Für Jan
Bloch
Vorbemerkung
Die Auseinandersetzung mit der Philosophie Ernst Blochs hat noch
gar nicht begonnen. (1) Uns wird erst jetzt allmählich bewußt,
was es mit dieser „Philosophie der unfertigen Welt" auf sich
hat. Darum scheint es mir sinnvoll zu sein, hier noch einmal
thesenartig die wesentlichen Züge der Grundfragestellung der
Blochschen Philosophie (2) herauszuarbeiten, wobei ich davon
ausgehe, daß der eine oder andere, der sich durch diese Thesen
herausgefordert fühlt, mit der Auseinandersetzung beginnt und
gerade dadurch die Fruchtbarkeit der Blochschen Philosophie auch
für die konkrete politische Praxis der Gegenwart unter Beweis
stellt.
1.
Versucht man, die gegenwärtig vorhandene futurologische
Literatur auf ihre philosophische Grundstruktur hin zu
analysieren, so fällt ein übereinstimmendes Welt- und
Wirklichkeitsverständnis auf. Sie stellt sich im Grunde eine im
Werden befindliche Welt vor, „die selbst noch nicht zu ihrem
eigenen Zweck": der in ihr vereinigten mündigen Bürger gelangt
ist. Sowenig diese Literatur schon eine eindeutige Antwort auf
das Woher, Wohin und Wozu dieses Weltgeschehens geben kann,
sowenig stellt sie die Behauptung auf, daß die Welt, die mit
Hilfe der sozialwissenschaftlichen Planung rational kalkuliert
werden soll, schon vollendet ist. Von dieser Welt kann daher mit
Bloch gesagt werden: daß sie sich, wenn überhaupt, erst in den
prozeßhaften Versuchen ihres Unterwegs vorbereitet.
Sowenig — mit anderen Worten — die
futurologische Literatur, und mit ihr die Philosophie, schon
eine endgültige Antwort und damit der Wissenschaft auch eine
endgültige Zielvorstellung vermitteln kann, sowenig ist diese
Welt, in der wir leben, schon jene, die ihre Antwort
rechtfertigen könnte.
2.
Philosophie im Blochschen Sinne schärft den Blick für das Welt-
und Menschheitsgeschehen: als „real-mögliches Utopikum", indem
sie, unablässig die Zu
kunft antizipierend, nach neuen Erfahrungen Ausschau hält, die
sie als mögliche Zielvorstellungen der Wissenschaft (hier immer
Sozial- und Naturwissenschaft zusammengedacht)
vorgibt
und die ihrerseits nun von einer bestimmten Gruppe von
Erscheinungen Modelle entwirft, aufgrund derer die beobachtbaren
Erscheinungen erst wiedergegeben werden können.
Das solchermaßen „Vorwegnehmen" (Antizipieren) in spekulativ
begründeten Gedanken, die ihre eigene Denkschärfe haben,
bedeutet also nie die Vorwegnahme einer wissenschaftlichen
Erkenntnis, die sich allein durch die zwingende, stets
nachprüfbare Methode partikularen Zielen verpflichtet. Die
Wissenschaft wahrt hier den instrumentalistischen Charakter: mit
Hilfe ihres empirischen Instrumentariums die Erscheinungen der
wahrnehmbaren Welt zu untersuchen und dem Menschen die Mittel an
die Hand zu geben, „diese Erscheinungen so gut wie möglich
seinem Handeln gefügig zu machen".
3.
Die ,Anthropologie' einer so verstandenen Philosophie der Praxis
im real-utopischen Horizont folgt aus einem eigentümlichen Welt-
und Wirklichkeitsverständnis.
Begreift man im Blochschen Sinne die Welt als „real-mögliches
Utopikum", so kann das menschliche Dasein auch nur als ein Wesen
verstanden und definiert werden, „das sich selber noch
unmittelbar, grundhaft verdunkelt, ja noch gar nicht gegenwärtig
ist und eben deshalb Geschichte hat."
Diese Geschichte zeigt nun ihrerseits den Menschen als
reale Möglichkeit
all dessen an, was aus ihm geworden ist und - was die
futurologische Literatur immer wieder hervorzuheben versucht -
„vor allem mit ungesperrtem Fortschritt noch werden kann".
Der Mensch als das historisch variabelste Wesen muß - wenn es
sich
als Möglichkeit:
„das Ganze ... (seiner) inneren wie äußeren Bedingungen ... noch
nicht verwirklicht" zu haben, begreift - immer wieder durch die
Geschichte laufen: gebunden an die materiellen Voraussetzungen,
kurz: gebunden an die der realen Möglichkeit des Prozesses der
Welt selbst: „zu all den Gestalten, die in ihrem Schoß
latent
und durch den Prozeß aus ihr entbunden werden".
Indem die Philosophie also nach Bloch das menschliche Dasein als
ein In-der-Welt-Sein der realen, d.h. materiellen Prozeßbewegung
voller Möglichkeiten bestimmt, eröffnet sie die Dimension der
Offenheit der Welt, in der sich die menschliche Freiheit und
damit ihr Sinnbewußtsein für seine wissenschaftliche Praxis erst
bewähren muß. „So reicht der arbeitende Mensch, diese Wurzel der
Menschwerdung", nach den Worten Blochs, „verwandelt durch seine
ganze weitere Geschichte und entwickelt sich immer genauer. Ja,
man kann sagen, auch der aufrechte Gang des Menschen, dieses
unser Alpha, worin die Anlage zur vollen Ungebundenheit, also
zum Reich der Freiheit liegt, geht selbst immer
wieder verwandelt und genauer qualifiziert durch die Geschichte
der immer konkreteren Revolution" hindurch.
4.
Der Sinn der Wissenschaft kann nach Bloch aus der Wissenschaft
selbst nicht erschlossen werden, sondern bewährt sich erst in
der durch die Philosophie der Praxis vermittelten Reflexion.
Folglich ist das Denken aus bestimmbaren Voraussetzungen zur
Erkenntnis von Gegenständen in der Welt - etwa zu Zwecken der
politischen Planung - ein anderes als das Denken aus
nicht-kategorial faßbaren Voraussetzungen der Existenzverfassung
des Menschen, das der Philosophie eigentümlich ist. Verliert die
Wissenschaft das durch die so verstandene Philosophie
vermittelte Bewußtsein, so gerät sie in Gefahr, sich in endlosen
Feststellungen zu verlieren und zum Selbstzweck zu werden.
Dieser oft beschriebenen Gefahr kann nach Bloch durch eine heute
in ihrem Selbstbewußtsein gestärkte Philosophie entgegengewirkt
werden, mithin: durch eine Philosophie, die nicht der Erhaltung
des Gewordenseins, sondern der „Erhaltung im Sinne des Werdens,
d.h. des
Experimentierens
auf den Inhalt des Daß-Kerns"
dient.
Das bedeutet: das Niveau und Ansehen der Wissenschaft insgesamt
zu heben, die wohl an den Gebietskategorien der vorhandenen,
tatsächlichen Welt festhält, - darüberhinaus aber auf die
Invarianz einer von der Philosophie der Praxis vorausgedachten,
antizipierten Richtung: eines sich voll emanzipierenden Menschen
eingeschworen und bewegt bleibt.
5.
Die von der Wissenschaft befolgten Grundvoraussetzungen bewegen
sich nach Bloch im Wahrheitsbereich der jeweils antizipierten
konkreten Utopie,
jedoch im Utopikum einer, wie schon hervorgehoben, erst zu
schaffenden, herauszuprozessierenden besseren Welt. Das
,Bessere' ist zwar in dieser Welt schon latent, also im Daß-Kern
enthalten, ihr gegebenes Versprechen auf den
aufrechten Gang
hin aber
noch nicht
eingelöst:
der Weltprozeß insgesamt bisher weder vereitelt noch gewonnen.
Das jedoch heißt, daß die Welt: als ihr eigenes „Laboratorium
versuchter Selbstbestimmungen des letzthin noch ausstehenden
Was", weder abgeschlossen noch je abschließbar ist; diese
Perspektive insgesamt ist das eigentliche bewegende Element, die
Dynamik sowohl der Philosophie als auch der Wissenschaft. Wir
können auch sagen: durch eine so verstandene Philosophie der
Praxis, einer so praktisch werdenden Philosophie, wird erst der
eigentliche Bereich der Wissenschaft .eröffnet', Wissenschaft so
erst möglich. Noch präziser formuliert: Die Tragfähigkeit der
Grundvoraussetzungen der Wissenschaft wird stets erst verbürgt
durch die Schärfe der Explikation der Dimension, in die die
Philosophie
der Praxis vorzudringen versucht: „in dieses Noch-Nicht-Bewußte,
ins ungewor-den-unerfüllte oder utopische Feld".
6.
Unter dem Anspruch bzw. unter der Herausforderung einer so
verstandenen
Philosophie der
Zukunft,
von Bloch auch
Tendenzforschung
genannt, erfolgt in Blochs Werken eine Neuaneignung der
vorhandenen Sozialutopien, in denen sich mit Nachdruck das Ziel
nach menschlichem Glück manifestiert. So im Naturrecht, das
ausgerichtet ist auf die menschliche Würde. Bloch stellt die
Frage: Welchen erzutopischen Inhalt hat das Christentum, seine
Erlösungshoffnung, wobei dieser als wohl am stärksten ins Auge
springender Hoffnungsinhalt für Bloch Ausgangspunkt seines
Philosophierens war; das Marxsche Denken trat erst später hinzu.
„Mitbestimmend für Blochs erste Zuwendung zum Marxismus dürfte
gewesen sein", schreibt m. E. zu Recht Hans Heinz Holz, „daß der
Denker des antizipierenden Bewußtseins hier eine exakt
ausgearbeitete Methode vorfand, wie Weltveränderung in Gang zu
setzen sei. Utopie bleibt nun nicht länger mehr bloße
Träumerei."
Auch in Mythologien, in Archetypen, Allegorien und Symbolen sind
für Bloch derartige nach vorn weisende Bewußtseinsinhalte
auszumachen, die in der Geschichte noch nie verwirklicht worden
sind. Diese müssen ans Licht gebracht werden. An diesen ist ein
,Erbe' auch in der heutigen Zeit anzutreten, wobei der, der
erbt, erst verstehen lernen muß, das nach vorne Weisende am
überlieferten Vergangenen im Jetzt zu nennen, - und das, bevor
die Rechten, die Faschisten, die dort ebenso enthaltenen
rückwärtsweisenden Gehalte wieder für sich ausbeuten.
7.
Ich will das, was ich bisher ausgeführt habe, noch etwas über
das bisher angeschlagene Thema hinaus vertiefen.
Die Antizipation der Zukunft - und um sie geht es im Hinblick
vor allem auf die Wissenschaft - ist die schöpferische
Möglichkeit der dem Menschen eigenen „produktiven
Einbildungskraft" (Kant). Sie ist nach Bloch die „Morgenröte im
Menschenwillen", das „echte Novum insgesamt", der „Horizont der
Utopie". Der Zukunftsmodus der Zeit ist der Raum der realen
Möglichkeit der Geschichte, der „am Horizont der jeweiligen
Tendenz des Weltgeschehens liegt". Das, was dabei von Bloch als
Tendenz bezeichnet wird, darf auf keinen Fall mit dem
Gesetzesbegriff der Wissenschaft identifiziert werden. Tendenz
bezeichnet die Grundmöglichkeit und -richtung, derzufolge die
objektiven Bedingungs-Folge-Zusammenhänge in ihrer Bedeutung
erst hervortreten. Bloch: „Gesetze in der Wissenschaft sind
keine tabuhaften normae agendi von oben her,sondern
ausschließlich genetisch-immanente Bedingungszusammenhänge",
aufgrund deren die bisherigen Gesetze variieren.
Diese „veränderten Bedingungen", wir können mit Kuhn auch sagen:
der Paradigma-Wechsel, durch die die Gesetze der Wissenschaft
bestimmt werden, zu erkunden, ist Aufgabe der von Bloch als
Philosophie betriebenen Tendenzforschung. Sie erst vermittelt
der Wissenschaft ,Spannungsgestalten', .Tendenz'-und
.Zeitfiguren', mithin objektive Figurationen konkreter
Erscheinungen, die von der Wissenschaft wiederum einem ihr
eigentümlichen Vergegenständlichungs-prozeß unterworfen werden.
Die von der Tendenzforschung antizipierten Bilder', die ,Ideen',
bilden also kein „ruhendes Reich" (Piaton). Sie sind vielmehr
die jeweils Gehalt-ausprägenden Figurationen der Zeit: die,
stets neu versuchte Gehaltsgestalten setzend, als ein
fortlaufend unabgeschlossener Prozeß des Noch-Nicht-Seins, d.h.
des voll emanzipierten Weltzustandes, gedeutet werden können.
Für die klassische Philosophie war das Sein schon ausgemacht,
lag das Sein schon fertig vor; es bestimmte seinerseits das
Seiende. Anders ausgedrückt: am,Anfang' ist schon alles perfekt
vorhanden (Sein als Vorhandenheit). Für Bloch hingegen will das
Sein erst aus seiner Unvollkommenheit heraus. Wäre das Sein
schon fertig, wäre das Nicht-Haben nicht, das aus seinem Mangel
heraus zum Haben treibt, so gäbe es keinen offenen Prozeß; es
bliebe alles beim alten.
8.
Die Welt der Tendenzforschung, und mit ihr die der Wissenschaft,
ist im Blochschen Sinne der widerständige Experimentierraum,
dessen erkenntnistheoretische Schwierigkeiten darin gründen, daß
er selbst quasi „aus dem Unentschiedenen, Ungelungenen, noch
Ungewonnenen des Realprozesses selber und zutiefst aus dem
drohend umgehenden Nichts darin" kommt. Daher kann Bloch die
zitierten Spannungs- und Tendenzfiguren als Figuren eines
Unterwegs: als „Ausgangsgestalten ihrer selbst" und als
„objektiv-experimentelle Realmodelle jenes wahren Totum, das
erst im Schwange steht", präzise definieren.
Wissenschaft, von der Tendenzforschung jetzt derart auf den ihr
angemessenen Weg gebracht, analysiert schließlich die
objektivierten Bedingungs-Folge-Zusammenhänge als
„Anwendungsgesetze" (Albert), die weder „zuversichtlich,
kontemplativ, gesetzesfetischistisch bewundert", noch ein für
allemal zu verdinglichen sind: „als wäre das Experiment
Geschichte gar keines, sondern eine ohnehin gesetzfetischistisch
oder auch theologisch vorkanalisierte Herdenfahrt, gleich der
einer Reisegesellschaft: mit vorhergesehener, vorbestimmter
Route, ausgemachten Hotels, wohin die Subjekte, bei richtig
gegängeltem Verhalten klassenlos oder auch himmlisch einfahren."
Die Wissenschaft gibt ihrerseits den von der Tendenzforschung,
der Philosophie bezeichneten Realmodellen „im jeweiligen Totum
einer Gesellschaftsweise" den objektiven, d.h. feststellbaren
Gehalt. Sie stellt damit
Orientierungs-
und
Entscheidungshilfen
bereit, „die nachprüfbare und widerspruchsfreie Maßnahmen
ermöglichen und den (in der Realität) bestehenden
Unsicherheitsbereich einengen".
Dergestalt ist die Welt der Wissenschaft immer voller Figuren,
von der Tendenzforschung antizipiert und konkretisiert: „voller
Immergenz dieser Art, mit qualifizierendem Mehr-Gefüge über die
jeweilige Summe der jeweiligen Teile". Zugleich aber, fährt
Bloch fort, „mit jener Einheit von genetischem Fluß samt seinen
Gesetzen und strukturellen Gestaltqualitäten, ohne welche
Einheit eben es weder Fluß — als Prozeß von etwas — noch
Gestalten — als unstatische Prozeßfiguren — geben könnte." Die
Wissenschaft erlangt für den gegenwärtigen und zukünftigen
Weltzustand dadurch an Bedeutung, daß sie schon von sich her auf
das Utopische überhaupt in ihren Objektivierungen verweist.
Demgegenüber ist die der Tendenzforschung eigene Grundbewegung
der stets wiederholbare und zu wiederholende Versuch der Zeit:
sich selbst zu entsprechen, so daß der Wissenschaft die
Qualifikation einer Etappenwissenschaft zugesprochen werden kann
und zugesprochen werden muß. Sie geht mit der gefährdeten Zeit,
vergegenwärtigt sich aufgrund der Erörterungen der
Tendenzforschung des Heraufkommenden, so daß sie auf ihre Art
„durch Vorwegnahme, durch Utopie, als ein blinder Raum, als
Prozeßraum der Zukunft nicht etwa steht, sondern aufgeht, ja zum
Aufgehen erst gebracht und entschieden wird". Gerade das ist
undenkbar ohne bewußt betriebene Tendenzforschung. Sie ist die
Aussicht-Erforschung des In-Möglichkeit-Seienden. Sie trachtet
danach, den Horizont des bisher noch nicht Verwirklichten, des
.Möglichen', zu gewinnen. Ihr Bewußtsein ist ein
antizipatorisches, das der Wissenschaft die sie bestimmenden
Ziele vor-gibt und aufgrund derer sie ihre Analysen und
Synthesen durchführt: um sie schließlich in jene politischen
Entscheidungshilfen zu transformieren, ohne die eine
sozialistische Gesellschaft schon allein vom Grundansatz her
gesehen kaum zu verwirklichen ist.
9.
Wir sehen: Bloch geht es darum, vorwärtstreibende Utopie ineins
mit der Realität zu begreifen. Die in der Utopie wirksame
Hoffnung richtet sich dabei auf die unabgeschlossene
Daseinsbestimmung; sie ist „kognitiver Art",
dialektischmaterialistisch begriffene Hoffnung. Die Weltsprache
ist sich „Realgeheimnis", zu dessen Lösung sie unterwegs ist. Es
geht, um weiter zu präzisieren, um das Herausmanifestieren der
Welt: um „das Novum der konkret werdenden Utopie". Sie macht den
Sinn der Geschichte aus, wobei ihre Etappenziele rational
bestimmt werden müssen. — Anders, noch präziser formuliert: Die
„konkrete Utopie" hat sich dem „Geschichtsindex der
historisch-prozeßhaften Materie" vermittelt. Sie ist deshalb in
der Welt, weil „die Materie der Welt selbst noch nicht
geschlossen ist". Darauf werde ich gleich noch einmal
zurückkommen.
Wir sahen bisher: in der Blochschen Philosophie vollzieht sich
die Aufhebung letzter Gewißheiten und Wahrheiten in einer
Radikalität, so daß gerade für Außenstehende der Eindruck
entsteht, als habe sie gegenwärtig nichts zu sagen. Aber von
welchem Blickwinkel und von welchem Ansatz auch aus gesehen: der
Blochschen Fragestellung geht es darum, zu zeigen, daß die Welt
die Wirklichkeit und die wissenschaftlich begriffene Realität
insgesamt, die Wahrheit und die Sprache und darin der Mensch
(hier angesprochen als Gattungswesen): als Experimentierform
eigener Entwurfsversuche, zu verstehen und zu begreifen ist.
Bloch: „Der Mensch ist ein X der Unbestimmbarkeit", gleichwohl
„aber auch ein X der Bestimmbarkeit". Das soll heißen: Sehen wir
von den wissenschaftlich erörterten Bestimmbarkeiten ab, so
wissen wir bis heute nicht und werden es vermutlich auch nie
wissen: wer und was der Mensch „eigentlich" ist. Wir wissen
nicht, ob wir im alten Sinne Menschen sind. Wir sind eher ein
„experimenteller Ausdruck" und „werden in der jeweiligen
Gesellschaft im umgekehrten Verhältnis formuliert".
Wenn ich jedoch die Menschen und Dinge weniger nach ihrem
Ursprung, aus dem sie stammen, als nach den
Möglichkeiten,
die in ihnen stecken, beurteile, dann impliziert dies eine
Neuinterpretation
der überlieferten Kategorienlehren,
die zugleich die Statik der überlieferten Ontologie und Logik
aufbricht und in ein dynamisch-prozeßhaftes Kategoriensystem
umformt und somit neue Perspektiven der Realitätserfahrung
freisetzt.
10.
Das übliche Verfahren, vom Begriff zum Urteil fortzuschreiten,
ist für Bloch verdächtig, es bedeutet: daß ein Begriff immer
schon in sich einschließt, was durch ein Urteil herausgeholt
wird. Mit anderen Worten: Der Urteilende ist an fertig Gegebenes
gebunden, dessen Implikate er entfaltet, in das er jedoch nicht
verändernd eingreift.
Demgegenüber behauptet Bloch, daß nicht der Begriff das Urteil,
sondern umgekehrt: das Urteil den Begriff bestimmt. Was am
Anfang steht, ist ein bloßer „Ergriff, d.h. eine Vorform, die
erst im Prozeß des Urteilens und durch den Prozeß zu sich selbst
zum Begriff gelangt. In der Sprache, der ein Terminus wie
„Ergriff Gewalt antut, ist die Konvention verborgen, gegen deren
Widerstand Bloch die von ihm gewonnene Einsicht zu formulieren
versucht. Blochs Philosophie des Unterwegs unterscheidet sich
von jeder Ursprungsphilosophie durch die Maxime: daß sich die
Grundverfassung, die Logik von Welt und Mensch erst am Ziel
zeigt, dem sie zustrebt. Die Welt ist weniger ein gerundeter
Kosmos als ein — wie ich bereits mehrfach hervorhob —
Versuch mit
Ungewissem Ausgang.
In dem „real Möglichen", der Utopie, versteht Bloch „real
Mögliches", das sich zum Guten wendet, in dem aber auch von
Anfang an und stets das Risiko des Scheiterns mit eingeschlossen
ist. ,Experimentum Mundi' ist so das zielgerichtete
Experiment, dessen Gegenstand in einer
noch nicht
entschiedenen: unentschiedenen, aber durchaus kenntlich
vorgezeichneten Zukunft liegt.
Konkretisiert: Es gibt nach Bloch wohl eine Tendenz zur
klassenlosen Gesellschaft, nicht aber ein Gesetz in der
Geschichte, nach dem sie sich .notwendig' einstellen müßte.
Bloch: es „ist nichts vorprogrammiert, sondern alles ist uns als
Problem aufgegeben".
Im Detail führt Blochs Kategorienlehre von den
„dimensionierenden Kategorien" Zeit und Raum über die
„Transmissionskategorien" Kausalität, Finali-tät und latente
Substantialität sowie die „manifestierenden Kategorien" im Felde
von Quantität und Qualität zu den „kommunizierenden "
Gebietskategorien — wie der menschlichen Geschichte und Natur.
Darauf will ich jetzt im Detail nicht eingehen. Ich greife daher
nur diesen Gedankengang heraus:
Materie
ist im Sinne der Blochschen Kategorienlehre das andere unserer
selbst. Sie ist atmender, „gärender Prozeß",
das Ganze des
Universums in selbstexperimentierender Entwicklung.
Materie ist mithin nicht etwas, das im Labor ein für allemal
fixierbar, in eine Weltformel einzufangen ist; Materie ist das
faktische, unableitbare Prozessieren des Weltalls selbst, wobei
dieses Faktum einer unableitbaren Entwicklungsfähigkeit die Welt
zum Laboratorium possibilis salutis macht, zum
Experimentierfeld, will sagen: zum historischen Entwurf der
möglichen Befreiung des Menschen.
In gleicher Weise wird Bloch zufolge auch die Welt wieder als
ein Prozeß verstanden, in dem die Faktizität des Seins zu ihrem
Wesen findet, das ,Daß' zu seinem ,Was', wie ich vorhin
ausführte. Bloch: „Das Sein erscheint originär als dasjenige,
was eines Inhalts nicht gewiß ist, sich so im suchenden
Schwebezustand zwischen Nicht und Haben befindet und aus ihm
gärend, quälend, quellend heraus will."
Den Anstoß zu diesem Übergang bezeichnet Bloch als „Frage des
Seins", die er im pulsierenden Pochen des jeweiligen Augenblicks
am Werke sieht. Gemeint ist nicht bloß eine das Sein in seinem
puren „daß etwas ist" betreffende menschliche Frage, sondern ein
dem Sein selbst immanenter Antrieb - nicht bloß im Sinne des
geschichtlichen Elements der Produktivkräfte, sondern auch als
teleo-logische Bewegung der Natur als Natur (natura naturans).
Die aus dem Daß-Sein herausgetriebene Welt kann nun wieder ein
.Experiment' in dem Sinne genannt werden, daß alle Antworten auf
die Ursprungsfrage bislang nur „versuchsweise" gelten. Die
„schwierige Welt" ist
als Experiment
unterwegs,
wobei das Ziel des Welt-Weges in Blochs Rede vom „Laboratorium
möglichen Heils" anklingt.
Damit es aber gerade hier kein Mißverständnis gibt: Noch kann
von einem glücklichen Ausgang des Versuchs nicht gesprochen
werden. Fest steht allein nur wieder die
Grundperspektive:
„Die Welt ist eine einzige noch unablässige Frage nach ihrem
herauszuschaffenden Sinn, worin allein der Hunger zu stillen
ist, mit offenem Plus und noch ausstehendemUltimum in
objektiv-realer Möglichkeit. Darum eben geschieht die große
Drehung, Hebung aus dem Dunkel des Unmittelbaren heraus, die
Welt-Prozeß heißt: mit tätiger Antizipation im Subjekt,
gerichtet auf Glück, in einer Gesellschaft ohne Herr und Knecht,
gerichtet auf dadurch mögliche Solidarität aller, id est auf
Freiheit und menschliche Würde, in Natur als einem nicht mit uns
Fremdem behafteten Objekt, gerichtet auf Heimat."
11.
Mit Bloch haben wir in ständiger Vergegenwärtigung dieser
Perspektive heute weiter zu fragen, was los ist mit unserer
Gegenwart, was faul ist
hier
und
jetzt
und was in unserer unmittelbaren Gegenwart und Umgebung die
Durchsetzung des Ziels einer menschenwürdigen Gesellschaft nach
wie vor verhindert.
Bloch entreißt, so formulierte ich, den vergangenen
Sozialutopien eine Fülle von „utopischem Überschuß", den er für
eine humane Zukunft in der Jetztzeit retten will, statt ihn zum
Schutt der Vergangenheit werden zu lassen. In Religion, Moral
und Kunst entdeckte er dabei immer wieder Gehalte, die sich
bisher nicht erschöpften, sondern nach wie vor utopisch
Uneingelöstes darstellen.
Konkret, auf die empirische Ebene bezogen besagt dies: daß die
sich gegenwärtig in einer fundamentalen Krise befindende
bürgerliche Gesellschaft schon jetzt eine kommende Vielfalt
austrägt, wobei sie hier und da auch schon Elemente ihrer
eigenen Überwindung freisetzt. Dieses Erbe der bürgerlichen
Selbstdestruktion und Selbstdestruierung in Philosophie, Kunst
und Wissenschaft gilt es zu erfassen, sowohl philosophisch,
künstlerisch als auch wissenschaftlich, analytisch, weil nach
Bloch in diesem Erbe die kommende Welt, die kommende
Gesellschaft verborgen angelegt und hier auf den Akt der
Freisetzung durch das organisierte Proletariat angewiesen ist.
Wirkliche Genesis, von der Marx sprach, ist also „nicht am
Anfang, sondern am Ende". Sie beginnt, wenn die Bedingungen der
Möglichkeit der sozialen und politischen Existenz des Menschen
radikal in Frage gestellt sind, wobei .radikal' meint: von der
Grund- und Ausgangsperspektive der Geschichte des arbeitenden
Menschen aus gesehen, die nicht auf bloße Ökonomie zu reduzieren
ist. Das ausschließlich ökonomische Gewicht wird in dem Maße
zurücktreten, in dem der arbeitende Mensch in die Lage versetzt
ist, die in ihm angelegten Möglichkeiten voll freizusetzen. Erst
mit der Befreiung von den Fesseln der Ökonomie beginnt die
Verwirklichung der Anerkennung des Menschen durch den Menschen —
nicht zuletzt durch die Verwirklichung der Philosophie, Kunst
und Wissenschaft, wie sie in der Fragestellung der Philosophie
Ernst Blochs in ihrer aktuellen Ausprägung angelegt ist.
Anmerkungen
1) Nur
wenige Literatur darf ich hier anführen:
Ernst Blochs Revision des Marxismus. Kritische
Auseinandersetzung marxistischer Wissenschaftler mit der
Blochschen Philosophie. Berlin (Ost): Deutscher Verlag der
Wissenschaften 1957.
Ernst Bloch zu ehren. Beiträge zu seinem Werk. Hrsg. von S.
Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verl. 1965.
Ernst Blochs Wirkung. Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag.
Frankfurt /M.: Suhrkamp Verl. 1975.
Ernst Bloch zum 90. Geburtstag: Es muß nicht immer Marmor sein.
Berlin: Wagenbach 1975.
Hans Heinz Holz: Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der
unfertigen Welt. Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand Verl. 1975.
2) Ich habe
bewußt keinen Einzelnachweis aufgeführt, weil dies in der
deutschen Sekundärliteratur bereits zu einer Manie geworden ist,
die den Blick mehr auf die Quelle als auf den Gedankengang
selbst lenkt, - ablenkt. Ich habe mich hier auf folgende Werke
Blochs konzentriert:
Das Prinzip Hoffnung (1959; Bd. 5/6 der Gesamtausgabe)
Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972;
Bd. 7 der Gesamtausgabe)
Tübinger Einleitung in die Philosophie (1970; Bd. 13 der
Gesamtausgabe) Experimentum mundi. Frage, Kategorien des
Herausbringens, Praxis. (1975; Bd. 15 der Gesamtausgabe)
3) Eine
ganz vorzügliche Einführung in das Denken Blochs stellt dar:
Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch.
Hrsg. von Arno Münster. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verl. 1977.
Editorische
Hinweise
Hans-Peter Hempel, Die Grundfragestellung der Philosophie Ernst
Blochs, in: Sozialistische Zeitschrift für Kunst und
Gesellschaft, 3-4/1977, Westberlin, S. 135-144, OCR-Scan red.
trend
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