Ganz wie erwartet verlief der
1. Mai in Rostock nicht. Wirklich erfolgreiche Blockaden gegen
Naziaufmärsche hatte es in Rostock bisher kaum gegeben. Doch
die bis zu 2000 Menschen, die an diesem 1. Mai gegen die NPD
auf die Straße gegangen waren, haben den Neonazis eine
empfindliche Niederlage beigebracht. Dabei war es ihnen alles
andere als leicht gemacht worden. Im Vorfeld war die ohnehin
nur kurzfristig bekannt gewordene Route des Naziaufmarsches in
ein anderes Stadtviertel, mit weniger Gegenkundgebungen,
verlegt und fast sämtliche Gegenveranstaltungen praktisch
verboten worden.
Doch davon ließ sich niemand abschrecken. Mit einer
Fahrraddemo und zwei Treffpunkten für Anreisende per S-Bahn
begannen sich die DemonstrantInnen aus ganz
Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Schleswig-Holstein am
späten Vormittag in den Nordwesten, Richtung Groß Klein zu
bewegen. Die NPD hatte die Demo nur wenige Tage zuvor in den
Stadtteil verlegt. Der Grund waren offenbar die zahlreichen
Gegenveranstaltungen, die in Dierkow und Toitenwinkel, dem
ursprünglich geplanten Aufmarschgebiet, angemeldet worden
waren. Darüber, wer die Verlegung nun initiierte, ob die NPD
selbst oder die Polizei, gibt es verschiedene Angaben.
Vollständig wird sich diese Frage kaum mehr aufklären lassen.
Die Fahrraddemo erreichte ihren Zielort, den S-Bahnhaltepunkt
Lütten Klein, und die RadlerInnen schloßen ihre Räder zu einer
Blockade zusammen. Kurz danach trafen mit zwei S-Bahnen viele
hundert DemonstrantInnen am Haltepunkt Lichtenhagen ein, und
begaben sich zum Startpunkt einer antifaschistischen
Demonstration auf die Groß Kleiner Seite. Die Demonstration,
angemeldet von der IG Metall Jugend, war erst in der Nacht
zuvor vom Oberverwaltungsgericht (OVG) als einzige
Protestveranstaltung in Groß Klein erlaubt worden.
Stadtverwaltung und Polizei hatten nach Kräften versucht,
jeden Gegenprotest in Groß Klein faktisch zu verbieten. Als
sich auch überregional und in den sozialen Netzwerken Empörung
begann breit zumachen, versuchte man in der Stadtverwaltung
zurück zu rudern, in dem man darauf bestand, dass keine
Veranstaltung verboten, sondern sie lediglich beauflagt worden
seien. Die beiden Bündnisse „Rostock Nazifrei“ und „Nazis
stoppen!“ machten jedoch von Anfang an klar, dass Auflagen,
die jeden Protest im Stadtteil verhindern, Verboten
gleichkämen und riefen bis zuletzt zu einer Anreise nach Groß
Klein auf.
Während sich die geplante Demonstration vom Lichtenhägener
Haltepunkt nicht in Bewegung setzen will, sondern lieber vor
dem Ausgang des S-Bahnhofes Platz nimmt, zünden Unbekannte auf
der S-Bahnstrecke mehrere mit Holzstämmen beladene
Güterwaggons an. Für die Löscharbeiten wird zeitweilig der
Bahnverkehr eingestellt. Abgesehen von den hunderten
BlockiererInnen auf dem Anreiseweg der Nazis, gibt es damit
für sie zeitweilig auch keine Möglichkeit mehr, ihren
Antreteplatz in Groß Klein zu erreichen. Doch dass die
überhaupt nach Groß Klein kommen wollten, daran gibt es
Zweifel. Beobachter die im Stadtteil unterwegs waren
berichteten, dass sich entlang der möglichen Demostrecke – die
bis zuletzt geheim gehalten wurde – eine Vielzahl Baustellen,
zum Teil mit Kleinpflastersteinen, befand. Es wäre nicht die
erste Demonstration gewesen, die von der Polizei mit Verweis
auf die vielfältigen Gefahrenquellen am Rand verlegt wird.
Hinzu gesellt sich das recht schmale Polizeiaufgebot am
Bahnhof Lichtenhagen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass
es niemals geplant war, die Neonazis hier entlang zu führen.
Beweisen lassen wird sich dies freilich nicht.
Den Neonazis wird derweil nach Verhandlungen mit der Polizei
eine Ausweichstrecke in Dierkow angeboten. Während die nun mit
Straßenbahnen in den Nordosten gebracht werden, kommt
hektische Betriebsamkeit in die AntifaschistInnen in Groß
Klein. Alles macht sich auf den Weg zurück in die Innenstadt,
um von dort nach Dierkow zu gelangen. Hier zeigt sich der
Mobilitätsvorteil der Critical Mass – die FahrradfahrerInnen
sind deutlich schneller wieder in der Stadt als die übrigen
DemonstrantInnen und können sogar noch mit einer spontanen
Materialblockade – aus zusammengeschlossenen Fahrrädern - die
Straßenbahn mit den Neonazis stoppen. Die Polizei geht mit
roher Gewalt gegen sie vor, Wasserwerfer und Räumpanzer fahren
auf. Als auch der Rest der Menschen aus Groß Klein in der
Stadt eintrifft, sind die Neonazis bereits in Dierkow und alle
Brücken über die Warnow von der Polizei abgesperrt. Auf
normalem Wege gibt es kein Hineinkommen mehr. Eine angemeldete
Demonstration des Migrantenrates wird so lange mit
vermeintlichem Kompetenzgerangel unter den einzelnen
Einsatzleitern hingehalten, bis sich die Nazis bereits wieder
auf dem Rückweg befinden. Nun plötzlich soll die Demonstration
nach dem Willen der Polizei ganz zügig losgehen. Lust haben
die TeilnehmerInnen jedoch nicht mehr, denn nun hat sich die
Polizei selbst ein Bein gestellt: Die zwischenzeitlich zur
Dauerkundgebung gewordene Veranstaltung mit etwa 600 Menschen
blockiert einen der beiden möglichen Rückwege der Nazis. Die
zweite große Verkehrsachse in Richtung Innenstadt, über den
Mühlendamm, muss als einzige Ersatzstrecke für den gesamten
nach Rostock einfahrenden PKW und LKW-Verkehr herhalten und
wird überdies immer wieder von kleineren, aber an dieser
Stelle extrem effizienten, Blockaden dicht gemacht. Der
aufgestaute Verkehr verkompliziert die Einsatzlage zusätzlich.
Es scheint als gäbe es für die Nazis keinen freien Weg mehr in
Richtung Innenstadt. Der Twitter des Antifa-Bündnisses schlägt
vor: "#1mHRO 1639 Die Nazis könnten natürlich noch in die
Warnow gehen...". Die BlockiererInnen am Mühlendamm werden
immer wieder geräumt, gekesselt, abgefilmt und müssen
Personalien abgeben. Trotzdem, der Stau bleibt und legt
Rostock lahm.
Die Neonazis werden unterdessen immer ungehaltener. Wolfram
Nahrath, der frühere Bundesführer der verbotenen Wiking Jugend
und Aktivist der ebenfalls verbotenen Heimattreuen Deutschen
Jugend, hält eine Rede, die selbst PolizistInnen die Tränen in
die Augen treibt. Auf Twitter wird ein Polizeisanitäter
sinngemäß zitiert, dass man dem Nahrath ja helfen könne, man
habe ja schließlich 9mm. Aber man dürfe ja nicht.
Als um 17.21 Uhr über den Ticker die Nachricht kommt, dass
Anmelder Petereit den Naziaufmarsch mitten auf der Rövershäger
Chaussee abgebrochen und für aufgelöst erklärt hat, sind
einige Aktivist_innen schon seit über 10 Stunden auf den
Beinen.
In der Folge der überraschenden Auflösung zeigt sich bei der
Einsatzleitung der Polizei eine strukturelle Schwäche
angemessen auf die neue hochdynamische Situation zu reagieren.
Als der hierarchische Apparat mit seinen langen Befehlsketten
reagiert, haben Nazis schon die Polizeiketten durchflossen und
Gegendemonstrant_innen bedroht. Der Antifa-Ticker mahnt: „Kurz
jubeln & dann wieder volle Konzentration! Die Nazis sind noch
da & müssen da weg. Achtet jetzt aufeinander, bleibt in
Bezugsgruppen!“ Journalisten und Landtagsabgeordnete, die den
Naziaufmarsch direkt begleitet haben, melden über Twitter,
dass sich immer wieder Kleingruppen von Nazis absetzen.
Angesichts des Vorgeschehens der letzten Tage ist zu diesem
Zeitpunkt das Unwahrscheinliche doch geglückt, die Neonazis
sind in Rostock gestoppt und zur Aufgabe gezwungen worden und
dass obwohl der Aufmarsch kurzfristig vom Nordwesten in einen
völlig anderen Teil der Stadt verlegt wurde. Das notorische
Raumtrennungskonzept der Rostocker Polizeiführung und der
Versammlungsbehörde wurde durch demokratischen Druck von unten
massiv in Frage gestellt.
Doch ab 17.30 bricht am 1. Mai auch allmählich die
Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit Stück für Stück
weg. Bei der Abreise der Nazis kommt es noch mehrfach zu
unübersichtlichen Situationen. Die Drohung von neuen
Spontandemos durch die Neonazis steht immer wieder im Raum.
Dieser Abschluss des Tages bleibt denn auch einer der
kritischen Aspekte: Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist! Am
Hauptbahnhof dauerte es noch Stunden bis die letzten Nazis die
Stadt verlassen hatten. Zeitgleich waren Genoss_innen aus
Hamburg und Greifswald am Bahnhof und mussten zum Teil mit den
Nazis in einem Zug fahren. Gerade vor dem Hintergrund der
Attacken der NPD unter Aufsicht der Parteiführer am Bahnhof
Pölchow sollte klar sein, dass auch abends am Bahnhof der
Druck aufrecht erhalten werden muss, damit es nicht zu
Gelegenheitstaten durch frustrierte Nazis kommen kann.
Die Blockaden; der Protest an den Nazis in Hör- und Sehweite;
die breite Mobilisierung; das solidarische Zusammenarbeiten
vieler, zum Teil sehr unterschiedlicher Akteure; das Einsetzen
neuer Aktionsformen wie der Critical Mass – all dies sind
großartige Aspekte des Tages. Die Nazis haben am 1. Mai in
Rostock verloren. Aber wir sollten alle bis zum Schluss
aufmerksam sein, bis die letzten Nazis die Stadt wieder
verlassen haben.
Fazit des Ermittlungsausschusses
Nach Kenntnis des Ermittlungsausschuss (EA) gab es zwei
Ingewahrsamnahmen. Hinzu kommen eine Vielzahl an
Personalienfeststellungen und das Videografieren von
GegendemonstrantInnen. Solltet ihr Post von Polizei oder
Staatsanwaltschaft erhalten, wendet euch an die Rote Hilfe
Rostock (auch ohne PGP verschlüsselt möglich), oder eure
lokale Ortsgruppe der Roten Hilfe. Dort findet ihr Beratung,
Unterstützung und wenn es notwendig wird, werden euch
AnwältInnen vermittelt.
Übergriffe durch Nazis und PolizistInnen
Während der Anreise der Neonazis kam es in der Nähe des
Hauptbahnhofes zu einem versuchten Übergriff auf einen
Lautsprecherwagen des DGB. Aus einem Großraumtaxi sprangen
etwa sieben mit Knüppeln bewaffnete Neonazis. Unter ihnen
konnte der Rostocker JN-Aktivist Thomas Nowak identifiziert
werden.
Die Rote Hilfe Greifswald teilte in einer Pressemitteilung
mit, dass es während der Abreise am Hauptbahnhof zu
Übergriffen von BundespolizistInnen auf die Greifswalder
Reisegruppe gekommen sei. Dabei wurden den Angaben zufolge
mehrere Menschen verletzt. Auch nach Aufforderung hätten die
BeamtInnen ihre Dienstnummern nicht genannt, wozu sie jedoch
verpflichtet sind. Als Konsequenz forderte Sprecherin Susanne
Ernst die individuelle Kennzeichnungspflicht für
PolizistInnen: „Leider ist ein juristisches Vorgehen der
Betroffenen, insbesondere der Verletzten, aufgrund der
Anonymität der Uniformierten nahezu unmöglich. Eine
individuelle Kennzeichnungspflicht der BeamtInnen, wie sie in
anderen europäischen Staaten längst üblich ist, ist überfällig
und würde den einen oder anderen gewaltaffinen Behelmten
vielleicht daran hindern, zuzuschlagen.“
Quelle: Indymedia
| 3.5.2014
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