Die empirische
soziologische Forschung sieht sich vor die
Problematik gestellt, daß sie es mit unmittelbaren
konkreten Gegebenheiten — Menschen,
Verhaltensweisen, Ereignissen usw. — zu tun hat.
Diesem Objekt gegenüber sind zwei Arten der
Interpretation möglich. Entweder diese Objekte
werden in ihrer Unmittelbarkeit hingenommen und
verabsolutiert. Die weitere Analyse hat dann den
Nachweis von Beziehungen zwischen ihnen zum
wesentlichen Inhalt. Das heißt, unmittelbare
Gegebenheiten werden zum Ausgangspunkt der
theoretischen Arbeit.
Dieses Verfahren
führt unausweichlich zu Idealismus. Von
individuell Handelnden oder individuellen
Handlungen ausgehen bedeutet, ein Element zum
Ausgangspunkt zu wählen, in dem notwendigerweise
ideelle Momente primär sind.(1) In einer
individuellen Handlung gehen Wille, Zweck, Absicht
usw. dem wirklichen Handeln voraus, Das ist eine
Spezifik der menschlichen Existenz und der sozialen
Entwicklung. Soziale Interaktion wird
unmittelbar wesentlich durch ideelle Prozesse
eingeleitet, sie wird bezweckt; ideelle
Faktoren bewirken die tatsächliche Interaktion. Für
den Standpunkt der Unmittelbarkeit verschwindet die
materielle Bedingtheit dieser ideellen Faktoren,
die als gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang, als
soziale Konsequenz und Bedingung des individuelle..
Handelns existiert und begriffen werden muß.
Sekundäres erscheint als Primäres. Die bewegende
Kraft der Ideen verdeckt die sie erzeugende
Grundlage. Sämtliche auf diese Unmittelbarkeit
beschränkten Betrachtungen stoßen auf Prozesse,
die ihrem Gehalt, ihrer Qualität und ihrem Ablauf
nach einem (unmittelbaren) Primat des Bewußtseins
unterliegen. Alle Folgerungen aus diesem
Ausgangspunkt, alle noch so logisch abgeleiteten
Beziehungen vermögen diesen Charakter des
Ausgangspunkts nicht zu ändern. Auf diesem Boden
ist auch keine oder nur eine sekundäre,
abgeleitete, nachträgliche Objektivität möglich,
jene „Objektivität", die in der bloßen
Verselbständigung psychischer Beziehungen dem
Individuum gegenüber besteht.
Die zweite
Möglichkeit, die Objekte der soziologischen
empirischen Forschung zu interpretieren, begreift
diese Objektive als vermittelt. Vermittelt
allerdings nicht einfach durch die unmittelbaren
Beziehungen: das ist faktisch der höchste und
einzige Standpunkt, zu dem die bürgerliche
soziologische Theorie sich aufschwingt. Die
Individuen werden „verstanden" aus ihrer Familie,
ihren individuellen Beziehungen zu den
Arbeitskollegen, zu den Nachbarn, vor allem aber
(Parsons) auf Grund der Beziehungen, die sich aus
den Erwartungen ihrer unmittelbaren Umgebung in
bezug auf sie persönlich oder ihre Gruppe bilden.
Es geht vielmehr darum, diese unmittelbaren
Beziehungen selbst als vermittelt zu begreifen.
Alles hängt davon ab, zu den ursprünglichen
Beziehungen vorzustoßen, die
das Ganze der verschiedensten Beziehungen bedingen
und bestimmen, die in ihrer Gesamtheit das
gesellschaftliche Leben ausmachen. Das sind die
materiellen Beziehungen des gesellschaftlichen
Lebens.
Selbstverständlich
kann die Gegenüberstellung dieser beiden
Standpunkte nicht absolut sein. Der objektiven
Realität entspricht der Standpunkt, der
Unmittelbarkeit und Vermittlung als Einheit zweier
unterschiedener und zusammengehörender Momente
begreift (2). Es geht nicht
darum, die Beschränkung auf die Unmittelbarkeit
mit einer Beschränkung auf die Vermittlung zu
vertauschen. Es geht vielmehr darum, der
Beschränkung auf die Unmittelbarkeit die Einheit
von Unmittelbarkeit und Vermittlung
entgegenzusetzen. Es geht darum, von dieser Seite
her, mit Hilfe dieser dialektischen
Kategorien, einen der wesentlichen Fehler der
gegenwärtigen bürgerlichen soziologischen Theorie
bewußt zu machen bzw. die Überwindung dieses
Fehlers durch den dialektischen und historischen
Materialismus als Theorie und Methode zu
verdeutlichen. (Wir gehen sicher nicht fehl in der
Annahme, daß die u. a. von Helmut Schelsky
aufgegriffene Diskussion über die
erkenntnistheoretischen Prämissen der Soziologie,
über das Verhältnis von Alltagsbewußtsein und
theoretischem Denken, über primäre Sozialerfahrung
des „Jedermann" und des „Soziologen", über
persönliche und „verwissenschaftlichte
Primärerfahrung" als Ausdruck des Unbehagens über
die Beschränkung auf die Unmittelbarkeit zu werten
ist.(3) Die Klassiker des
Marxismus-Leninismus haben sich dieser
dialektischen Kategorien nicht selten und in nicht
unwesentlichem Zusammenhang bedient(4)
Daß sie in der gegenwärtigen marxistischen
Literatur sehr selten verwendet werden, ist um so
weniger begründet, als sie dadurch effektiv
Kritikern des Marxismus überlassen werden.(5)
Lenin schrieb in den neunziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts: „Bisher verstanden es die Soziologen
nicht, zu den einfachsten und ursprünglichsten
Beziehungen, wie es die Produktionsverhältnisse
sind, vorzudringen und wandten sich unmittelbar
(von mir hervorgehoben — E. H.) der
Erforschung und Untersuchung der
politisch-juristischen Formen zu, dabei stießen sie
auf die Tatsache, daß diese Formen aus diesen oder
jenen Ideen der Menschheit zu der betreffenden
Zeit entstanden sind — und blieben dabei stehen..."(6)
Daran hat sich nur geändert, daß bei den
bürgerlichen Soziologen der Gegenwart die Analyse
der unmittelbaren Zusammenhänge der Individuen in
kleinen Gruppen im Mittelpunkt steht. Man darf also
nicht — das ist der Kern dieses methodischen
Fehlers — das konkrete Substrat der Gesellschaft
(den unmittelbaren Ausgangspunkt der Vorstellungen
und Anschauungen der Individuen — die erste soziale
Erfahrung der Menschheit nach Homans) mit dem
Ausgangspunkt der Theorie verwechseln. Der
unmittelbare Ausgangspunkt der Vorstellungen und
Anschauungen ist vielfach vermittelt. Diese
Vermittlungen aufzudecken und dadurch zum
Ausgangspunkt der Theorie vorzustoßen, ist
Aufgabe der Untersuchung.
Andererseits steht —
wie das an mehreren Stellen dieser Arbeit bereits
angedeutet wurde — der soziale und ideologische
Sinn der Beschränkung auf die Unmittelbarkeit außer
Zweifel. Die Beschränkung der
sozialwissenschaftlichen Analyse und — im Gefolge
davon — der alltäglichen Erfahrungsbildung und
Erkenntnis auf die Unmittelbarkeit der psychischen
Beziehungen bzw. auf im wesentlichen psychische
Beziehungen der unmittelbaren Umwelt des einzelnen
Individuums bedeutet eine Verabsolutierung des
Status quo. Denn das über den gegebenen Zustand
Hinausweisende entsteht als Produkt der inneren,
wesentlichen Widersprüche und materiellen
Entwicklungstendenzen des betreffenden Systems. Es
kann nicht begriffen werden, ohne daß man den Blick
auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge richtet.
Die Unmittelbarkeit der gegebenen alltäglichen
Beziehungen erweist sich diesen wesentlichen
vermittelnden inneren Tendenzen und Beziehungen
gegenüber als äußere Hülle, als Oberfläche, als
Erscheinung, die sich unter dem Einfluß der
wesentlichen Widersprüche ändert. In der auf die
Unmittelbarkeit fixierten Betrachtungsweise
hingegen erscheint das, was dem Gegebenen
widerspricht, ihm zuwiderläuft, als Fremdkörper,
als das Unnormale und Unvermittelte.
So erweist sich auch
die Beschränktheit und Untauglichkeit des
dogmatischen konformistischen Schemas, nach
dem die Menschen in ihren Orientierungen
ausschließlich dahin tendieren, günstige,
vorteilhafte Reaktionen ihrer unmittelbaren Umwelt
hervorzurufen. Natürlich sollen hier weder die
Existenz noch die Bedeutung derartiger Mechanismen
geleugnet werden. Aber diese Bedeutung ist relativ.
Das Schema versagt zwangsläufig, wenn es zum
einzigen methodischen Prinzip der soziologischen
Analyse aufgebläht wird. Ganz abgesehen davon, daß
bei der allgemeinsoziologischen Verwendung dieses
Prinzips völlig von den Konsequenzen abstrahiert
wird, die sich aus der faktischen Klassenspaltung
einer antagonistischen Gesellschaft ergeben (indem
dieses Schema die Klassenspaltung überlagert und
verdeckt, trägt es nicht unwesentlich zu ihrer
Konservierung bei!), wird es den tatsächlichen
Entwicklungsprozessen und dem Wirken der
Triebkräfte auch einer nicht in antagonistische
Klassen gespaltenen Gesellschaft keinesfalls
gerecht. In diesem Schema
ist kein Platz für Motivierungen oder Handlungen,
die aus der Einsicht in allgemeinere, den Rahmen
der unmittelbaren Umgebung sprengende
Zusammenhänge und Erfordernisse der individuellen
Existenz resultieren und die seitens dieser
unmittelbaren Umwelt nicht selten entschieden
abgelehnt, verurteilt und mißbilligt werden. Der
Moral wird lediglich die Rolle eines Hüters des
häuslichen, des nachbarlichen oder des
Arbeitsfriedens zugebilligt. Und es ergibt sich
eine weitere, nicht eben sehr humanistische
Konsequenz. Wenn das einzelne Individuum darauf
orientiert wird, sich in seinem Handeln und
Verhalten ausschließlich nach den festgelegten
Erwartungen und Maßstäben seiner unmittelbaren
Umgebung zu richten, dann wird ihm die Möglichkeit
genommen, aktiv, schöpferisch, als Subjekt der
sozialen und historischen Entwicklung tätig zu
werden. Denn dies setzt voraus, daß allgemeine,
gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, Prozesse und
Gesetzmäßigkeiten als Bestimmungsgrund des
individuellen Handelns akzeptiert werden, daß Sinn
und Funktion der soziologischen Theorie nicht
zuletzt in der Aufdeckung dieser Vermittlungen und
Hintergründe des Unmittelbaren gesehen und der
einzelne in die Lage versetzt wird, die Relativität
seiner unmittelbaren Umgebung, ihre relative
Position in der sozialen Gesamtentwicklung, ihr
Zurückbleiben oder Vorauseilen selbständig
einzuschätzen.
Aber nicht nur
das. Angesichts der wirklichen Verhältnisse in der
kapitalistischen Gesellschaft wird unter diesen
Voraussetzungen die Soziologie zu einer wirksamen
Methode der Manipulation des Menschen durch die
jeweils herrschenden Klassen und Schichten. Diese
halten sich nämlich erfahrungsgemäß keineswegs an
die Empfehlungen und Rezepte des Modells jener
universellen Übereinstimmung und Zufriedenheit.
Sie setzen ihre spezifischen Gebote und Normen als
Regulatoren der unmittelbaren Verhältnisse. Die
Soziologie verwandelt sich so in
Herrschaftstechnik und die Individuen, die nicht
den herrschenden Klassen angehören, in deren
Objekt.
Anmerkungen
1)
„Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muß
durch ihren Kopf hindurch . . . Wie beim einzelnen
Menschen alle Triebkräfte seiner Handlungen durch
seinen Kopf hindurchgehen, sich in Beweggründe
seines Willens verwandeln müssen, um ihn zum
Handeln zu bringen . . ." (K. Marx ,1 F. Engels.
Werke, Bd. 21, Berlin 1962. S. 296 ff.)
2) Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften, Leipzig 1949. §
65f. 3)
H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen
Soziologie. Düsseldorf-Köln 1959, S. 67 ff.;
Handbuch der empirischen Sozialforschung, hrsg. v.
Ren* König, Bd. I, Stuttgart 1962, S. 6, 11, 80; E.
Dürkheim, Regeln der soziologischen Methode.
Neuwied 1961, S. 47, 63.
4)
Vgl. u. a. K. Marx /
F. Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 835, 847:
K. Marx. Grundrisse der Kritik der politischen
Ökonomie, Berlin 1953 (weiter zitiert als:
Grundrisse), S. 61, 152, 159, 600, 605, 928.
5) Vgl. J.-P. Sartre, Marxismus und
Existentialismus, Hamburg 1964. S. 32 ff.
6) W.
I. Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 129.
Quelle: Erich Hahn, Soziale Wirklichkeit und
soziologische Erkenntnis, Berlin 1965, S. 146-151
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