Vor 70 Jahren: Befreiung von Hitlerfaschismus
Aktivisten der ersten Stunde
Leseauszug aus: Berlin 1945-1986 (Teil 3)

5-6/2015

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»Am 2. Mai regnete es in Berlin. Es war ein kalter Sprühregen, der die Brände nicht zu löschen vermochte. Tiefhängende, schwere Wolken schwebten über den Ruinen und berührten fast die roten Fahnen auf den Türmen Berlins. In den Morgenstun­den wurde noch gekämpft ... Dieser Tag war gleichsam in zwei Hälften gespalten: in der ersten Hälfte noch blutige Straßen­kämpfe, in der zweiten - eine seltsame, ungewohnte Stille ...  Berlin kapitulierte um drei Uhr nachmittags. Es ergab sich die ganze Garnison: vom sechzigjährigen Volkssturmmann bis zum General der Artillerie Weidling.«(1)

So ist der Tag, an dem ein neues Kapitel in der vielhundert­jährigen Geschichte Berlins aufgeschlagen wurde, dem sowjeti­schen Schriftsteller und damaligen Kriegskorrespondenten Lew Slawin in Erinnerung geblieben.

Als der Kanonendonner endlich verstummt war, stiegen die Berliner aus Verstecken, Kellern, Bunkern und U-Bahn-Schächten ans Tageslicht - bleich und hungrig, krank und vom Elend gezeichnet und voller Furcht vor einer »Vergeltung der Russen«. Die, denen es an Mut und Kraft gebrach, hatten ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Die meisten Menschen besaßen nur noch das, was sie auf dem Leibe hatten oder in Koffern und Rucksäcken bei sich trugen. Die wildesten Gerüchte — Nachwir­kungen der Goebbels-Propaganda - kursierten. »In diesem schockartigen Zustand irrten nun gewaltige Menschenmengen über die Straßen, die einen auf der Suche nach einer neuen Bleibe, die andern, um in die von ihnen verlassenen Häuser zu­rückzukehren. Ihre Blicke sind erloschen, und keiner kann sagen, was in ihrem Innersten vorgeht, denn ihr Bewußtsein war so lange von dem fürchterlichen Gift, einer Mischung von Nationa­lismus und Militarismus, Demagogie und Antisemitismus, kurz, vom Gift des Nationalsozialismus zersetzt.« Diese Beobachtung notierte der namhafte sowjetische Historiker A. S. Jerussalimski, der damals als Sonderkorrespondent der sowjetischen Armeezei­tung »Krasnaja Swesda« in Berlin weilte, unter dem 3. Mai 1945 in sein Tagebuch.(2)
Zur gleichen Stunde zogen in langen Kolonnen deutsche Kriegsgefangene, physisch und moralisch am Ende, aus der Stadt. Auf Sammelplätzen erhielten verwundete deutsche Solda­ten eine erste medizinische Hilfe von sowjetischen Sanitätern. Menschen aus den verschiedensten Ländern Europas, darunter viele Polen und Franzosen, die die Faschisten zur Zwangsarbeit in die Berliner Rüstungsbetriebe verschleppt hatten, machten sich singend und ihre Nationalfahnen schwenkend auf den Weg in ihre befreite Heimat. Die Deutschen schauten betreten weg.

In den ersten Friedenstagen strömten zahlreiche sowjetische Armeeangehörige zur Reichstagsruine; in ihr sahen die Rotarmi­sten das Symbol des Sieges über den Faschismus. Auf der breiten Freitreppe und vor der von Kugeln und Granaten durchlöcher­ten Fassade fotografierten sie einander. An die rauchgeschwärz­ten Mauern und Wände des Sitzungssaales und der Wandelhal­len schrieben sie Namenszüge und Nummern von Truppenein­heiten mit dem, was sie gerade zur Hand hatten: Kohle, Bleistift, Kreide, Nägeln, Patronenhülsen. Tausende Inschriften bedeck­ten die Wände bis zur Decke. (Als Ende der fünfziger Jahre die BRD-Regierung beschloß, den Reichstag rechtswidrig zu einer Filiale des Bundestages auszubauen, drohte diesem einzigartigen Siegesandenken Gefahr. Unter den Westberliner Bauarbeitern fanden sich Freunde der Sowjetunion, die Steinplatten mit den interessantesten Inschriften heraussägten und sie Ende 1963 der Botschaft der UdSSR in der DDR überreichten. Heute haben diese Platten einen Ehrenplatz im Moskauer Zentralen Museum der Streitkräfte der UdSSR.) Überall in der Stadt fanden sich die Rotarmisten zu Meetings zusammen. Vorm Brandenburger Tor sprach der Major Jewgeni Dolmatowski, im Zivilleben Lyriker, von einem T-34 herab eigene Gedichte. Man sang und tanzte zu Harmonikaklängen und trank auf den Sieg.

In den Gebieten der Hauptstadt, die bereits seit einigen Tagen befreit waren, ging die Normalisierung des Lebens weiter voran. Zwischen den sowjetischen Kommandanten und den deutschen Antifaschisten, die sich zur Mitarbeit in den Ortsbür­germeistereien und Bezirksämtern bereit erklärt hatten, entwik-kelte sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sowjetische Lautsprecherwagen fuhren durch die Straßen und gaben den Berlinern Befehle und Anordnungen der sowjetischen Militärbe­hörden sowie die neuesten Nachrichten bekannt. Der Historiker Stefan Doernberg, der 1935 in die Sowjetunion hatte emigrieren müssen und als Internationalist während des Krieges Politoffizier in der Roten Armee war, erinnerte sich an solche Einsätze in Schöneweide und Johannisthal: »Außerdem führten wir auf ver­schiedenen Plätzen Veranstaltungen durch, bei denen wir Platten mit deutscher Volksmusik und mit revolutionären Liedern ab­spielten. Viele Hunderte Menschen sammelten sich dann vor un­serem Lautsprecherwagen, und manch einer kam auch heran, um noch persönlich Fragen vorzubringen. Zwar herrschte noch aller­orts Lethargie und Deprimiertheit. Aber das Eis war gebrochen. Die Menschen schöpften, wenn auch vorsichtig, neue Zuversicht. Vor allem aber entstanden auch die ersten Keime eines neuen Verhältnisses zur Sowjetunion.«(3)

Über Lautsprecherwagen vernahmen die Berliner auch die Rede des Vorsitzenden der KPD, Wilhelm Pieck, die der Mos­kauer Rundfunk am 4. Mai 1945 in deutscher Sprache sendete. Sich an die Werktätigen Berlins wendend, sagte Wilhelm Pieck:

»Berlin ist frei von der Nazibande, sie wird und muß restlos vernichtet werden. Aber unser deutsches Volk wird weiterleben. Es gilt jetzt eine gründliche Reinigung vorzunehmen. Mit seiner schmählichen Vergangenheit muß Schluß gemacht werden. Es geht um eine Neugeburt unseres Volkes, um ein Neubeginnen in seinem ganzen Denken und Handeln. Neue Menschen, ein neues Deutschland müssen entstehen, um in Frieden und Freundschaft mit den anderen Völkern zu leben und im deutschen Volke selbst Garantien gegen eine Wiederholung der Aggression von deut­scher Seite zu schaffen.«(4)
Die Kraft, die diese Aufgabe in Angriff nehmen mußte, war die Arbeiterklasse. Nur sie konnte Antifaschisten und Demokra­ten zu einem festen, dauerhaften Bündnis zusammenschließen und ein neues Deutschland aufbauen. Es waren klassenbewußte Arbeiter, die unverzüglich in den neuen Verwaltungsorganen, in den Wohngebieten und Betrieben den Neuaufbau begannen. »Aktivisten der ersten Stunde« war der ehrenvolle Name, den diese Pioniere des Neubeginns später erhielten.

Anfang Mai 1945 machten sich Kommunisten und Sozialde­mokraten zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf den beschwerlichen Weg durch die zerstörte Stadt, um die Verbindung zu ihrer Par­tei zu suchen. Über das Geschehen im Arbeiterbezirk Friedrichs­hain berichtete Heinrich Stark:

»Zirka achtzig der besten Sozia­listen, Kämpfer unseres Bezirkes, waren in den zwölf Jahren des Hitlerfaschismus dem Henker zum Opfer gefallen. Und trotz al-ledem - die Front war erst am Strausberger Platz - sammelten sich schon wieder die Reste der illegalen Kommunistischen Par­tei. Jedem war klar: Es galt zu handeln und zu kämpfen. In weni­gen Tagen und Stunden waren wieder 250 Genossen zusammen. Ein zentraler Punkt war bald gefunden: der Schreinerhof. Kleine Zettel an den Brunnen des Bezirks forderten die Genossen auf, sich schnellstens zu melden ... Die Bevölkerung brauchte Nach­richten. Uns war klar: Eine Zeitung mußte heraus. Am 1. Mai sollte sie erscheinen; wie wir es aus der Illegalität kannten, wur­den Papier, Wachsplatten und Abziehapparate beschafft, und am 2. Mai erschien der >Rote Osten<... An der Spitze der Arbeiter standen erfahrene Illegale, und so atmete unsere Zeitung und sonstige Tätigkeit den Geist der Zusammenarbeit aller antifa­schistischen Kräfte und stellte schon damals die Schicksalsfrage des deutschen Proletariats: >Einheit der Arbeiterbewegung^ Überall, wohin man sah, waren es Arbeiter, die zufaßten.«(5)

Nach zwölf Jahren Faschismus mit all seinen Schrecken feier­ten klassenbewußte Arbeiter wieder einen Ersten Mai, den Kampftag der internationalen Arbeiterklasse. Wie am Lichten­berger Roedeliusplatz, in Wartenberg, Bohnsdorf, Tempelhof und Neukölln beteiligten sich vielerorts Berliner Arbeiter an den Maifeiern ihrer sowjetischen Klassengenossen. In Köpenick, in Wittenau und in der Schreinerstraße im Bezirk Friedrichshain fanden Versammlungen und Kundgebungen statt. Kleine Um­züge unter roten Fahnen und mit dem Gesang alter Arbeiter­kampflieder gab es in Blankenburg und am Neuköllner Her­mannplatz.

Anmerkungen

1) Lew J.Slawin: Die letzten Tage des »Dritten Reiches«, Berlin 1948, S. 42 u. 44

2) A. S.Jerussalimski: Der Zusammenbruch und die Kapitulation. In: Neue Zeit, Wochenschrift für Weltpolitik (Moskau), 1965, Nr. 19, S. 18.

3) Stefan Doernberg: Befreiung 1945. Ein Augenzeugenbericht, Berlin 1985, S.90

4) Wilhelm Pieck: Reden und Aufsätze. Auswahl aus den Jahren 1908-1950, Bd.I, Berlin 1952, S. 424/425.

5) Heinrich Stark: Der 1. Mai 1945, Hrg.v. Zentralsekretariat der SED, Berlin (1947) S.23/24

Editorische Hinweise

Text wurde übernommen aus: Gerhard Keiderling Berlin 1945-1986, Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berlin 1987, S. 45-49