Die Grundfragestellung der Philosophie Ernst Blochs

von Hans-Peter Hempel

5/6-2014

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Für Jan Bloch

Vorbemerkung
Die Auseinandersetzung mit der Philosophie Ernst Blochs hat noch gar nicht begonnen. (1) Uns wird erst jetzt allmählich bewußt, was es mit dieser „Philosophie der unfertigen Welt" auf sich hat. Darum scheint es mir sinnvoll zu sein, hier noch einmal thesenartig die wesentlichen Züge der Grundfragestellung der Blochschen Philosophie (2) herauszuarbeiten, wobei ich davon ausgehe, daß der eine oder andere, der sich durch diese Thesen herausgefordert fühlt, mit der Auseinandersetzung beginnt und gerade dadurch die Fruchtbarkeit der Blochschen Philosophie auch für die konkrete politische Praxis der Gegenwart unter Beweis stellt.

1.
Versucht man, die gegenwärtig vorhandene futurologische Literatur auf ihre philosophische Grundstruktur hin zu analysieren, so fällt ein übereinstimmendes Welt- und Wirklichkeitsverständnis auf. Sie stellt sich im Grunde eine im Werden befindliche Welt vor, „die selbst noch nicht zu ihrem eigenen Zweck": der in ihr vereinigten mündigen Bürger gelangt ist. Sowenig diese Literatur schon eine eindeutige Antwort auf das Woher, Wohin und Wozu dieses Weltgeschehens geben kann, sowenig stellt sie die Behauptung auf, daß die Welt, die mit Hilfe der sozialwissenschaftlichen Planung rational kalkuliert werden soll, schon vollendet ist. Von dieser Welt kann daher mit Bloch gesagt werden: daß sie sich, wenn überhaupt, erst in den prozeßhaften Versuchen ihres Unterwegs vorbereitet.

Sowenig — mit anderen Worten — die futurologische Literatur, und mit ihr die Philosophie, schon eine endgültige Antwort und damit der Wissenschaft auch eine endgültige Zielvorstellung vermitteln kann, sowenig ist diese Welt, in der wir leben, schon jene, die ihre Antwort rechtfertigen könnte.

2.
Philosophie im Blochschen Sinne schärft den Blick für das Welt- und Menschheitsgeschehen: als „real-mögliches Utopikum", indem sie, unablässig die Zu
kunft antizipierend, nach neuen Erfahrungen Ausschau hält, die sie als mögliche Zielvorstellungen der Wissenschaft (hier immer Sozial- und Naturwissenschaft zusammengedacht) vorgibt und die ihrerseits nun von einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen Modelle entwirft, aufgrund derer die beobachtbaren Erscheinungen erst wiedergegeben werden können.

Das solchermaßen „Vorwegnehmen" (Antizipieren) in spekulativ begründeten Gedanken, die ihre eigene Denkschärfe haben, bedeutet also nie die Vorwegnahme einer wissenschaftlichen Erkenntnis, die sich allein durch die zwingende, stets nachprüfbare Methode partikularen Zielen verpflichtet. Die Wissenschaft wahrt hier den instrumentalistischen Charakter: mit Hilfe ihres empirischen Instrumentariums die Erscheinungen der wahrnehmbaren Welt zu untersuchen und dem Menschen die Mittel an die Hand zu geben, „diese Erscheinungen so gut wie möglich seinem Handeln gefügig zu machen".

3.
Die ,Anthropologie' einer so verstandenen Philosophie der Praxis im real-utopischen Horizont folgt aus einem eigentümlichen Welt- und Wirklichkeitsverständnis.

Begreift man im Blochschen Sinne die Welt als „real-mögliches Utopikum", so kann das menschliche Dasein auch nur als ein Wesen verstanden und definiert werden, „das sich selber noch unmittelbar, grundhaft verdunkelt, ja noch gar nicht gegenwärtig ist und eben deshalb Geschichte hat."

Diese Geschichte zeigt nun ihrerseits den Menschen als reale Möglichkeit all dessen an, was aus ihm geworden ist und - was die futurologische Literatur immer wieder hervorzuheben versucht - „vor allem mit ungesperrtem Fortschritt noch werden kann".

Der Mensch als das historisch variabelste Wesen muß - wenn es sich als Möglichkeit: „das Ganze ... (seiner) inneren wie äußeren Bedingungen ... noch nicht verwirklicht" zu haben, begreift - immer wieder durch die Geschichte laufen: gebunden an die materiellen Voraussetzungen, kurz: gebunden an die der realen Möglichkeit des Prozesses der Welt selbst: „zu all den Gestalten, die in ihrem Schoß latent und durch den Prozeß aus ihr entbunden werden".

Indem die Philosophie also nach Bloch das menschliche Dasein als ein In-der-Welt-Sein der realen, d.h. materiellen Prozeßbewegung voller Möglichkeiten bestimmt, eröffnet sie die Dimension der Offenheit der Welt, in der sich die menschliche Freiheit und damit ihr Sinnbewußtsein für seine wissenschaftliche Praxis erst bewähren muß. „So reicht der arbeitende Mensch, diese Wurzel der Menschwerdung", nach den Worten Blochs, „verwandelt durch seine ganze weitere Geschichte und entwickelt sich immer genauer. Ja, man kann sagen, auch der aufrechte Gang des Menschen, dieses unser Alpha, worin die Anlage zur vollen Ungebundenheit, also zum Reich der Freiheit liegt, geht selbst immer wieder verwandelt und genauer qualifiziert durch die Geschichte der immer konkreteren Revolution" hindurch.

4.
Der Sinn der Wissenschaft kann nach Bloch aus der Wissenschaft selbst nicht erschlossen werden, sondern bewährt sich erst in der durch die Philosophie der Praxis vermittelten Reflexion. Folglich ist das Denken aus bestimmbaren Voraussetzungen zur Erkenntnis von Gegenständen in der Welt - etwa zu Zwecken der politischen Planung - ein anderes als das Denken aus nicht-kategorial faßbaren Voraussetzungen der Existenzverfassung des Menschen, das der Philosophie eigentümlich ist. Verliert die Wissenschaft das durch die so verstandene Philosophie vermittelte Bewußtsein, so gerät sie in Gefahr, sich in endlosen Feststellungen zu verlieren und zum Selbstzweck zu werden.

Dieser oft beschriebenen Gefahr kann nach Bloch durch eine heute in ihrem Selbstbewußtsein gestärkte Philosophie entgegengewirkt werden, mithin: durch eine Philosophie, die nicht der Erhaltung des Gewordenseins, sondern der „Erhaltung im Sinne des Werdens, d.h. des Experimentierens auf den Inhalt des Daß-Kerns" dient.

Das bedeutet: das Niveau und Ansehen der Wissenschaft insgesamt zu heben, die wohl an den Gebietskategorien der vorhandenen, tatsächlichen Welt festhält, - darüberhinaus aber auf die Invarianz einer von der Philosophie der Praxis vorausgedachten, antizipierten Richtung: eines sich voll emanzipierenden Menschen eingeschworen und bewegt bleibt.

5.
Die von der Wissenschaft befolgten Grundvoraussetzungen bewegen sich nach Bloch im Wahrheitsbereich der jeweils antizipierten
konkreten Utopie, jedoch im Utopikum einer, wie schon hervorgehoben, erst zu schaffenden, herauszuprozessierenden besseren Welt. Das ,Bessere' ist zwar in dieser Welt schon latent, also im Daß-Kern enthalten, ihr gegebenes Versprechen auf den aufrechten Gang hin aber noch nicht eingelöst: der Weltprozeß insgesamt bisher weder vereitelt noch gewonnen. Das jedoch heißt, daß die Welt: als ihr eigenes „Laboratorium versuchter Selbstbestimmungen des letzthin noch ausstehenden Was", weder abgeschlossen noch je abschließbar ist; diese Perspektive insgesamt ist das eigentliche bewegende Element, die Dynamik sowohl der Philosophie als auch der Wissenschaft. Wir können auch sagen: durch eine so verstandene Philosophie der Praxis, einer so praktisch werdenden Philosophie, wird erst der eigentliche Bereich der Wissenschaft .eröffnet', Wissenschaft so erst möglich. Noch präziser formuliert: Die Tragfähigkeit der Grundvoraussetzungen der Wissenschaft wird stets erst verbürgt durch die Schärfe der Explikation der Dimension, in die die Philosophie
der Praxis vorzudringen versucht: „in dieses Noch-Nicht-Bewußte, ins ungewor-den-unerfüllte oder utopische Feld".

6.
Unter dem Anspruch bzw. unter der Herausforderung einer so verstandenen
Philosophie der Zukunft, von Bloch auch Tendenzforschung genannt, erfolgt in Blochs Werken eine Neuaneignung der vorhandenen Sozialutopien, in denen sich mit Nachdruck das Ziel nach menschlichem Glück manifestiert. So im Naturrecht, das ausgerichtet ist auf die menschliche Würde. Bloch stellt die Frage: Welchen erzutopischen Inhalt hat das Christentum, seine Erlösungshoffnung, wobei dieser als wohl am stärksten ins Auge springender Hoffnungsinhalt für Bloch Ausgangspunkt seines Philosophierens war; das Marxsche Denken trat erst später hinzu. „Mitbestimmend für Blochs erste Zuwendung zum Marxismus dürfte gewesen sein", schreibt m. E. zu Recht Hans Heinz Holz, „daß der Denker des antizipierenden Bewußtseins hier eine exakt ausgearbeitete Methode vorfand, wie Weltveränderung in Gang zu setzen sei. Utopie bleibt nun nicht länger mehr bloße Träumerei."

Auch in Mythologien, in Archetypen, Allegorien und Symbolen sind für Bloch derartige nach vorn weisende Bewußtseinsinhalte auszumachen, die in der Geschichte noch nie verwirklicht worden sind. Diese müssen ans Licht gebracht werden. An diesen ist ein ,Erbe' auch in der heutigen Zeit anzutreten, wobei der, der erbt, erst verstehen lernen muß, das nach vorne Weisende am überlieferten Vergangenen im Jetzt zu nennen, - und das, bevor die Rechten, die Faschisten, die dort ebenso enthaltenen rückwärtsweisenden Gehalte wieder für sich ausbeuten.

7.
Ich will das, was ich bisher ausgeführt habe, noch etwas über das bisher angeschlagene Thema hinaus vertiefen.

Die Antizipation der Zukunft - und um sie geht es im Hinblick vor allem auf die Wissenschaft - ist die schöpferische Möglichkeit der dem Menschen eigenen „produktiven Einbildungskraft" (Kant). Sie ist nach Bloch die „Morgenröte im Menschenwillen", das „echte Novum insgesamt", der „Horizont der Utopie". Der Zukunftsmodus der Zeit ist der Raum der realen Möglichkeit der Geschichte, der „am Horizont der jeweiligen Tendenz des Weltgeschehens liegt". Das, was dabei von Bloch als Tendenz bezeichnet wird, darf auf keinen Fall mit dem Gesetzesbegriff der Wissenschaft identifiziert werden. Tendenz bezeichnet die Grundmöglichkeit und -richtung, derzufolge die objektiven Bedingungs-Folge-Zusammenhänge in ihrer Bedeutung erst hervortreten. Bloch: „Gesetze in der Wissenschaft sind keine tabuhaften normae agendi von oben her,sondern ausschließlich genetisch-immanente Bedingungszusammenhänge", aufgrund deren die bisherigen Gesetze variieren.

Diese „veränderten Bedingungen", wir können mit Kuhn auch sagen: der Paradigma-Wechsel, durch die die Gesetze der Wissenschaft bestimmt werden, zu erkunden, ist Aufgabe der von Bloch als Philosophie betriebenen Tendenzforschung. Sie erst vermittelt der Wissenschaft ,Spannungsgestalten', .Tendenz'-und .Zeitfiguren', mithin objektive Figurationen konkreter Erscheinungen, die von der Wissenschaft wiederum einem ihr eigentümlichen Vergegenständlichungs-prozeß unterworfen werden. Die von der Tendenzforschung antizipierten Bilder', die ,Ideen', bilden also kein „ruhendes Reich" (Piaton). Sie sind vielmehr die jeweils Gehalt-ausprägenden Figurationen der Zeit: die, stets neu versuchte Gehaltsgestalten setzend, als ein fortlaufend unabgeschlossener Prozeß des Noch-Nicht-Seins, d.h. des voll emanzipierten Weltzustandes, gedeutet werden können. Für die klassische Philosophie war das Sein schon ausgemacht, lag das Sein schon fertig vor; es bestimmte seinerseits das Seiende. Anders ausgedrückt: am,Anfang' ist schon alles perfekt vorhanden (Sein als Vorhandenheit). Für Bloch hingegen will das Sein erst aus seiner Unvollkommenheit heraus. Wäre das Sein schon fertig, wäre das Nicht-Haben nicht, das aus seinem Mangel heraus zum Haben treibt, so gäbe es keinen offenen Prozeß; es bliebe alles beim alten.

8.
Die Welt der Tendenzforschung, und mit ihr die der Wissenschaft, ist im Blochschen Sinne der widerständige Experimentierraum, dessen erkenntnistheoretische Schwierigkeiten darin gründen, daß er selbst quasi „aus dem Unentschiedenen, Ungelungenen, noch Ungewonnenen des Realprozesses selber und zutiefst aus dem drohend umgehenden Nichts darin" kommt. Daher kann Bloch die zitierten Spannungs- und Tendenzfiguren als Figuren eines Unterwegs: als „Ausgangsgestalten ihrer selbst" und als „objektiv-experimentelle Realmodelle jenes wahren Totum, das erst im Schwange steht", präzise definieren.

Wissenschaft, von der Tendenzforschung jetzt derart auf den ihr angemessenen Weg gebracht, analysiert schließlich die objektivierten Bedingungs-Folge-Zusammenhänge als „Anwendungsgesetze" (Albert), die weder „zuversichtlich, kontemplativ, gesetzesfetischistisch bewundert", noch ein für allemal zu verdinglichen sind: „als wäre das Experiment Geschichte gar keines, sondern eine ohnehin gesetzfetischistisch oder auch theologisch vorkanalisierte Herdenfahrt, gleich der einer Reisegesellschaft: mit vorhergesehener, vorbestimmter Route, ausgemachten Hotels, wohin die Subjekte, bei richtig gegängeltem Verhalten klassenlos oder auch himmlisch einfahren."

Die Wissenschaft gibt ihrerseits den von der Tendenzforschung, der Philosophie bezeichneten Realmodellen „im jeweiligen Totum einer Gesellschaftsweise" den objektiven, d.h. feststellbaren Gehalt. Sie stellt damit Orientierungs- und Entscheidungshilfen bereit, „die nachprüfbare und widerspruchsfreie Maßnahmen ermöglichen und den (in der Realität) bestehenden Unsicherheitsbereich einengen".

Dergestalt ist die Welt der Wissenschaft immer voller Figuren, von der Tendenzforschung antizipiert und konkretisiert: „voller Immergenz dieser Art, mit qualifizierendem Mehr-Gefüge über die jeweilige Summe der jeweiligen Teile". Zugleich aber, fährt Bloch fort, „mit jener Einheit von genetischem Fluß samt seinen Gesetzen und strukturellen Gestaltqualitäten, ohne welche Einheit eben es weder Fluß — als Prozeß von etwas — noch Gestalten — als unstatische Prozeßfiguren — geben könnte." Die Wissenschaft erlangt für den gegenwärtigen und zukünftigen Weltzustand dadurch an Bedeutung, daß sie schon von sich her auf das Utopische überhaupt in ihren Objektivierungen verweist.

Demgegenüber ist die der Tendenzforschung eigene Grundbewegung der stets wiederholbare und zu wiederholende Versuch der Zeit: sich selbst zu entsprechen, so daß der Wissenschaft die Qualifikation einer Etappenwissenschaft zugesprochen werden kann und zugesprochen werden muß. Sie geht mit der gefährdeten Zeit, vergegenwärtigt sich aufgrund der Erörterungen der Tendenzforschung des Heraufkommenden, so daß sie auf ihre Art „durch Vorwegnahme, durch Utopie, als ein blinder Raum, als Prozeßraum der Zukunft nicht etwa steht, sondern aufgeht, ja zum Aufgehen erst gebracht und entschieden wird". Gerade das ist undenkbar ohne bewußt betriebene Tendenzforschung. Sie ist die Aussicht-Erforschung des In-Möglichkeit-Seienden. Sie trachtet danach, den Horizont des bisher noch nicht Verwirklichten, des .Möglichen', zu gewinnen. Ihr Bewußtsein ist ein antizipatorisches, das der Wissenschaft die sie bestimmenden Ziele vor-gibt und aufgrund derer sie ihre Analysen und Synthesen durchführt: um sie schließlich in jene politischen Entscheidungshilfen zu transformieren, ohne die eine sozialistische Gesellschaft schon allein vom Grundansatz her gesehen kaum zu verwirklichen ist.

9.
Wir sehen: Bloch geht es darum, vorwärtstreibende Utopie ineins mit der Realität zu begreifen. Die in der Utopie wirksame Hoffnung richtet sich dabei auf die unabgeschlossene Daseinsbestimmung; sie ist „kognitiver Art", dialektischmaterialistisch begriffene Hoffnung. Die Weltsprache ist sich „Realgeheimnis", zu dessen Lösung sie unterwegs ist. Es geht, um weiter zu präzisieren, um das Herausmanifestieren der Welt: um „das Novum der konkret werdenden Utopie". Sie macht den Sinn der Geschichte aus, wobei ihre Etappenziele rational bestimmt werden müssen. — Anders, noch präziser formuliert: Die „konkrete Utopie" hat sich dem „Geschichtsindex der historisch-prozeßhaften Materie" vermittelt. Sie ist deshalb in der Welt, weil „die Materie der Welt selbst noch nicht geschlossen ist". Darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen.

Wir sahen bisher: in der Blochschen Philosophie vollzieht sich die Aufhebung letzter Gewißheiten und Wahrheiten in einer Radikalität, so daß gerade für Außenstehende der Eindruck entsteht, als habe sie gegenwärtig nichts zu sagen. Aber von welchem Blickwinkel und von welchem Ansatz auch aus gesehen: der Blochschen Fragestellung geht es darum, zu zeigen, daß die Welt die Wirklichkeit und die wissenschaftlich begriffene Realität insgesamt, die Wahrheit und die Sprache und darin der Mensch (hier angesprochen als Gattungswesen): als Experimentierform eigener Entwurfsversuche, zu verstehen und zu begreifen ist. Bloch: „Der Mensch ist ein X der Unbestimmbarkeit", gleichwohl „aber auch ein X der Bestimmbarkeit". Das soll heißen: Sehen wir von den wissenschaftlich erörterten Bestimmbarkeiten ab, so wissen wir bis heute nicht und werden es vermutlich auch nie wissen: wer und was der Mensch „eigentlich" ist. Wir wissen nicht, ob wir im alten Sinne Menschen sind. Wir sind eher ein „experimenteller Ausdruck" und „werden in der jeweiligen Gesellschaft im umgekehrten Verhältnis formuliert".

Wenn ich jedoch die Menschen und Dinge weniger nach ihrem Ursprung, aus dem sie stammen, als nach den Möglichkeiten, die in ihnen stecken, beurteile, dann impliziert dies eine Neuinterpretation der überlieferten Kategorienlehren, die zugleich die Statik der überlieferten Ontologie und Logik aufbricht und in ein dynamisch-prozeßhaftes Kategoriensystem umformt und somit neue Perspektiven der Realitätserfahrung freisetzt.

10.
Das übliche Verfahren, vom Begriff zum Urteil fortzuschreiten, ist für Bloch verdächtig, es bedeutet: daß ein Begriff immer schon in sich einschließt, was durch ein Urteil herausgeholt wird. Mit anderen Worten: Der Urteilende ist an fertig Gegebenes gebunden, dessen Implikate er entfaltet, in das er jedoch nicht verändernd eingreift.

Demgegenüber behauptet Bloch, daß nicht der Begriff das Urteil, sondern umgekehrt: das Urteil den Begriff bestimmt. Was am Anfang steht, ist ein bloßer „Ergriff, d.h. eine Vorform, die erst im Prozeß des Urteilens und durch den Prozeß zu sich selbst zum Begriff gelangt. In der Sprache, der ein Terminus wie „Ergriff Gewalt antut, ist die Konvention verborgen, gegen deren Widerstand Bloch die von ihm gewonnene Einsicht zu formulieren versucht. Blochs Philosophie des Unterwegs unterscheidet sich von jeder Ursprungsphilosophie durch die Maxime: daß sich die Grundverfassung, die Logik von Welt und Mensch erst am Ziel zeigt, dem sie zustrebt. Die Welt ist weniger ein gerundeter Kosmos als ein — wie ich bereits mehrfach hervorhob — Versuch mit Ungewissem Ausgang.

In dem „real Möglichen", der Utopie, versteht Bloch „real Mögliches", das sich zum Guten wendet, in dem aber auch von Anfang an und stets das Risiko des Scheiterns mit eingeschlossen ist. ,Experimentum Mundi' ist so das zielgerichtete Experiment, dessen Gegenstand in einer noch nicht entschiedenen: unentschiedenen, aber durchaus kenntlich vorgezeichneten Zukunft liegt.

Konkretisiert: Es gibt nach Bloch wohl eine Tendenz zur klassenlosen Gesellschaft, nicht aber ein Gesetz in der Geschichte, nach dem sie sich .notwendig' einstellen müßte. Bloch: es „ist nichts vorprogrammiert, sondern alles ist uns als Problem aufgegeben".

Im Detail führt Blochs Kategorienlehre von den „dimensionierenden Kategorien" Zeit und Raum über die „Transmissionskategorien" Kausalität, Finali-tät und latente Substantialität sowie die „manifestierenden Kategorien" im Felde von Quantität und Qualität zu den „kommunizierenden " Gebietskategorien — wie der menschlichen Geschichte und Natur. Darauf will ich jetzt im Detail nicht eingehen. Ich greife daher nur diesen Gedankengang heraus:

Materie ist im Sinne der Blochschen Kategorienlehre das andere unserer selbst. Sie ist atmender, „gärender Prozeß", das Ganze des Universums in selbstexperimentierender Entwicklung. Materie ist mithin nicht etwas, das im Labor ein für allemal fixierbar, in eine Weltformel einzufangen ist; Materie ist das faktische, unableitbare Prozessieren des Weltalls selbst, wobei dieses Faktum einer unableitbaren Entwicklungsfähigkeit die Welt zum Laboratorium possibilis salutis macht, zum Experimentierfeld, will sagen: zum historischen Entwurf der möglichen Befreiung des Menschen.

In gleicher Weise wird Bloch zufolge auch die Welt wieder als ein Prozeß verstanden, in dem die Faktizität des Seins zu ihrem Wesen findet, das ,Daß' zu seinem ,Was', wie ich vorhin ausführte. Bloch: „Das Sein erscheint originär als dasjenige, was eines Inhalts nicht gewiß ist, sich so im suchenden Schwebezustand zwischen Nicht und Haben befindet und aus ihm gärend, quälend, quellend heraus will."

Den Anstoß zu diesem Übergang bezeichnet Bloch als „Frage des Seins", die er im pulsierenden Pochen des jeweiligen Augenblicks am Werke sieht. Gemeint ist nicht bloß eine das Sein in seinem puren „daß etwas ist" betreffende menschliche Frage, sondern ein dem Sein selbst immanenter Antrieb - nicht bloß im Sinne des geschichtlichen Elements der Produktivkräfte, sondern auch als teleo-logische Bewegung der Natur als Natur (natura naturans).

Die aus dem Daß-Sein herausgetriebene Welt kann nun wieder ein .Experiment' in dem Sinne genannt werden, daß alle Antworten auf die Ursprungsfrage bislang nur „versuchsweise" gelten. Die „schwierige Welt" ist als Experiment unterwegs, wobei das Ziel des Welt-Weges in Blochs Rede vom „Laboratorium möglichen Heils" anklingt.

Damit es aber gerade hier kein Mißverständnis gibt: Noch kann von einem glücklichen Ausgang des Versuchs nicht gesprochen werden. Fest steht allein nur wieder die Grundperspektive: „Die Welt ist eine einzige noch unablässige Frage nach ihrem herauszuschaffenden Sinn, worin allein der Hunger zu stillen ist, mit offenem Plus und noch ausstehendemUltimum in objektiv-realer Möglichkeit. Darum eben geschieht die große Drehung, Hebung aus dem Dunkel des Unmittelbaren heraus, die Welt-Prozeß heißt: mit tätiger Antizipation im Subjekt, gerichtet auf Glück, in einer Gesellschaft ohne Herr und Knecht, gerichtet auf dadurch mögliche Solidarität aller, id est auf Freiheit und menschliche Würde, in Natur als einem nicht mit uns Fremdem behafteten Objekt, gerichtet auf Heimat."

11.
Mit Bloch haben wir in ständiger Vergegenwärtigung dieser Perspektive heute weiter zu fragen, was los ist mit unserer Gegenwart, was faul ist
hier und jetzt und was in unserer unmittelbaren Gegenwart und Umgebung die Durchsetzung des Ziels einer menschenwürdigen Gesellschaft nach wie vor verhindert.

Bloch entreißt, so formulierte ich, den vergangenen Sozialutopien eine Fülle von „utopischem Überschuß", den er für eine humane Zukunft in der Jetztzeit retten will, statt ihn zum Schutt der Vergangenheit werden zu lassen. In Religion, Moral und Kunst entdeckte er dabei immer wieder Gehalte, die sich bisher nicht erschöpften, sondern nach wie vor utopisch Uneingelöstes darstellen.

Konkret, auf die empirische Ebene bezogen besagt dies: daß die sich gegenwärtig in einer fundamentalen Krise befindende bürgerliche Gesellschaft schon jetzt eine kommende Vielfalt austrägt, wobei sie hier und da auch schon Elemente ihrer eigenen Überwindung freisetzt. Dieses Erbe der bürgerlichen Selbstdestruktion und Selbstdestruierung in Philosophie, Kunst und Wissenschaft gilt es zu erfassen, sowohl philosophisch, künstlerisch als auch wissenschaftlich, analytisch, weil nach Bloch in diesem Erbe die kommende Welt, die kommende Gesellschaft verborgen angelegt und hier auf den Akt der Freisetzung durch das organisierte Proletariat angewiesen ist. Wirkliche Genesis, von der Marx sprach, ist also „nicht am Anfang, sondern am Ende". Sie beginnt, wenn die Bedingungen der Möglichkeit der sozialen und politischen Existenz des Menschen radikal in Frage gestellt sind, wobei .radikal' meint: von der Grund- und Ausgangsperspektive der Geschichte des arbeitenden Menschen aus gesehen, die nicht auf bloße Ökonomie zu reduzieren ist. Das ausschließlich ökonomische Gewicht wird in dem Maße zurücktreten, in dem der arbeitende Mensch in die Lage versetzt ist, die in ihm angelegten Möglichkeiten voll freizusetzen. Erst mit der Befreiung von den Fesseln der Ökonomie beginnt die Verwirklichung der Anerkennung des Menschen durch den Menschen — nicht zuletzt durch die Verwirklichung der Philosophie, Kunst und Wissenschaft, wie sie in der Fragestellung der Philosophie Ernst Blochs in ihrer aktuellen Ausprägung angelegt ist.

Anmerkungen

1) Nur wenige Literatur darf ich hier anführen:
Ernst Blochs Revision des Marxismus. Kritische Auseinandersetzung marxistischer Wissenschaftler mit der Blochschen Philosophie. Berlin (Ost): Deutscher Verlag der Wissenschaften 1957.
Ernst Bloch zu ehren. Beiträge zu seinem Werk. Hrsg. von S. Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verl. 1965.
Ernst Blochs Wirkung. Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag. Frankfurt /M.: Suhr­kamp Verl. 1975.
Ernst Bloch zum 90. Geburtstag: Es muß nicht immer Marmor sein. Berlin: Wagen­bach 1975.
Hans Heinz Holz: Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt. Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand Verl. 1975.

2) Ich habe bewußt keinen Einzelnachweis aufgeführt, weil dies in der deutschen Sekundärliteratur bereits zu einer Manie geworden ist, die den Blick mehr auf die Quelle als auf den Gedankengang selbst lenkt, - ablenkt. Ich habe mich hier auf folgende Werke Blochs konzentriert:
Das Prinzip Hoffnung (1959; Bd. 5/6 der Gesamtausgabe)
Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972; Bd. 7 der Gesamt­ausgabe)
Tübinger Einleitung in die Philosophie (1970; Bd. 13 der Gesamtausgabe) Experimentum mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis. (1975; Bd. 15 der Gesamtausgabe)

3) Eine ganz vorzügliche Einführung in das Denken Blochs stellt dar: Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch. Hrsg. von Arno Münster. Frank­furt/M.: Suhrkamp Verl. 1977.

Editorische Hinweise

Hans-Peter Hempel, Die Grundfragestellung der Philosophie Ernst Blochs, in: Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, 3-4/1977, Westberlin, S. 135-144, OCR-Scan red. trend