken Aktivisten erfolgreiche Missionsarbeit, indem sie die französische Linke als gefährlich und implizit totalitär diskreditiert. In den meisten Fällen handelte es sich bei ihnen um Exkommunisten, die die Partei nach den traumatischen Ereignissen des Mai 19683 verlassen hatten, und um Absolventen der prestigeträchtigsten Ausbildungsstätte für Lehrende und Denkende Frankreichs, der ENS (Ecole Normale Superieure); und sie teilten nicht nur die Erfahrungen, die sie in der Pariser Studentenbewegung der 1960er Jahren gemacht hatten, sondern auch die Ablehnung der stalinistischen Sophistereien, die an der ENS gelehrt wurden.

Zwei Entwicklungen führten dazu, dass die Neuen Philosophen zusammenfanden: Erstens öffnete ihnen das verzagte Verhalten der Parteien der Traditionslinken während der Studentenrevolte von 1968 die Augen, was sie dazu veranlasste, aus der Kommunistischen Partei auszutreten und nicht nur den französischen Sozialismus, sondern auch die Grundideen des Marxismus aufzugeben. Zweitens üben die meisten Vertreter der Neuen Philosophen schon seit den frühen 1970ern scharfe Kritik an der Sowjetunion, eine Entwicklung, die von der französischen Erstveröffentlichung des Archipel Gulag von Solschenizyn im Jahr 1975 gefördert wurde. Solcherart angeregt unterzogen sie die Traditionen der französischen und europäischen Linken einer Neubewertung. Bernard-Henri Levy und Andre Glucksmann, zwei Führungsfiguren des Mai `68, verfassten eine Reihe bekannter Bücher, mit denen sie versuchten, die Irrtümer der geistigen Tradition der Linken offenzulegen. Sie behaupteten, dass es in Frankreich keine sozialistische Partei oder Bewegung gebe, die nicht marxistisch geprägt sei und dass jedes marxistische Denken letztlich einen totalitären Charakter aufweise.

Die Neuen Philosophen konnten ihren oft verworrenen, nur schwer verständlichen Schreibstil ziemlich gut damit kompensieren, dass sie sich als aufregende Medienpersönlichkeiten profilierten, indem sie ihre Ansichten in den langen, hochintellektuellen Fernseh- und Radiosendungen vertraten, an denen die Franzosen so großes Gefallen finden. Ihr Einfluss war jedoch in allererster Linie negativer Art, da sie eigentlich keine praktischen Vorschläge für ein neues politisches Programm anzubieten hatten. Und trotz der dramatisch vorgetragenen Anprangerung dessen, was Bernard-Henri Levy als „Blindheit der Linken“ bezeichnete, legten die Neuen Philosophen neben der Antipathie für den Gaullismus auch weiterhin eine Haltung an den Tag, die den Kapitalismus lediglich als das kleinere Übel akzeptierte. Levy wurde Leiter des Verlags Grasset – einem der größten Verlage in Frankreich –, wo er den Neuen Philosophen und ihren Ansichten einen leichten Zugang zur Öffentlichkeit verschaffen konnte. Die Bücher der Neuen Philosophen schafften es auf Anhieb in die Bestsellerlisten, was in Zeiten, in denen sich die meisten philosophischen Werke nur von stark subventionierten Universitätsverlagen veröffentlichen ließen, eine bemerkenswerte Leistung ist. Informierte Beobachter aus dem gesamten politischen Spektrum stellen fest, dass die Neuen Philosophen einen immensen Einfluss auf das Denken der Post-68er-Generation haben.

Es gibt keinen Sartre und keinen Gide mehr.“ Mit dem Abfall junger Intellektueller vom Marxismus und dem PCF lag es an den alternden Apparatschiks, die Tradition hochzuhalten. Sartre, Roland Barthes, Jacques Lacan und Louis Althusser – die letzte Clique kommunistischer Savants4 – gerieten unter heftigen Beschuss seitens ihrer ehemaligen Schützlinge, aber keiner von ihnen brachte den nötigen Mumm zu einem Rückzugsgefecht für den Marxismus auf.5 Kritiker – allen voran die Neuen Philosophen – haben die heutige Generation höchst erfolgreich von der „Torheit“ eines Sartre, den Übeln des Marxismus und von der Barbarei des Sowjetkommunismus überzeugen können (ein Vertreter der Neuen Linken spöttelte einmal geistreich, die Sowjets als Barbaren zu bezeichnen sei eine Beleidigung der Barbaren). Mit dem Resultat, dass die Kommunistische Jugendbewegung selbst an den Universitäten einen starken Mitgliederschwund verzeichnen muss, kommunistische Publikationen, die sich an junge Intellektuelle richten – wie zum Bespiel das Journal Revolution des PCF –, kaum noch gelesen werden und dass es mittlerweile keinen Intellektuellen von Rang und Namen mehr gibt, der noch Mitglied oder auch nur Sympathisant des PCF wäre.6

Die Ursachen des Lagerwechsels

Der Bankrott der marxistischen Ideologie. In dem Unbehagen mit dem Marxismus als philosophisches System – verstanden im Kontext einer umfassenderen Rückzugsbewegung der Intellektuellen vom ideologischen Denken – liegt der Ursprung für die besonders starke und weitverbreitete Desillusionierung durch die traditionelle Linke. Raymond Aron hat einige Jahre damit zugebracht, seinen alten Kommilitonen und Zimmergenossen Sartre und mit ihm auch das gesamte geistige Gebäude des französischen Marxismus zu diskreditieren. Aber noch effektivere Zersetzungsarbeit wurde von den Intellektuellen geleistet, die zu Beginn ihrer Laufbahn felsenfest von der Anwendung der marxistischen Theorie in den Sozialwissenschaften überzeugt waren, aber schließlich die gesamte marxistische Tradition überdachten und verwarfen.

 

Der Niedergang marxistischer Gelehrsamkeit in den Sozialwissenschaften

Unter den französischen Historikern der Nachkriegszeit konnte sich die starke Strömung, zu der Marc Bloch, Lucien Febvre und Fernand Braudel gezählt werden, gegenüber den Traditionsmarxisten durchsetzen. Die nach ihrer wichtigsten Fachzeitschrift „Annales“ genannte Denkschule stellte in den 1950ern und 1960ern die französische Geschichtswissenschaft auf den Kopf, indem sie die bis dahin tonangebenden marxistischen Theorien über den Fortschritt in der Geschichte in Frage stellte und später verwarf. Wenn einige Vertreter der Annales-Schule behaupten, dass sie „in der Tradition des Marxismus“ stehen, ist damit lediglich gemeint, dass sie den Marxismus als kritischen Ausgangspunkt für den Versuch heranziehen, den eigentlichen sozialhistorischen Gesetzmäßigkeiten auf den Grund zu gehen. Die Mehrheit der Annales-Schule ist zu dem Schluss gekommen, dass marxistische Auffassungen von den Strukturen der Vergangenheit und der sozialen Beziehungen, von historischen Ablaufmustern und deren langfristigen Auswirkungen grob vereinfachend und hinfällig sind.

In der Anthropologie hat die einflussreiche strukturalistische Schule, zu der Claude Levi-Strauss, Foucault und andere gehören, praktisch die gleiche Mission erfüllt. Auch wenn der Strukturalismus und die Annales-Schule mit ihrer Methodik derzeit noch einen schweren Stand haben (Kritiker werfen ihnen vor, sie seien viel zu kompliziert, um von Uneingeweihten verstanden zu werden), gehen wir davon aus, dass sich deren kritische Demontage der marxistischen Einflussnahme auf die Dauer als wichtiger Beitrag zur Modernisierung der Sozialwissenschaften in Frankreich und anderswo in Westeuropa durchsetzen wird.

Linke Intellektuelle, die dem Sozialismus noch nicht feindlich gegenüber standen – Max Gallo dürfte das beste Beispiel dafür sein –, wurden durch das offensichtliche Versagen der linken Ideologie, die Mitterrands früher Verstaatlichungspolitik inhärent war, aus dem sozialistischen Lager getrieben. 1983 waren die meisten Sozialisten bereit, zuzugeben, dass ihr Programm, das eine expansive Wirtschaftspolitik und eine kräftige Aufstockung des Budgets für Sozialleistungen vorsah, nicht funktionieren würde; nach Meinung vieler informierter Beobachter läuteten die Sparmaßnahmen, die diese Politik letztlich nach sich zog, der linken Ideologie das Totenglöckchen. Alain Touraine, ein linker Soziologe, der gelegentlich für die sozialistische Tageszeitung Le Matin schreibt, dürfte wohl mit diesen Worten das Epitaph für den Sozialismus verfasst haben: „Der wichtigste Verdienst der linken Regierung besteht darin, dass sie uns von der sozialistischen Ideologie befreit hat.“ Ein bekannter Akademiker bemerkte vor kurzem die doppelte Ironie, die darin lag, dass in der Fünften Republik die Befreiung Frankreichs vom Kolonialismus de Gaulle und die Befreiung vom Sozialismus Mitterrand zufiel.

 

Die USA und die UdSSR in der öffentlichen Meinung Frankreichs

Kürzlich durchgeführte Meinungsumfragen zeigen, dass die Sowjetunion in den vergangenen drei Jahren im Ansehen der französischen Öffentlichkeit kontinuierlich gesunken ist, während die USA einen beträchtlichen Anstieg verzeichnen konnte. Eine Umfrage, die von Frankreichs rennomiertestem Meinungsforschungsinstitut kurz vor Reagans und Gorbatschows letztem Gipfeltreffen durchgeführt wurde, zeigt zum Beispiel, dass 59 % der Franzosen von der UdSSR eine unvorteilhafte Meinung haben, aber nur 9 % eine vorteilhafte.* Im Gegensatz dazu hatten 43 % von den Vereinigten Staaten eine positive Meinung und 27 % eine negative – was eine bemerkenswerte Verbesserung gegenüber einer Umfrage von 1982 darstellt, die zeigte, dass 30 % eine positive und 51 % eine negative Sicht auf die USA hatten. Zu bestimmten Themen wie wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitnehmerrechte, Freiheit des Individuums, Antirassismus, Abbau sozialer Ungleichheiten, Anhebung des Lebensstandards, Zugang zu medizinischer Versorgung und Entwicklungshilfe für Länder der Dritten Welt konnte Washington unter den Befragten wesentlich höhere Zustimmungswerte als Moskau erzielen. Der US-Botschaft in Paris zufolge zeigten weitere veröffentlichte Umfragen einen ähnlich dramatischen Anstieg des öffentlichen Vertrauens in die USA auf Kosten der UdSSR.

* Die Umfrage wurde zwischen dem 9. und 14. November 1985 von Sofres durchgeführt und am 19. November 1985 von der Tageszeitung Le Monde veröffentlicht.

Antisowjetismus. Laut mehrerer gut unterrichteter Beobachter hat sich der Hass auf den Sowjettotalitarismus in der französischen Linken fest etabliert (siehe Kasten), was zum Teil durch die kompromisslosen Streitschriften Glucksmanns und Levys motiviert wurde. In wissenschaftlichen Studien und Presseartikeln über den Bankrott des Marxismus in Frankreich wird den Neuen Philosophen die zentrale Rolle in dem Projekt zugeschrieben, eine ganze Generation französischer Intellektueller davon zu überzeugt zu haben, dass

  • der Sowjetstaat den Beweis dafür liefert, dass die „marxistische Revolution ein Mythos ist“, ein zynischer Schwindel, der, weit davon entfernt, ein Absterben des Staates nach sich zu ziehen, zwangsläufig zum Aufbau eines monströsen, reaktionären Apparats führt7,

  • in der modernen Welt ein ordentlicher Hass auf die Sowjetunion als wesentliches Merkmal intellektueller Distinktion und eigenständigen Denkens zu verstehen ist.

Der sich hartnäckig haltende Stalinismus und die Kriecherei, mit der sich der PCF sowjetischen Interessen unterwirft, treten in sämtlichen Parteizeitungen und –journalen deutlich zu Tage und tragen einen großen Teil dazu bei, dass eine antisowjetische Haltung mit einer ausgeprägten Abneigung gegen den PCF einhergeht. In kürzlich freigegebenen Geheimdokumenten, die die Beziehungen der französischen Kommunisten zum Kreml während des Einmarschs in die Tschechoslowakei betreffen, wird aufs Anschaulichste geschildert, wie lammfromm die französische KP Moskaus Linie und Rechtfertigungen übernahm. Die Erinnerungen an den intensiv gepflegten Stalinkult – der in den 1950ern seinen Höhepunkt erlebte, als Parteiintellektuelle bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Sowjetführer mit aberwitzigen Lobpreisungen in Prosa und Gedichtform überhäuften –, haben wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge dazu geführt, dass die Ablehnung des Sowjetkommunismus verstärkt auf einer persönlichen und emotionalen Ebene empfunden wird. Akademische Beobachter und Journalisten weisen auch darauf hin, dass die unter Intellektuellen verbreitete Abneigung gegen den Marxismus mitsamt der gerade in Mode gekommenen Verachtung für die Sowjetunion bewirkt hat, dass sich zwischen der Intelligenzija der Neuen Linken und dem französischen Kommunismus ein tiefer, scheinbar unüberbrückbarer Graben auftut.
 

Antisowjetismus als „Prüfstein“

In einem Interview mit dem intellektuellen Journal „Le debat“ gibt Jorge Semprun, Denker der Neuen Linken und ehemaliges Mitglied der KP Spaniens, die Ansichten der gegenwärtigen Generation wider:

L.D.: Was heißt es heutzutage in Frankreich, ein linker [Intellektueller] zu sein?

S.: Heutzutage ist der Prüfstein linken Denkens eine kritische Haltung gegenüber der UdSSR, woraus sich logischerweise auch eine Ablehnung der Parteien [der PCF] ergibt, die in der Tradition der Komintern stehen. (…) Die grundsätzliche Frage ist nicht die nach der Barbarei eines Pinochet noch nach der Zerschlagung der Stahlindustrie in Lothringen, und auch nicht nach dem Umbau des US-Imperiums unter Reagan. Die grundsätzliche Frage besteht in der Haltung gegenüber der UdSSR.

Jacques Rouknique, Sowjetologe an dem renommierten „Institute de Science Politique“, ist ein genauer Beobachter der Sowjetunion und wie sie von den Franzosen wahrgenommen wird. In einem Interview, dass er vor dem letzten Besuch Gorbatschows in Paris gegeben hat, sagt er: „In den vergangenen zehn Jahren hat sich hierzulande das Image der UdSSR dramatisch verändert. Die Intellektuellen haben den Marxismus aufgegeben und beschäftigen sich mit dem Gulag und anderen Gräueln des Sowjetsystems. Ganz allgemein kann man sagen … [der Marxismus] ist für Leute, die links stehen, keine Inspiration mehr, oder auch innerhalb der Kommunistischen Partei, [wo] kritische Stimmen immer lauter werden.“

Diese Aversion kann unter Umständen auch die Form einer ausgeprägten Antipathie für die Regierung Mitterrands annehmen. Als die Sozialisten in den späten 70er Jahren aus wahltaktischen Gründen mit den Kommunisten die „Union der Linken“ bildeten, setzten sie sich damit der Kritik der Neuen Philosophen aus; als dieses Bündnis 1980 erneuert wurde, bereiteten sich die Neuen Philosophen auf einen Austritt aus der Sozialistischen Partei vor; und als Mitterrand 1981 den Kommunisten die Regierungsbeteiligung anbot, liefen sie endgültig ins oppositionelle Lager über. Intellektuelle, die in der Partei blieben, schwiegen. Die feindselige Haltung der Neuen Philosophen ließ sich durch nichts, was Mitterrand seither getan hat, ändern, weder durch seine harte Linie gegen die Sowjetunion, noch dadurch, dass er erklärte, ein paar Ministerämter mit Kommunisten besetzen zu müssen, um sich von den PCF-kontrollierten Gewerkschaften den Arbeitsfrieden zu erkaufen und auch nicht dadurch, dass die Kommunisten 1984 die Regierung verließen. Levy ließ die vernichtende Bemerkung fallen, es sei so, als „hätte man vier faschistische Minister in der Regierung“. Bisher haben Intellektuelle der Neuen Linken keinerlei Neigungen erkennen lassen, Mitterrand die Affäre mit den Kommunisten zu vergeben oder seinen spektakulär gescheiterten Sozialismusversuch zu betrauern.

Die Perspektiven für den Einfluss der Intellektuellen

Obwohl Intellektuelle schon seit über einem Jahrzehnt maßgeblich dazu beitragen, die öffentliche Meinung gegen den Marxismus und die Sowjetunion zu immunisieren, sieht es so aus, als ob ihr Einfluss im Schwinden begriffen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in absehbarer Zeit wieder einen nennenswerten Einfluss auf politische Angelegenheiten nehmen werden, ist als gering einzustufen. In den frühen 70ern hatte eine antimarxistische und antisowjetische Haltung noch den Charakter eines Tabubruchs, der sich in den folgenden Jahren verselbstständigen sollte; mittlerweile sind Antimarxismus und Antisowjetismus so sehr zu Bestandteilen der intellektuellen Orthodoxie geworden, dass es so scheint, als ob die Neuen Philosophen nichts mehr Neues zu sagen haben. Hinzu kommt der allgemein verbreitete Trend, zugunsten einer pragmatischeren Herangehensweise an politische Probleme von Ideologien abzurücken, was tendenziell dazu führt, dass die Bedeutung der Intellektuellen sämtlicher politischer Couleur untergraben wird.

Geistige Verödung. Viele linke Intellektuelle scheinen mit ihrer vehementen Absage an Ideologie und Parteibindung einer politischen Apathie verfallen zu sein; andere – wie Emmanuel Le Roy Ladurie, Pierre Chanou oder Michel Sarre – versuchen, eine breite Debatte über die deutlich werdende Verarmung des französischen Geisteslebens anzustoßen. Manche machen das sinkende Ansehen der Intellektuellen in Frankreich an der zunehmenden Technologisierung in Wirtschaft und Gesellschaft fest. Fest steht, dass die französische Jugend, die in der Vergangenheit auf jede intellektuelle Modetorheit hereingefallen ist, mittlerweile über eine wissenschaftliche Laufbahn oder eine Karriere in der Wirtschaft nachdenkt:

  • Meinungsumfragen zeigen, dass in der Wertschätzung junger Leute so genannte „intellektuelle Berufe“ zugunsten einer kaufmännischen oder technischen Laufbahn an Bedeutung verloren haben.

  • Presseberichten zufolge wurden im vergangenen Jahr in den allgemeinen Wahlen zu den Studentenparlamenten überwiegend konservative oder nicht ideologisch ausgerichtete Vertreter bestellt. Emmanuel Le Roy Ladurie, Historiker und Exkommunist, schrieb, er sei überrascht gewesen, festzustellen, wie viele Studenten und junge Mitarbeiter der Universität Paris von der Linken Abstand genommen haben.

  • Einen weiteren Beweis dafür, wie sehr sich das Denken verändert hat, liefert ein Blick in die Hörsäle. Die Bildungsreformen der letzten zehn Jahre, die zum Ziel hatten, dass sich mehr Studenten für ein kaufmännisches oder technisches Studium entscheiden, stießen in den 70er Jahren bei den Studenten und Professoren auf erbitterten Widerstand. Noch vor kurzem, im Frühling 1983, löste der Versuch Mitterrands, diese Reformpolitik fortzusetzen, in mehreren Universitätsstädten schwere Krawalle aus. Mittlerweile bringen die jüngeren Geschwister der Randalierer die Hörsäle der wirtschafts- und naturwissenschaftlichen Institute zum Überlaufen, und das sogar an einem früher tiefroten Campus wie dem der Universität Paris-Nanterre, wo noch bis in die Mitte der 70er Jahre hinein marxistischer Intellektuellenchic den Ton angegeben hat (siehe Kasten).

  • Eine Karriere als Intellektueller, die früher einmal fast allen offen stand, die eine der Eliteuniversitäten besuchten, kann offensichtlich nicht mehr garantiert werden. Die Regierung unter Laurent Fabius kündigte vor kurzem ein Programm an, mit dem arbeitslose Absolventen der ENS in der Wirtschaft und in der Regional- und Zentralverwaltung untergebracht werden sollen. Die Sozialisten greifen mittlerweile auf Maßnahmen zurück, die unter anderem vorsehen, Ausländer aus den unteren Lehrerstellen zu drängen, vermutlich, um die wenigen Arbeitsplätze für Franzosen frei zu machen.

Ein paar Antworten auf Interviewfragen zu marxistischen und radikalen Aktivitäten auf dem Campus der Universität Paris-Nanterre

Guy Lachenaud, 1968 Juniorprofessor, mittlerweile 46 Jahre als und Vizepräsident der Universität Nanterre: „Es gibt keine Studentenbewegung mehr. Die wenigen Gruppen, die es noch gibt, machen nicht mehr, als mit dem Fotokopierer ein paar militante Phrasen unter die Leute zu bringen.“

Betreiber eines Kiosks auf dem Campus über Verkaufszahlen marxistischer Publikationen wie „Rouge“, „Revolution“ oder „Lutte ouvriere“: „Ich bestelle fünf Exemplare [von jeder Zeitschrift] die Woche, und verkaufe vielleicht zwei.“

Ein Student: „`68 stand Papa auf den Barrikaden. Ich werde mein eigenes Ding an einer Bank machen.“

Anonym: „Heute? Das ist die permanente Nichtrevolution.“

Manche Kritiker wie der Philosoph Michel Serres behaupten, dass die Intellektuellen, vor allem die linken, gerade „wieder in Schwung kommen“, aber andere verweisen auf den Einbruch intellektueller Vitalität. Marc Riglet, Herausgeber von France-Culture und Konferenzmanager an dem Pariser Institut für Politikwissenschaft, hat behauptet, französische Intellektuelle seien außerstande, eine lebendige Diskussion anzustoßen und sich an ihr zu beteiligen, weil sich nicht mehr die Kompetenzen mitbringen würden, die sie früher einmal hatten. Er betrachtet diese Entwicklung als Teilaspekt einer sich seit Jahren abzeichnenden kulturellen Stagnation, durch die sich Frankreich mittlerweile auszeichnet.

Andere Intellektuelle wie Alain Besancon und eine Reihe konservativer Denker geben Riglet darin Recht, dass die um sich greifende geistige Ermattung als Aspekt eines kulturellen Abwärtstrends zu verstehen ist. In Zeitungsartikeln, Büchern und im Fernsehen legen sie überzeugend dar, dass es derzeit wirklich keinen Flaubert, Proust oder Baudelaire gibt. Aufmerksame Beobachter wie die Historiker Besancon und Pierre Goubert fügen hinzu, es gebe auch keinen Grund für die Annahme, dass sich daran bald etwas ändern wird. Obwohl Mitterrand und Kulturminister Jack Lang den Kulturetat mehr als verdoppelten, konnten sie bisher den zunehmenden Klagen darüber, dass „die kulturelle Schaffenskraft in Frankreich derzeit einen Einbruch erlebt“ und dass sich sämtliche kulturelle Bereiche „durch einen auffälligen Mangel an Innovation auszeichnen“, nichts entgegensetzen.8

Auf einer Konferenz, die vergangenes Jahr in Paris stattfand und organisiert wurde, um sich mit dem Thema der „französischen Identität“ auseinanderzusetzen, kam man schnell auf die Lethargie französischer Intellektueller und auf die Folgen zu sprechen, die diese Lethargie für ihre Rolle als politische Akteure haben könnte. Die Teilnehmer schienen sich darin einig zu sein, dass sich Intellektuelle in Zukunft kaum noch von Ideologien – ob von linken oder rechten – mobilisieren lassen werden. Die Desillusionierung durch den Marxismus, die bei fast allen Intellektuellen einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen hat, drückt sich in einem Neutralismus aus, der zu ihrer politischen Ruhigstellung beiträgt. Auch der „Liberalismus“ – im Sinne von weniger Staat und mehr Eigenverantwortung – erfährt, um den letzten Umfragen und der medialen Berichterstattung nach zu schließen, unter den Intellektuellen und in der öffentlichen Meinung nur wenig Unterstützung.

Eingeschränkte Wiederaufnahme des politischen Engagements. Gleichwohl gibt es einige Themen, die wohl auch in Zukunft dafür sorgen werden, dass sie in politischen Auseinandersetzungen Stellung beziehen. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage haben prominente Autoren angegeben, dass sie bereit wären, das für linke Intellektuelle einst charakteristische Engagement wieder aufzunehmen – aber dass sie nicht daran dachten, für eine Partei oder eine Ideologie mobil zu machen. Ein Thema, das sie eher wieder aufgreifen werden, wäre das der kulturellen Identität der Franzosen, das in enger Beziehung zu emotional aufgeladenen Fragen wie fremde kulturelle Einflüsse, Einwanderung und Rassismus steht. Die gegen Einwanderer gerichtete Hetze und der Rassismus, der mit dem Aufstieg des rechtsextremen Front National einhergeht, haben einige Linksintellektuelle dazu gebracht, wieder politisch aktiv zu werden, hauptsächlich bei Demonstrationen, die von der Gruppe „S.O.S. Racisme“ organisiert werden.

Auch der Antisowjetismus, der derzeit zum festen geistigen Inventar der Intellektuellen gehört, birgt weiterhin ein großes Erregungspotential. Der Frankreichbesuch Gorbatschows in diesem Herbst rief nicht nur Proteste seitens der Rechten hervor: Die Neue Linke und vor allem dissidente Intellektuelle haben den Staatsbesuch als Gelegenheit genutzt, ihren Unmut über das brutale Vorgehen der Sowjets in Afghanistan, die fortgesetzte Repressionspolitik in Polen und die Missachtung der im Helsinkiabkommen festgelegten Menschenrechtsbestimmungen Luft zu machen. An den Demonstrationen im Pariser Universitätsviertel nahmen tausende von Studenten teil, die Parolen riefen, in denen Gorbatschow und das Gulagsystem in einen Zusammenhang gebracht wurden. Auch der Fall Sacharow erregt in intellektuellen Kreisen weiterhin großes Aufsehen. Die französische Regierung konnte zwar ein paar geplante Protestaktionen verhindern; sie versprach öffentlich, Gorbatschow auf die Menschenrechtslage in der UdSSR anzusprechen und erließ für die Dauer seines Besuchs ein Demonstrationsverbot, was aber nichts daran ändern konnte, dass Intellektuelle den Besuch als Gelegenheit nutzten, Druck zu machen für die Freilassung der Sacharows und für eine härtere Linie Frankreichs gegenüber Moskau.

Diese antitotalitäre und antisowjetische Stimmung spricht dagegen, dass die Regierung wesentliche Änderungen an ihrer ohnehin schon harten Haltung gegenüber Moskau vornehmen wird. Mittlerweile muss die Führung des PS tatsächlich davon ausgehen, dass die einzige Möglichkeit, den Rückhalt der Intellektuellen in den 1986 anstehenden Parlamentswahlen zu gewinnen, nur in einer harten Haltung gegenüber Moskau und dem PCF besteht. Intellektuelle werden es auch einer rechten Regierung sehr schwer machen, eine Wiederaufnahme jener „besonderen Beziehung“ zu Moskau zu arrangieren, durch die sich die Präsidentschaft Valery Giscard d’Estaings ausgezeichnet hat.

Unserer Ansicht nach dürften der stark antimarxistische und antisowjetische Trend und die Desillusionierung durch die marxistische Ideologie auch auf die Sozialistische Partei massive Auswirkungen haben. Die Hinweise darauf mehren sich, dass den Sozialisten in den Parlamentswahlen kommenden Jahres eine katastrophale Niederlage bevorsteht. Die Partei befindet sich auf dem Weg in die Opposition und versucht, aus den Erfahrungen, die sie an der Regierung gemacht hat, die richtigen Lehren zu ziehen. In diesem Prozess der Selbstfindung und Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses dürften die Intellektuellen der Neuen Linken eine wichtige Rolle spielen.

Speziell die Stimmung gegen den PCF dürfte der entscheidende Faktor sein, dass den Machenschaften Parteichef Jospins und anderer linker Sozialisten, die der Begeisterung für das „Bündnis der Linken“ neues Leben einhauchen möchten, der Riegel vorgeschoben wird; die Parteilinke pflegt den Mythos, dass der PS 1981 nur mithilfe eines Bündnisses mit dem PCF an die Macht gekommen ist und dass sich die Linke auch in Zukunft nur durch Geschlossenheit an der Macht halten kann.9 Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Intellektuellen an dieser Stelle intervenieren und in der überwiegenden Mehrheit die Linie unterstützen, die schon seit längerer Zeit von dem Parteidissidenten Michel Rocard propagiert und mittlerweile wohl auch von Mitterrand und Premierminister Fabius mitgetragen wird: dass auf lange Sicht die Zukunft der Sozialistischen Partei nur in einem Mitte-Links-Bündnis liegen kann.

Mit einem Wort: Die Aktivitäten der Neuen Linken dürften zunehmende Streitigkeiten zwischen Kommunisten und Sozialisten und innerhalb der Sozialistischen Partei zur Folge haben. Und wahrscheinlich auch eine erhöhte Wählerabwanderung aus beiden Lagern.

Französische Intellektuelle und US-Interessen

In der Nachkriegszeit haben französische Intellektuelle einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass auf internationaler Ebene eine feindselige, gegen die US-Politik in Europa und der Dritten Welt gerichtete Stimmung erzeugt und ausformuliert wurde. Ob in Beirut, Lissabon oder Mexico City, einflussreiche intellektuelle Eliten schenkten Salondenkern wie einem Regis Debray Gehör und imitierten deren Geisteshaltung und Vorurteile. Demgegenüber scheinen die antimarxistischen und antisowjetischen Befindlichkeiten der jüngeren Generation französischer Intellektueller eine offenere Haltung zu den Vereinigten Staaten zu erlauben. Das wiederum hat eine Stimmung hervorgerufen, die man tatsächlich als proamerikanisch bezeichnen kann und der Beliebtheit US-amerikanischer Populärkultur, dem Respekt, dem man der Vitalität der US-Wirtschaft entgegenbringt und der Bewunderung für das neue selbstbewusste Image, das die USA weltweit ausstrahlen, zugrunde liegt.

In Frankreich ist der Antiamerikanismus, der früher in der guten Gesellschaft als Zeichen von Geschmack und Bildung galt, aus der Mode geraten. Das reflexhafte Verurteilen der Vereinigten Staaten – von den Intellektuellen der Neuen Linken mittlerweile als „primitiven Antiamerikanismus“ bezeichnet – wird heutzutage mit der kommunistischen Tageszeitung l’Humanite assoziiert und gilt als schlechter Stil. Früher diente der Antiamerikanismus auch als Distinktionsmerkmal einer bestimmten Geisteshaltung, mit der sich Intellektuelle von den gewöhnlichen Leuten abgrenzten (die generell im Verdacht standen, eine gute Meinung von den Vereinigten Staaten zu haben, selbst während des Vietnamkrieges). Heutzutage ist genau das Gegenteil der Fall; den USA – oder sogar ihrer Politik – gute Seiten abzugewinnen, gilt als Indiz für ein reifes Urteilsvermögen. Dagegen werden die vereinzelten Bemühungen, eine grundsätzliche und pauschale Kritik an der US-Politik wieder hoffähig zu machen, als durchsichtige Versuche bewertet, von dem eigentlichen, legitimen Ziel der Kritik abzulenken: der Sowjetunion.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das herrschende geistige Klima sehr große Schwierigkeiten bereiten, unter den intellektuellen Eliten für eine ernstzunehmende Opposition gegen die US-Politik wie z.B. in Zentralamerika zu mobilisieren. Genauso wahrscheinlich wird diese Stimmung dazu führen, dass antiamerikanisch eingestellte Intellektuelle in Europa, insbesondere in Skandinavien und Westdeutschland, die kraftvolle Führung verlieren, die sie früher in ihren französischen Kollegen hatten (beispielsweise während des US-Engagements in Vietnam) und dass ihnen die nötige Unterstützung verwehrt bleibt, um einen westeuropäischen Konsens in transnationalen Angelegenheiten wie der Abrüstung zu schaffen. Die hitzige Debatte in der westdeutschen Presse zwischen Glucksmann und tonangebenden deutschen Intellektuellen über den Pazifismus und die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen liefert zum einen ein anschauliches Beispiel für die Distanz, die zwischen den beiden Lagern liegt und zum anderen für das Vermögen und die Bereitschaft der Neuen Linken, schlagkräftige Argumente gegen Einstellungen zu finden, die den Sowjets in die Hände spielen. Die US-Politik ist in Frankreich ganz gewiss nicht immun gegen die Kritik einflussreicher, auch rechter Intellektueller, aber es ist ganz eindeutig die Sowjetunion, die sich in der Defensive befindet und zumindest auf mittlere Sicht aus dieser Defensive nicht herausfinden wird.

Anmerkung der Übersetzerin: Seite 13 des Dokuments fehlt.
 

Appendix A

Kulturelle Aspekte im Denken der Neuen Rechten

In den eher esoterisch ausgerichteten Randbereichen des Spektrums neurechter Intellektualität werden erstaunliche Energien auf die Forderung nach einer kulturellen Erneuerung verwendet. Behauptet wird, das Grundübel in Frankreich bestehe in einer durch Fremdeinflüsse und mangelnden Pflege bedingten kulturellen Erosion. Konservative Autoren, von denen einige in dem Theoriezirkel GRECE („Forschungs- und Studiengruppe für die europäischen Zivilisation“) und dem „Club d’Horloge“ verkehren – beide Zirkel setzen sich vornehmlich aus jungen Absolventen der französischen Eliteuniversität für Verwaltung ENA zusammen – haben in den Publikationen des Verlegers Hersant ein Sprachrohr für ihre Inhalte gefunden, vor allem in der Zeitschrift Figaro Magazine, die von Louis Pauwels, einem GRECE-Sympathisanten herausgegeben wird.

Pauwels und zwei seiner Schützlinge, Jean-Claude Valla und Alain de Benoist, haben ganze Arbeit geleistet, um der Neuen Rechten ein schrilles, überzogen elitäres Ethos zu verleihen. Unter der Weisung von Benoist klagen sie an, der kulturelle Niedergang Frankreichs sei direkt auf den Egalitarismus zurückzuführen, also auf die angeblich unvernünftige Leugnung der angeborenen Überlegenheit mancher und auf die Mediokrität der kleinen Leute, die man der französischen Gesellschaft aufgezwungen habe. Pauwels und andere dienen als Impulsgeber einer rechtsgerichteten Anthropologie, die jenseits der Französischen Revolution das Christentum als Urgrund einer egalitären Verweichlichung in den Blick nimmt, an der die europäische Zivilisation angeblich leiden soll. Pauwels und Benoist haben an mehreren Stellen die „Einsicht in das Eliteprinzip“ der vorchristlichen Gesellschaften Europas als Quelle kultureller Werte gepriesen, an denen sich die modernen Europäer zum Zweck einer Wiedergeburt und Erneuerung ihrer Zivilisation orientieren sollten.

Die Nachdrücklichkeit, mit der die Rationalität des Eliteprinzips betont wird, passt hervorragend zu der Vorliebe der Neuen Rechten für den klassischen Liberalismus und der Vision einer Gesellschaft, in der der Staat es ablehnt, den Bürgern eine künstliche Gleichheit aufzuzwingen und in der es den Individuen freisteht, ihr Potential voll auszuschöpfen. Einige Intellektuelle der Neuen Rechten bringen auch das Argument vor, die Konstruiertheit des Egalitarismus zwinge den Staat in die Rolle, mit plumpen Mitteln eine gleichmacherische Agenda durchzusetzen. Darin, so meinen sie, habe der Totalitarismus seine Wurzeln.

Der Elitarismus im Denken der Neuen Rechten ist mit ziemlicher Sicherheit ein wichtiger Grund, dass bisher nur wenige französische Intellektuelle ihren Weg vom linken Lager zu GRECE gefunden haben.10 Unserer Ansicht nach bestehen trotz gelegentlicher Bündnisse und Überschneidungen in den Ansichten auch in Zukunft kaum Aussichten darauf, dass viele diesen Weg einschlagen werden. In letzter Zeit mögen zwar neurechte Intellektuelle neben den antiegalitären auch die antichristlichen Elemente im Denken der GRECE und des „Club d’Horloge“ herunterspielen, aber linke Intellektuelle und auch Konservative wie Revel, die sich selbst als „Männer der Linken“ verstehen, bleiben dem Gleichheitsgedanken, in dem sie die Essenz der demokratischen-republikanischen Tradition in Frankreich sehen, eng verbunden. Konservative Politiker meiden feierliche Anlässe des „Club d’Horloge“, auf denen sie ihren Getreuen die Hände schütteln müssten, und derzeit werden selbst von Pauwels nur vereinzelt Betrachtungen über die Vorzüge heidnischen Elitedenkens angestellt.
 

Reaktionen auf die Neue Rechte

Die Reaktionen auf die kontroversen Positionen in sozialen und ethischen Fragen, die von den Denkern der Neuen Rechten vertreten werden, fallen sehr unterschiedlich aus. Von marxistischen Intellektuellen, die den einseitigen Ideen der Linken die Treue halten, werden sie kategorisch abgelehnt; andere, die weder der Neuen Rechten noch Kreisen der traditionellen Linken angehören, können dem einen oder anderen Ansatz etwas Positives abgewinnen. Regis Debray beispielsweise, der nach wie vor für die Ideologie und Agenda der Linken Propaganda macht und Mitterrand (gelegentlich) in außenpolitischen Fragen berät, verfasst Hetzschriften gegen intellektuelle Renegaten, in denen er sie bezichtigt, zugunsten einer Profilierung als aalglatte Medienfiguren („Medienintellektuelle“) den schriftlichen Diskurs aufgegeben zu haben. Insbesondere den Neuen Philosophen macht er zum Vorwurf, sie haben sich vom Medium Fernsehen zu seichten Schwätzern abrichten lassen, die nicht mehr in der Lage seien, einen präzisen und klaren philosophischen Gedanken zu Papier zu bringen.*

Raymond Aron, der ehrwürdige Grandseigneur konservativen Denkens in Frankreich, verabscheute die Intellektuellen der Neuen Rechten und setzte an mehreren Stellen deren elitären Antiegalitarismus mit den übelsten antidemokratischen Exzessen des französischen Konservatismus gleich. Annie Kriegel teilte Arons Befürchtung, die Feindseligkeit der Neuen Rechten gegenüber fremden kulturellen Einflüssen und deren Denken über Genetik, Vererbung und Ethnologie beherberge rassistische und faschistische Ressentiments.

Aber Aron ist mittlerweile verstorben, Debray wird als Denker nicht mehr ernst genommen und Kriegel verfügte zu keinem Zeitpunkt über eine größere Anhängerschaft in der Öffentlichkeit. In der Auseinandersetzung mit diesen Kritikern kann die Neue Rechte auf den Respekt Foucalts verweisen, dem derzeit tiefgründigsten und einflussreichsten Denker Frankreichs, der den rechten Aufsteigern unter anderem dafür ein Lob ausgesprochen hat, dass sie die Philosophen an die „blutigen“ Konsequenzen erinnern, die sich aus den rationalistischen sozialwissenschaftlichen Theorien der Aufklärung im 18. Jahrhundert und des Zeitalters der Revolutionen ergeben haben.

*Debrays Buch „Voltaire verhaftet man nicht. Die Intellektuellen und die Macht in Frankreich“ ist nichts anderes als eine einzige ausufernde Hetztirade auf linksintellektuelle Renegaten und die Rechten, mit denen sie sich gelegentlich verbünden.


Appendix B

Wichtige Bücher von Glucksmann und Levy

Andre Glucksmann

  • La cuisiniere et le mangeur-d’hommes (Köchin und Menschenfresser), 1975. Als Kommentar zum Archipel GULAG gelesen ist „dieser Essay über Staatsgewalt, Marxismus und Konzentrationslager“ eine peinlich genaue Untersuchung der katastrophalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der UdSSR, die in einem krassen Gegensatz zu den idealistischen Ansprüchen ihres Führungspersonals steht.

  • Les maitres penseurs (Die Meisterdenker), 1977. Glucksmanns gefeierte Untersuchung über den Einfluss, den die deutsche Philosophie auf die Bildung des deutschen Nationalstaates und auf die deutsche Politik im 20. Jahrhundert ausübte. Der wichtigste Aspekt des Buches besteht in der Herausarbeitung der Beziehungen, die zwischen Philosophen wie Marx und Nietzsche und den Diktaturen der Moderne bestehen.

Bernard-Henri Levy

  • Barbarie a visage humaine (Barbarei mit menschlichem Anlitz), 1977. Levy verortet die Ursprünge des modernen Totalitarismus im Optimismus und Rationalismus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts; in der Aufklärung, so behauptet er, sei der Staat das erste Mal als Agent des Fortschritts bestimmt worden, und in dieser Rolle habe er ausnahmslos die absolute Macht für sich in Anspruch genommen und in dem einen oder anderen Maß die Selbstbestimmung des Individuums eingeschränkt.

Fußnoten

1 Raymond Aron, einer der wenigen bedeutenden Denker, die sich dieser Vereinnahmung widersetzten, verurteilte die Affinität seiner Kollegen zu der Linken – insbesondere die Kriecherei, mit der sie Gräuel wie die stalinistischen Säuberungen und die Niederschlagung des Ungarnaufstands billigten oder die Scheinheiligkeit, mit der sie eine Farce wie den Personenkult um Stalin rechtfertigten. Aron zog in seiner Analyse dieses Phänomens – Das Opium der Intellektuellen (1955) – den Schluss, dass die damaligen Linken, insbesondere die Kommunisten, die Loyalität der Intellektuellen gewinnen und für sich behaupten konnten, weil sie zwei tief empfundene Bedürfnisse bedienten: Sie bestätigten die Intellektuellen in ihrer politischen Relevanz und sie organisierten einen Rahmen, in dem die Intellektuellen ihrem unkontrollierten Hang zur Kritik uneingeschränkt nachgehen konnten.

2 Gallo war eine Zeitlang vom richtigen Kurs abgedriftet und verfasste ein Buch, in dem er unter anderem Kritik an dem PCF übte. Als die sozialistische Tageszeitung Le Matin den Besitzer wechselte, wurde Gallo Chefredakteur des Blatts – auf Drängen Mitterrands, wie manche spekulieren. Ein Kollege erzählte Mitarbeitern der US-Botschaft, dass Gallo in seinen Artikeln die Regierung verteidigt und für eine Unterstützung der Linken agitiert, was aber kaum irgendwelche Auswirkungen hat.

3 Nach monatelangen und intensiven Protesten haben Studenten im Mai und Juni 1968 im Universitätsviertel von Paris Barrikaden errichtet und in den Straßen des Quartier Latin für kurze Zeit einen Guerillakrieg ausgelöst. Der Protest weitete sich auf die anderen Universitätsstädte aus; 7 Millionen streikende Arbeiter besetzten Fabriken und schlossen sich den Studenten an; der öffentliche Verkehr kam zum Stillstand und die öffentlichen Dienste wurden bestreikt; und die seit zehn Jahren herrschende Regierung General de Gaulles geriet ins Wanken. Marxistisch orientierte Studenten erwarteten von der Kommunistischen Partei, dass sie die Führung übernahm und eine provisorische Regierung ausrief. Aber die PCF-Führung war zu diesem Zeitpunkt schon darum bemüht, mäßigend auf die revoltierenden Arbeiter einzuwirken und denunzierte die radikalen Studenten als anarchistische Wirrköpfe. Einige Studenten kamen zu dem Ergebnis, dass de Gaulle, der die Aufstände letztlich niederschlagen sollte, mit den Kommunisten einen Deal abgeschlossen haben muss.

4 Anmerkung der Übersetzerin: Der Begriff „Savant“ kann aus dem Englischen mit „Savant“, „Gelehrter“, aber auch „Inselbegabter“ übersetzt werden.

5 Althusser, Glucksmanns und Levys Mentor an der ENS, erwürgte 1980 seine Frau und verbrachte die nächsten fünf Jahre im Gefängnis. Sartre gab in seinem letzten, im Fernsehen übertragenen Interview zu, dass der Marxismus gescheitert ist.

6 Anmerkung der Übersetzerin: Fußnote fehlt im Dokument.

7 In ihren bekannten Büchern behaupten Glucksmann und Levy (siehe Appendix B), dieser Apparat nähre sich von der Naivität der Menschen und den Sophistereien korrumpierter Intellektueller. Eigentlich, so schreibt Levy, „[i]st die einzige erfolgreiche Revolution in diesem Jahrhundert die des Totalitarismus“ gewesen, als dessen unübertrefflicher und langlebigster Meister sich der Sowjetstaat erwiesen habe. Daher auch die von Glucksmann in Umlauf gebrachte Gleichsetzung der Neuen Philosophen: „Hitler = Stalin, Stalin = Hitler.“

8 Jack Lang handelte sich 1981 mit seiner berühmten Attacke auf den „amerikanischen Kulturimperialismus“ und späteren Einberufung einer internationalen Konferenz linker Intellektueller beißende Kritik ein. Insbesondere das Wall Street Journal verwies auf die vor allem im Vergleich zu US-amerikanischen Leistungen eher dürftige Produktivität der französischen Kultur hin. Diese negativen Reaktionen waren der Anlass zu einer gründlichen Selbstkritik seitens französischer Intellektueller wie Besancon oder Riglet.

9 Die Sozialisten unter Mitterrand profitierten 1981 in viel stärkerem Maß von Jacques Chiracs Neogaullisten, von denen 16 % lieber zu Hause blieben statt Giscard d’Estaing zu wählen und von den 5 % der Wähler aus der Mitte, die bisher Giscard d’Estaing gewählt hatten, aber diesmal mit ihrer Stimme den Sozialisten eine Chance geben wollten.

10 Mit zwei Fastausnahmen: Glucksmann und der Publizist Jean-Edern Hallier legen eine Neigung zu völlig irren Behauptungen an den Tag, die oft den Eindruck erwecken, sie seien direkt von GRECE übernommen worden. Annie Kriegel schreibt zwar für die Tageszeitung Figaro des rechten Verlegers Hersant, das aber in ihrer Eigenschaft als Kritikerin der Linken und nicht als Vertreterin neurechter Ideen.

Editorischer Hinweis:
Dieser CIA-Bericht findet sich im Netz unter
https://www.cia.gov/library/readingroom/docs/CIA-RDP86S00588R000300380001-5.PDF

Die Weitergabe der deutschen Übersetzung ist ausdrücklich erwünscht.