Vorbemerkung:
Der Artikel wurde am 02.
Juni 14 während der
TREND-Redaktionsferien verfasst.
Eine aktuelle Fortsetzung zum Thema folgt demnächst.
Wer ist Terrorist, und
wer hat eine solche Bezeichnung nicht verdient? Die Streitfrage
ist uralt, unter anderem, weil der Begriff oft zur reinen
Stigmatisierung mehr oder minder entschlossener Gegnerinnen und
Gegner der jeweiligen Machthaber benutzt wird. Umgekehrt dient
das ebenfalls bereits alte Sprichwort „Des einen Terrorist ist
des anderen Freiheitskämpfer“ häufig dazu, die berechtigte
Kritik an bewaffneten Formationen abzubügeln, die tatsächlich
nicht nur die Regierenden bekämpfen, sondern – nebenbei oder
hauptsächlich - die Zivilbevölkerung terrorisieren. Vom so
genannten irakischen Widerstand über algerische Islamisten bis
zu bewaffneten Haufen in der Ukraine reicht die lange Liste der
Organisationen, die in jüngerer Zeit von der jeweiligen
Gegenseite als Terroristen bezeichnet wurden. Die sich dagegen
verwahrten, aber zugleich durch relevante Teile der Bevölkerung
eher gefürchtet denn als „Befreier“ geschätzt wurden.
In
der afrikanischen Sahelzone mangelt es derzeit nicht an
bewaffneten Verbänden und Bewegungen. Auch nicht an solchen
ausgesprochen zweifelhafter Art. Was die jihadistische Sekte
Boko Haram in Nigeria betrifft, so ist der Standpunkt der so
genannten internationalen Staatengemeinschaft ausgemacht: Die
Vereinigung wurde am vergangenen Donnerstag (22. Mai)
auf die „schwarze Liste“ der Vereinten Nationen gesetzt, die von
den UN als Terrororganisationen eingestufte Organisationen
aufführt. Auch ansonsten dürften bei den allermeisten
Beobachterinnen und Beobachtern nur geringe Zweifel daran
bestehen, dass diese Organisation tatsächlich im Norden Nigerias
die breite Zivilbevölkerung terrorisiert, also ihr Schrecken
einflößt.
Unterschiedliche Großmächte versuchen zugleich, sich ins
regionale Spiel einzubringen – zumindest vordergründig, um die
schwerbewaffnete Sekte zu bekämpfen. Vor allem, seitdem diese
sich am 05. Mai offiziell zur Einführung von über 200
Schülerinnen bekannte, die in der Nacht vom 14. zum 15.
April in der Stadt Chibok verschleppt worden
sind. Noch immer konnten die
Teenagerinnen bis Redaktionsschluss nicht befreit werden.
Sektenchef Abubakar Shekau hatte zunächst angekündigt, sie „als
Sklavinnen zu verkaufen“, und eine Woche später ihren Austausch
gegen Gefangene seiner Organisation gefordert.
Gipfel in Paris
In
Frankreich preschte Präsident François Hollande weit vor, indem
er am dritten Freitag im Mai (/ 16. Mai) einen
Sondergipfel „zur Sicherheit in Afrika“ einberief, der
tatsächlich überwiegend dem Problem von Boko Haram und der
entführten Schülerinnen gewidmet war. Dazu lud er Nigerias
Bundespräsidenten Goodluck Jonathan sowie die Staatsoberhäupter
der vier Nachbarländer, die gemeinsame Grenzen mit Nigeria
aufweisen – Kamerun, Tschad, Niger und Bénin – nach Paris ein.
Diese spielten auch mit und bekannten sich zumindest am
Mikrophon dazu, die Befreiung der entführten Mädchen habe
oberste Priorität in der Region, und man werde zur Erreichung
dieses Ziels zusammenarbeiten. Bisher hatte zumindest Kameruns
Präsident Paul Biya, seit 1982 amtierender Chef eines
Kleptokraten-Regimes – auf diesen Begriff wurden in der Region
die beiden Worte „Kleptomanen“ und „Autokraten“ zusammengezogen
– und enger „Freund Frankreichs“ in der Region, nicht gerade
aktiv zur Bekämpfung der mörderischen Sekte beigetragen.
Bislang jedenfalls
durften nigerianische Polizisten, wenn sie denn einmal aktiv
wurden und gegen Boko Haram vorgingen, deren Kombattanten nicht
einmal über die Staatsgrenze zu Kamerun hinwegverfolgen. Ein
Informationsaustausch zum Thema fand zwischen den
Staatsführungen nicht statt. Nun versprach er allerdings seien
Kooperationsbereitschaft, und als Zeichen guten Willens wurde
angekündigt, kamerunische und nigerianische Polizisten würden
nunmehr erstmals auf derselben Frequenz senden, um eine
Verständigung zwischen ihnen überhaupt erst einmal technisch zu
ermöglichen. Hartnäckig hält sich dennoch das Gerücht, die
verschleppten Mädchen könnten sich im Norden Kameruns befinden,
wo Boko Haram notorisch verankert ist - im November vergangenen
Jahres entführte die Sekte dort den französischen Priester
Georges Vandenbeusch und verschleppte ihn auf die andere Seite
der Grenze. Er wurde nach anderthalb Monaten, zweifellos gegen
Zahlung eines substanziellen Lösegelds, freigelassen. Ebenso
hartnäckig hält sich die Vorstellung, örtliche Behörden in
Kamerun drückten dabei mehr als ein Auge zu, und erhielten dafür
finanzielle Gegenleistungen.
Der
Gipfel in Paris verfasste zum Abschluss eine Erklärung, in
welcher ein Austausch von nachrichtlichen Erkenntnissen – dazu
dürften auch Satellitenbilder zählen – und die Einrichtung einer
gemeinsamen Geheimdienstplattform in Nigerias Bundeshauptstadt
Abuja angekündigt werden. Dazu wird Frankreich beitragen, aber
auch die USA, Israel sowie China haben ihre Mitwirkung
angekündigt. Chinesische Interessen in der Region, wo das Land
seit nunmehr zehn Jahren verstärkt investiert, sind in jüngerer
Zeit neben westlichen ebenfalls von Boko Haram bedroht: Die
Sekte attackierte am vergangenen Montag (/ 19. Mai)
eine von Chinesen betriebene Fabrik im Norden Kameruns und
verschleppte zehn asiatische Mitarbeiter. Luftaufnahmen, die
Näheres über die geschätzten rund 200 Camps von Boko Haram im
Nordosten Nigerias und Nordwesten Kameruns verraten sollten,
dürften sowohl von US-amerikanischen Drohnen als auch von
französischen Kampfflugzeugen, die demnächst von Militärbasen im
Tschad aus starten könnten, zur Verfügung gestellt werden.
Die
militärische Offensive vor Ort soll allerdings ausschließlich
von nigerianischen Streitkräften getragen werden. Diese sind
allerdings nach verbreiteter Auffassung Teil des Problems, und
Amnesty international warf der nigerianischen Armee am 09. Mai
vor, sie sei von der Geiselnahme in Chibok vorgewarnt worden –
die Kombattanten von Boko Haram wurden dort in den frühen
Abendstunden des 14. April beobachtet
– und habe nichts dagegen unternommen. Nun
wird die Armee des Bundesstaats Nigeria sicherlich in ihrem
weiteren Vorgehen unter internationaler Beobachtung stehen. An
ihrem ebenso korrupten wie brutalen Charakter wird dies nichts
ändern können. Wohl nicht kurzfristig und für die Befreiung der
Mädchen, aber mittelfristig wäre es wohl sehr viel Erfolg
versprechender, die Selbstverteidigungsmöglichkeiten der
örtlichen Bevölkerung im Norden Nigerias zu fördern.
Ferner drängt sich der Verdacht auf, gerade Frankreich habe die
Gunst der Stunde genutzt, um in der früheren britischen Kolonie
Nigeria verstärkt einen Fuß in die Tür zu bekommen. Es
ist nicht das erste Mal, dass Frankreich – das in Nigeria
politisch anders als im übrigen West- und Zentralafrika und der
Umgebung Nigerias eher wenig zu melden hat, dessen Ölkonzern
TOTAL jedoch dort ökonomisch sehr präsent ist – Anläufe dazu
unternimmt. Angesichts eines Staatsbesuchs in Nigeria
unterbreitete der damalige französische Premierminister François
Fillon (UMP) am 24. Mai 2009 den dortigen Behörden das Angebot
für militärische Hilfe Frankreichs in ihrem Land. Damals ging es
nicht um bewaffnete Jihadisten, sondern um Rebellen im
Nigerdelta - der hauptsächlichen Ölförderregion Nigerias, deren
Bevölkerung vom internationalen Geldsegen wenig, sondern nur
extreme Armut und Umweltzerstörung abbekommt. Damals hatte
Nigeria allerdings nichts unternommen, um auf das Angebot
konkret einzugehen.
Mali
Größeren
Zuspruch hatte Frankreich in Mali erfahren, wo das Land ab
Januar vergangenen Jahres gegen bewaffnete Jihadisten
intervenierte. Rund 1.000 französische Soldaten stehen nach wie
vor im Land, und 1.700 sind kurzfristig mobilisierbar, unter
Nutzung vorhandener Kapazitäten der französischen Armee etwa im
Nachbarland Côte d’Ivoire.
Es
war einige Monate lang still geworden um den Konflikt in Mali,
was keinesfalls bedeutete, dass die Konflikte im Norden
aufgelöst oder beruhigt waren. Stattdessen herrschte ein kalter
Frieden, der in Wirklichkeit nur die Erwartung des nächsten
Aufbrechens von ungelösten Konflikten darstellte. Insbesondere
in Kidal im äußersten Nordosten Malis standen sich
bewaffnete Bürgerkriegsparteien unversöhnlich gegenüber. Die
sezessionistische, überwiegend von Angehörigen der
Tuareg-Minderheit getragene Organisation MNLA („Nationale
Befreiungsfront von Azawad“) hatte infolge des Abkommens von
Ouagadougou vom Juni 2013, das einen Waffenstillstand einleitete
und die Abhaltung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in
der zweiten Jahreshälfte ermöglichte, ihre Waffen behalten.
Theoretisch hatte sie sich allerdings auf spezielle Kasernen
zurückziehen müssen, während ab Ende Juni vorigen Jahres die
malische Staatsmacht mit Armee, Gouverneur und Zivilverwaltung
nach anderthalbjähriger Abwesenheit aus Kidal dort wieder Einzug
hielt. In Wirklichkeit verhielt es sich allerdings praktisch
eher andersherum: Die Staatsmacht war auf wenige Gebäude
zurückgezogen, während die MNLA-Kombattanten weite Teile der
Stadt beherrschten. Französische Truppen lagen als Puffertruppe
dazwischen und kontrollierten den Flughafen der Stadt.
Unterdessen hatte allerdings die Präsenz der Jihadisten, die in
den Jahren 2012 und 2013 vorübergehend mit dem MNLA verbündet
waren – bevor die Allianz zerbrach, und der MNLA seine eigene
„aktive Rolle beim Vorgehen gegen die Jihadisten“ und seine
Ortskenntnisse als Argument für das Behalten der Waffen
einsetzte – im gesamten Norden Malis abgenommen. Verschwunden
waren sie nicht. In der ersten Maiwoche wurde etwa die Großstadt
Gao einige Stunden lang, vom Umland aus, von ihnen unter
Artilleriebeschuss genommen.
Am
vorletzten Samstag (/ 17. Mai) zerbrach nun
allerdings das prekäre Gleichgewicht. Der seit Anfang April
amtierende neue Premierminister Malis, Moussa Mara – sein
Vorgänger Oumar Tatam Ly hatte nach nur sieben Monaten im Amt
seine wachsende Unpopularität, und die von Staatspräsident
Ibrahim Boubakar Keïta, ausbaden müssen und seinen Hut genommen
– beschloss, an diesem Tag Kidal zu besuchen. Sein Besuch war
vorher angekündigt, und Mara berief sich darauf, im Süden wie im
Nordosten Malis sei „jeder Mali gleichermaßen zu Hause“.
Sein Besuch sei deswegen keineswegs als politische Provokation
zu werten, wie der MNLA behauptet, sondern habe „rein
administrative Funktion“.
Es kam zu Kämpfen,
wobei ungeklärt ist, wie diese genau ausgelöst wurden. Der MNLA
behauptet, es habe zunächst eine zivile Demonstration gegebenen,
und dabei „die Malier“ – die Organisation betrachtet die
Streitkräfte als die eines anderen Landes – „das Feuer auf
Frauen und Kinder eröffnet“. Die malische offizielle Seite
spricht dagegen von Attacken durch bewaffnete Freischärler auf
den Regierungskonvoi.
Dabei seien nicht nur
MNLA-Kombattanten, sondern auch solche des HUAC („Hohen Rats für
die Einheit von Azawad“) - einer zivilen Vorfeldorganisation der
bewaffneten islamistischen Formation Ansar ad-Din („Parteigänger
der Religion“) – und Jihadisten gewesen. Nur Letztere werden
durch die französische Armee sowie die UN-Truppe MINUSMA als
„Terroristen“ eingestuft, während die malische Regierungsseite
beklagt, eine ebensolche Einstufung des MNLA werde von beiden
verweigert. Frankreichs Politik und auch die Militärs befinden
sich nach wie vor im Kontakt mit den Instanzen des MNLA, die
teilweise auch in Paris angesiedelt sind.
Moussa Mara beklagt zudem, die UN-Truppe und die französische
Streitmacht „Serval“ hätten sich geweigert, sich dazwischen zu
stellen und die Durch- oder Fortführung seines Besuchs zu
schützen. Die vorläufige Bilanz nach mehrtägigen bewaffneten
Zusammenstößen, die am vorletzten Samstag und erneut am
Mittwoch aufflammten, liegt laut Angaben des MNLA bei 40
getöteten Regierungssoldaten, die offizielle malische Seite
spricht von dreißig Toten auf beiden Seiten. Anfänglich wurden
von den bewaffneten Verbänden des MNLA und seiner Verbündeten
auch 36 Geiseln genommen, darunter der Vizegouverneur, die aber
am folgenden Tag freigelassen wurden. Der MNLA nahm daraufhin
mehrere offizielle Gebäude ein, darunter den Gouverneurssitz,
und kontrollierte am Freitag (/ 23.05.14) auch
weitere Städte wie Aguelhok – dort hatte im Januar 2012 jene
Offensive begonnen, die für ein gutes Jahr zur Spaltung des
Landes in eine Nord- und Südhälfte führte – und Tessalit sowie
Ménaka.
Damit scheinen die
Dinge erneut fast so zugespitzt zu stehen wie im Januar vor zwei
Jahren. Die malische Regierung forderte Verstärkung bei der
französischen Streitmacht Serval an, die ihre Truppen durch
französischen Soldaten aus Abidjan kurzfristig auf 1.600 bis
1.700 Mann aufstockte. Allerdings behält Frankreich seine
Schaukelpolitik, die sowohl zur malischen Regierung als auch zum
MNLA Kontakte hält und die deswegen in Bamako – wo am Donnerstag
eine Demonstration gegen die französische Politik stattfand –
eines Doppelspiels verdächtigt wird, weiterhin aufrecht. Die
beiden französischen Parlamentarier François Loncle (PS) und
Pierre Lellouche (UMP), als Vertreter von Regierungs- und
Oppositionslager, erklärten am Donnerstag in Bamako, Frankreich
habe „den Terrorismus zu bekämpfen, aber nicht in einem
Bürgerkrieg“ mitzumischen. Terroristen sind demzufolge die
Islamisten, nicht jedoch der MNLA.
Am Samstag,
den 24.05.14
endeten die Auseinandersetzungen
vorläufig mit einem Waffenstillstand zwischen den
Konfliktparteien in Kidal. Nach wie vor bleibt die Situation
aber höchst explosiv.
Unterdessen ist die Popularität des im August 2013 gewählten
Präsidenten Keita bereits stark erodiert. Zum Symbol der auch
unter seiner Regierung fortwährenden Arroganz und politischen
Korruption der politischen Klasse wurde das Präsidentenflugzeug,
das Keita ankaufen ließ, obwohl bereits ein Jet des
Präsidentenamts seit seinem Amtsvorgänger ATT (Amadou Toumani
Touré) vorhanden war. Bei dem Ankauf dürften eine Reihe von
Mittelsmännern die Hand aufgehalten habe. Dass der
Internationale Währungsfonds (IWF) Mitte Mai nun wutentbannt auf
die „schlechte Haushaltsführung“ und Verschwendung voN
Staatsgeldern reagierte und den Wiederverkauf des
Präsidentenfliegers forderte, ließ den Skandal vollends
werden. Die Identifikation der Malierinnen und Malier mit
„ihrem“ Staat, die angesichts der hohen Beteiligung an der
Präsidentschaftswahl im vorigen Jahr nach der Spaltung des
Landes und der schweren politischen Krise wiederhergestellt
schien, ist erneut im Bröckeln begriffen.
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