Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Umstrittenes Überwachungsgesetz steht dicht vor der Verabschiedung

5-6/2015

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Das nennt man einen geschickten politischen Schachzug, doch einen durchschaubaren. Anlässlich seines Fernsehauftritts am Sonntag, den 19. April 15 beim Privatsender Canal + kündigte Frankreichs Staatspräsident François Hollande an, er werde selbst das Verfassungsgericht anrufen, gegen einen der umstrittensten Gesetzestexte, die sich in dieser Legislaturperiode im Abstimmungsverfahren befinden. Das ist ein Novum: Noch nie hat ein amtierender Präsident die Verfassungsrichter gegen einen Gesetzentwurf, der von seiner „eigenen“, ihm unterstellten Regierung kam, angerufen.

Es geht um das geplante Gesetz zum Nachrichtendienstwesen und zur Nachrichtenerfassung, das in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag, den 16. April d.J. in erster Lesung durch die französische Nationalversammlung angenommen wurde. Verabschiedet wurde es mit nur 25 Ja- bei fünf Neinstimmen, nach einer Debatte, die tagelang vor beinahe leeren Parlamentsbänken stattgefunden hatte. Erstaunlich angesichts der Wellen, die die Diskussion um diesen Entwurf in der Gesellschaft und in vielen Medien schlägt. Nun steht die definitive Verabschiedung in der französischen Nationalversammlung am Dienstag, den 05. Mai 15 an. Am Vorabend wird dazu ab Montag um 18.00 Uhr eine größere Protestkundgebung auf der Höhe des Invalidendoms in Paris stattfinden.

Zurück zu François Hollandes Ankündigung: In Wirklichkeit geht es bei ihr jedoch Ankündigung vor allem darum, eventuellen anderen Verfahren von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Verfassungsbeschwerden einzelner Bürgerinnen und Bürger sind in Frankreich erst seit einer Verfassungsreform vom Juli 2008 möglich, zuvor waren Beschwerden gegen einzelne Gesetze wegen mangelnder Verfassungskonformität dem Parlament und den Spitzen der Exekutive vorbehalten. Doch in diesem Fall drohte sich bereits eine Vielzahl einzelner Rechtsbeschwerden anzubahnen. François Hollande lässt nun gewissermen vorbeugend die Luft heraus, um den Druck wegzunehmen. Unklar ist zur Zeit noch, ob die konservative Opposition an ihren eigenen Plänen für eine parlamentarische Verfassungsklage aus ihren Reihen aufrecht erhalten wird oder nicht.

Laut Innenminister: „Keine Eingriffe in Grundrechte“ – Aber nur, weil er das Privatleben nicht als solches zählt...

Der Gesetzentwurf hat es in sich. Er legalisiert allerlei technisches Spielzeug, das, wie die Befürworter scheinbar beruhigend als Argument anführen, zum Teil ohnehin bereits im Einsatz befindlich war, nunmehr jedoch „legalisiert“ wird - und damit, so fügen sie hinzu, einem Mindestman Kontrolle unterstellt wird. In Wirklichkeit beruhigt das Argument, Vieles sei bislang ohnehin illegal durchgeführt worden, die meisten Kritikerinnen und Kritiker nicht gerade. Auch andere Argumente von Regierungs- oder Befürworterseite haben nicht die ruhigstellende Wirkung, die vielleicht von ihren Urhebern erhofft worden war. So hielt Innenminister Bernard Cazeneuve den Gesetzesgegnern im Parlament entgegen, der Text greife „in keines der Grundrechte ein, in kein einziges Grundrecht, wohl aber greift er ins Privatleben ein“, wenngleich – wie er hinzufügte – in kontrolliertem Ausmaß. Volltreffer: Das Recht auf eine geschützte Privatsphäre zählt selbstverständlich zu den Grundrechten, wie die Opponenten sofort geltend machten. Cazeneuve rief im Parlament auch aus, angesprochen auf einen kritischen Artikel in der Internetzeitung Rue89: „Ich glaube grundsätzlich nicht, was in den Medien geschrieben steht.“ Was unter dem Aspekt des demokratischen Pluralismus auch von vielen Seiten kritisch aufgefasst wurde, da es als pauschale Herabsetzung formuliert war.

Zu den meistdiskutierten Gesetzesartikeln zählt der Artikel 2 des Entwurfs, der Internetprovider zwingt, so genannte ,boîtes noires’, also „black boxes“ zu unterhalten und den gesamten Datenverkehr durch diese Vorrichtungen durchlaufen zu lassen. Anhand von Algorithmen, also Datenprofilen, die etwa auf der Verwendung von wiederkehrenden Stichwörtern oder Wortkombinationen beruhen, soll dann herausgefiltert werden, welche Userinnen oder User künftig einer Observation durch die Nachrichtendienste unterzogen oder zumindest in ihrem Internetverhalten beobachtet werden sollen. Die Journalistin, die zum so genannten Islamischen Staat (IS) recherchiert, droht dabei jedoch viel eher im ausgelegten Schleppnetz hängen zu bleiben als der kluge Jihadist, der einschlägige Webseiten nicht von zu Hause aus besucht, sondern als anonymer Gast in Internetcafés, und auf dem eigenen Computer nur etwa nach der Einkaufsmöglichkeit für Düngemittel sucht. (Die so genannte Vorratsdatenspeicherung – für eine Dauer von zwölf Monaten, bei allen Providern – ist in Frankreich bereits seit 2006 gesetzlich verankert worden. Vgl. dazu die Debatte von Ende 2005 um das damals in der Verabschiedung befindliche so genannten Anti-Terrorismus-Gesetz: http://jungle-world.com/artikel/2005/49/16516.html)

Kritisiert wird von der Phalanx der Entwurfsgegner, das grundsätzlich jeglicher Datenverkehr auf diese Weise beobachtet werden soll, unabhängig von jeglichem Anfangsverdacht. Zwei erste Provider, die die bislang vor allem für Kollektivnutzer wie Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und NGOs interessanten Dienste Eu.org und Altern.org anboten, haben just Anfang dieser Woche erklärt, sich nun aus Frankreich zurückzuziehen und sich lieber in „die Grundrecht stärker respektierenden Ländern“ anzusiedeln. Erst kurz zuvor hatte Altern.org noch 40 Millionen Dollar in der nordfranzösischen Krisenstadt Roubaix investiert.

Frankreich reiht sich damit in die Reihe der so genannten five eyes ein, zu denen bislang die USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland aufgrund ihrer technisch hochentwickelten Überwachungspraxen im Datenverkehr – und ihrer Kooperation untereinander dabei – gerechnet wurden.

Der Entwurf enthält aber noch andere brisante Vorhaben. So soll den Polizei- und Nachrichtendiensten die Nutzung so genannter Imsi-Cachers erlaubt werden, wobei dieser Begriff die Abkürzung für International Mobile Suscriber Identity (Imsi) enthält. Der Einsatz solcher Geräte kann bislang in Frankreich nicht auf eine gesetzliche Grundlage gestützt werden. (In der BRD gilt als er vom § 100i der Strafprozessordnung, welcher am 14. August 2002 in Kraft trat, juristisch abgedeckt. Laut einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. August 2006 hat er als grundrechtskonform zu gelten. Auch in der Schweiz befinden solche Geräte sich bereits heute legal im Einsatz.)

Dabei handelt es sich um mit einem Bildschirm ausgestattete Geräte, die tragbar sind und sich unerkannt in den Funkverkehr zwischen einem Mobiltelefon und einer Relaisstation einschalten, um entweder den Inhalt von Gesprächen aufzuzeichnen oder jedenfalls Verbindungsdaten. In einem Umkreis von 500 Metern, entweder um den Tatort eines Verbrechens oder auch – theoretisch denkbar – etwa rund um eine Demonstration, kann entweder die Kommunikation zwischen zwei identifizierten Usern genau aufgezeichnet, oder aber können die Verbindungsdaten aller Telefonnutzer gesammelt und gespeichert werden. Wer allerdings genügend Geld hat, um es in technische Gegenmaßnahmen zu investieren, kann durch Zugriff auf so genannte Monitor-Software - zumindest gegenüber einfacheren Apparaten - deren Einsatz aufspüren: Die Software sorgt dafür, dass das Einloggen der Imsi-Catcher in den Datenverkehr Spuren hinterläst. Allerdings dürften die Polizei- und Nachrichtendienste heute über fortgeschrittenere Varianten von Imsi-Catchern verfügen, die nur „halbaktiv“ sind und sich schwerer nachweisen lassen.

Einer der Clous dabei ist, dass das Gerät nicht registriert, welche Anfragen an es gerichtet wurden, also welchen Gebrauch Polizeibeamte oder Nachrichtendienstler damit genau betrieben. Jegliche Missbrauchskontrolle ist damit unmöglich. Lediglich der Preis, bislang kostet ein solcher Apparat 375.000 Euro, dürfte von einer allzu flächendeckenden Nutzung abhalten. Innenminister Cazeneuve erklärte versichernd, aufgrund des hohen Missbrauchsrisikos würde die Speicherung aller Nutzungsdaten für die Geräte zentralisiert und ausschließlich beim Amt des Premierministers angesiedelt. Nur leider hatte derselbe Minister zuvor in einer Parlamentskommission eingeräumt, bislang existiere die Technologie für eine solche Zentralisierung noch gar nicht, diese sei „noch nicht entwickelt“.

Sozialdemokratischer Opportunismus, seltsame Allianzen

Im Jahr 2009 waren die damals oppositionellen Sozialdemokraten gegen vergleichbare Vorhaben der seinerzeitigen Rechtsregierung noch Sturm gelaufen. Heute sind es umgekehrt die oppositionellen Konservativen, die sich in die Pose der Verteidigung bedrohter Bürgerrechte aufschwingen, weswegen es zu seltsamen Koalitionen im Parlament zwischen konservativen Ex-Ministern wie Hervé Morin (rechtsliberaler Ex-„Verteidigungsminister“) und sozialdemokratischen „Abweichlern“ vom linken Parteiflügel gekommen ist. Ähnlich argumentiert theoretisch auch der Front National, der in der Praxis jedoch einfach der Abstimmung fern blieb. Eine Ausnahme bildet der rechtskonservative Abgeordnete Eric Ciotti von der Côte d’Azur, der bislang noch jede rechtspolitische Vorlage verschärfen musste und rein aus Prinzip für eine Verstärkung repressiver oder überwachungsstaatlicher Maßnahmen eintreten muss.

Die politische Linke diesseits der Sozialdemokratie sowie die linksliberale „Zivilgesellschaft“ sind weitestgehend scharf gegen den Entwurf positioniert. Mit Ausnahme einiger Berufsopportunisten, wie etwa des verzweifelten grünen Ministeramts-Anwärters François de Rugy (welcher schwer auf seine Partei – das Bündnis aus Grünen & Linksliberalen, Europe Ecologie-Les Verts oder EE-LV, zürnt; dadurch, dass sie seit April 2014 nicht mehr im Kabinett vertreten sein will, hat sie ihm seine wunderschönen ministeriellen Ambitionen auf unverzeihliche Weise vorläufig versaut). Auf Twitter verkündete de Rugy großspurig infolge von Präsident Hollandes Ankündigung, das Verfassungsgericht anzurufen – die in Wirklichkeit kaum jemanden zu täuschen vermag, s.o. - , dies sei die richtige politische Entscheidung. Und nun würde sich schon herausstellen, was es mit dem (so François de Rugy) „angeblich ,freiheitsfeindlichen’ Charakter“ der Gesetzesbestimmung in Wahrheit auf sich habe. (Soll bedeuten: Wenn die Verfassungsrichter denn sagen sollten, es sei Alles nicht so dramatisch, dann kann es auch nicht schlimm sein.) Angeblich, und Anführungszeichen rund um ,freiheitsfeindlich’: Die Botschaft ist klar, und nicht umsonst hat de Rugy selbst etwa dem besonders umstrittenen Artikel 2 des Gesetzentwurfs – im Unterschied zu mehreren Abgeordnetenkolleg/inn/en derselben Partei – zugestimmt. // Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/ Sicherlich gibt es im linksliberalen Milieu noch einige weitere Figuren, die ähnlich denken und es sich nicht gar so laut zu sagen denken. Aus Rücksicht auf die Sozialdemokratie, und/oder eingeschüchtert durch den Mordanschlag auf die linksliberale und satirische Wochenzeitung ,Charlie Hebdo’ vom 07. Januar 15. Deren frühere Mitarbeiterin (heutzutage schreibt sie nicht länger dort) und manchen Beobachter/inne/n als Liberale, Anderen hingegen als Islamhasserin geltende Journalistin Caroline Fourest hatte sich jedenfalls noch vor wenigen Wochen ausdrücklich für eine Stärkung respektive bessere Ausstattung „unserer“ Nachrichtendienste ausgesprochen, unter Berufung auf das Attentat und vergleichbare Bedrohungen (und ohne den Nachweis zu führen, dass das Attentat auf diese Weise irgendwie hätte verhindert werden können).

In Umfragen zeigt die französische Gesellschaft sich gespalten. Zwar erklären 68 Prozent, dass sie verschärfte Gesetze in diesem Bereich für „notwendig“ halten, und 63 Prozent stimmen grundsätzlich auch „der EinschrÄnkung von Grundrechten“ im Namen des Anti-Terror-Kampfs zu. Doch 69 Prozent erklärten sich am Sonntag, den 19. April d.J. zugleich auch über den Entwurf „besorgt“.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.