Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Räder und Kassen stehen still.
Erste echte „soziale Kraftprobe“ für François Hollande & Manuel Valls

5/6-2014

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Der Ton wird rauer, und den Teilnehmer/inne/n an den laufenden Arbeitskämpfen bläst ein eiskalter Wind ins Gesicht. Besonders scharf trifft es die Streikenden bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF, die seit dem Dienstag letzter Woche (10. Juni 14) im Ausstand sind. Währenddessen stehen die ebenfalls stark zu Streiks und Demonstrationen mobilisierten intermittents du spectacle die prekär Beschäftigten des Kulturbetriebs, ohne die das französische Kulturleben zusammenbrechen würde – ein wenig im Windschatten der medialen und politischen Mobilmachung. Während die seit zwei Jahren amtierende sozialdemokratische Regierung in Frankreich ihre allererste massive „soziale Kraftprobe“ durchläuft, werden alle Kräfte darangesetzt, die Streikteilnehmer zu isolieren, zu diffamieren und in die Defensive zu treiben.

Dabei scheinen das Kabinett und der Präsident umso aggressiver vorzugehen, als sie wissen, dass ihre Regierungspolitik absolute Rekordwerte an Unpopularität erreicht. Eine am 29.05.14 publizierte Umfrage kam etwa zum Ergebnis, nur drei Prozent der Stimmbevölkerung wünschten, dass Hollande noch einmal zu einer späteren Präsidentschaftswahl kandidiert (vgl. http://www.metronews.fr/).

Vor diesem Hintergrund fürchten die Regierenden, jegliche Schwächezeigen, jedes Nachgeben gegenüber den Arbeitskämpfen werde die „Büchse der Pandora“ öffnen, und sie werde rasch die Kontrolle über eine wachsende Zahl an Forderungen und Kritiken verlieren. Zumal auch bis zu 100 Abgeordnete der regierenden Sozialdemokratie in Opposition zum Regierungskurs vor allem in der Wirtschaftspolitik eingetreten sind. Befürchtet wird in Regierungskreisen, bis zu 30 von ihnen könnten bei der Debatte über das Haushaltsgesetz eine „parlamentarische Guerillataktik“ hinlegen und ständige Änderungsanträge in die Parlamentsdebatte einbringen. Der amtierende Premierminister, der ganz rechte Sozialdemokrat Manuel Valls, versucht es mit Dramatisierung. Er empfing sechs der Aufmüpfigen an seinem Amtssitz und herrschte sie an: „Worauf wollt Ihr eigentlich hinaus, Ihr Burschen?“ (Vous allez où, les gars?) Zugleich beschwor er am vergangenen Wochenende des 14./15. Juni mit Pathos in der Stimme den „möglichen politischen Tod der Linken“ (La gauche peut mourir) – mit letzterem Ausdruck meinte er die regierende Sozialdemokratie, obwohl ihre Politik nicht einmal mehr als sozialdemokratisch zu bezeichnen ist – und drohte seiner Partei, wenn sie nicht bei der Stange bleiben, dann könnten als Alternative die Neofaschisten ans Ruder kommen.

Der amtierende Regierungschef, Manuel Valls, bezeichnete den Streik bei der SNCF am Montag dieser Woche (16.06.14) als „nutzlos, „unverantwortlich“ und fügte hinzu, die Französen verstünden ihn nicht. Während seine Minister unterstellen, es handele sich um einen quasi rein politischen Streik; die Rede ist von einer „Rache der Wahlverlierer“ (vengeance sur les urnes), wobei die „Linksfront“ – Zusammenschluss aus französischer KP und einer Abspaltung von der Sozialdemokratie – im Visier steht, und in geringerem Ausmaß die Trotzkisten.

Valls‘Vorgesetzter, Präsident François Hollande, hatte bereits am vergangenen Freitag, den 13. Juni 14 gegen die Streikenden gewettert und sie dazu aufgefordert, „das Allgemeininteresse nicht aus den Augen zu verlieren“. Hollande fügte hinzu: „Man muss es verstehen, einen Arbeitskampf zu beenden.“ (Vgl. http://www.lefigaro.fr) Die Formulierung enthält eine unverhohlene historische Ironie: Höhnisch knüpft François Hollande an die fast gleichlautende, berühmte Formulierung des damaligen stalinistischen KP-Chefs Maurice Thorez aus dem Jahr 1936 an – il faut savoir arrêter une grêve, „man muss einen Streik zu beenden verstehen“. (Im deutschen Gewerkschafterjargon bzw. in der Sprache des Apparats würde der Ausspruch von Thorez ungefähr dem Ausdruck entsprechen: „Wenn man die Leute auf die Bäume treibt, muss man sie auch wieder runterholen können…“)

Thorez setzte sich damit für eine Beendigung des Generalstreiks im Mai und Juni 1936 ein, welcher auf den Wahlsieg des linken Front populaire, gewöhnlich sehr grobschlächtig mit „Volksfront“ übersetzt (richtiger wäre ungefähr „Front der Unterklassen“), folgte. Während der linke Flügel der Sozialdemokratie, Trotzkisten und Libertäre an eine vorrevolutionäre Situation glaubten, wollte die KP die neue Linksregierung nicht gefährden und setzte sich nach vier Wochen für eine Beendigung der Streikwelle ein. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zu den heutigen Worten des Rechtssozialdemokraten François Hollande: Der Parteikommunist Thorez fügte damals hinzu, man müsse dann mit dem Streiken aufhören, „wenn dessen wesentliche Forderungen erfüllt wurden oder, auch wenn nicht alle Forderungen erfüllt werden konnten, wenn ein guter Kompromiss erzielt wurde“. Diese Satzhälfte fehlt bei Hollande.

Geht es nach ihm und seiner Regierung, beenden die Streikenden heute ihren Arbeitskampf mit so gut wie gar nichts in den Händen. Auch unter früheren konservativen Regierungen nahmen zwar deren Chefs oder ihre Minister gegen die Ausständischen Stellung, wie bei den Transportstreiks 1995 und 2003, aber nicht bereits am dritten Tag in dieser Schärfe. (Allerdings hatte der damalige Staatspräsident Jacques Chirac auf die Nachricht vom Ausbruch des SNCF-Streiks im November 1995 launisch mit den Worten reagiert: Eh bien, je m’en fous – „Eh bien, das ist mir wurscht.“)

Medienhetze

Die Medien in Frankreich bleiben dahinter nicht zurück. Die Boulevardzeitung Le Parisien – die in der Vergangenheit mitunter, auch aus Rücksichtnahme auf ihre Leserschaft in den sozialen Unterklassen, über manche Streiks eher freundlich berichtete – agitiert seit Tagen gegen den Arbeitskampf. Mehrfach hintereinander sprach sie auf der Titelseite von einem „schwarzen Tag“. Der RTL-Starjournalist Jean-Michel Aphatie behauptete am Montag, fen 16. Juni 14 bei Twitter, „selbst die Eisenbahner“ hätten „Mühe, die Gründe dieses Streiks zu verstehen“. Dies trug ihm immerhin eine zündende Antwort des bekannten Journalisten und Medienkritikers Daniel Schneidermann ein. Er forderte die Streikenden dazu auf, den Blogbeitrag eines Eisenbahners an Aphatie weiterzuleiten: „Selbst er wird dann nicht mehr so tun können, als habe er Mühe zu verstehen.“ (Vgl. http://www.arretsurimages.net/vite.php?id=17573 ) Bei dem als eher links(liberal) geltenden, vielgehörten Radiosender France Inter war in tendenziösen Formulierungen etwa von „Extrempositionen der Streikenden“ (positions jusquauboutistes) einerseits, einer „entschlossenen Regierung“ andererseits die Rede. Die negativ klingende Formulierung für die Erstgenannten, die positive für die Regierenden.

Am Dienstag, den 17. Juni 14 ging es mit einem wahren medialen Trommelfeuer weiter. Das Allgemeininformationen verbreitende Webportal Orange.fr, das der französischen Telekom gehört und von Millionen Internetabonnenten genutzt wird, titelte: „Die Franzosen haben genug!“ Dazu wurde eine Umfrage verbreitet, der zufolge 76 Prozent gegen die Fortsetzung des Bahnstreiks eintreten; vgl. http://actu.orange.fr/ Eine andere Befragung ergab ebenfalls am Dienstag, dass angeblich zwei Drittel auch eine Einschränkung des Streikrechts in den öffentlichen Verkehrsbetrieben befürworten würden (vgl. dazu bei einer neoliberalen Quelle: http://www.economiematin.fr/ ). Von Reportagen beispielsweise beim Drecks-Fernsehsender BFM TV wollen wir gar nicht erst anfangen zu erzählen. Dort wird etwa gezeigt, wie furchtbar die Fahrgäste/Passagiere leiden, während (Originalton) „die Streikenden sich amüsieren und nicht wissen, wie sie die Zeit totschlagen sollen“ (wozu ironisch hinzugefügt wird, die Ausständischen hätten „vielleicht keinen Zug bekommen, um zur Arbeit zu fahren“); vgl. dazu einen Ausschnitt: http://actu.orange.fr/

Natürlich kommt es auch immer ganz darauf an, wie die Frage gerade gestellt worden ist. Anders formulierte Fragen finden nämlich auch andere Antworten: Am Montag veröffentlichte die konservative Tageszeitung Le Figaro eine Umfrage, derzufolge 53 Prozent der Französinnen und Franzosen sich grundsätzlich vorstellen können, „in naher Zukunft selbst an einer sozialen Bewegung teilzunehmen“, gemeint sind Arbeitskämpfe. (Vgl. http://www.lefigaro.fr; Eintrag vom 16.06.14 um 14.47 Uhr)Dieser Wert variiert allerdings im Laufe der Jahre nur relativ wenig, in den letzten Jahren lag er etwa bei 48 oder 50 Prozent. Dennoch liegt er derzeit auf einer Rekordhöhe im Zeitraum der letzten fünf Jahre.

Nichtsdestotrotz hinterlässt die harte mediale Agitation gegen den derzeitigen Streik ihre Spuren. Am Pariser Bahnhof Gare de Lyon kam es etwa am Montag, den 16. Juni zu tumultartigen Szenen auf den Bahnsteigen. Da das nichtstreikenden Personal die Fahrgäste mit Reservierungen zuerst in die vorhandenen Züge einsteigen lässt, und danach die Passagiere mit Reservierungen für ausgefallene Züge, kommt es immer öfter zu gesteigerter Unzufriedenheit. Bisweilen spürt man, dass die Verärgerung beinahe in Lynchstimmung umschlagen könnte. Die wichtigsten Medien greifen dieses Klima auf, indem sie ganz überwiegend nur unzufriedenen Fahrgästen, und kaum den Ausständischen oder ihren Gewerkschaften das Wort geben, mit Ausnahme von Qualitätsmedien wie der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde. Transportminister Frédéric Cuvillier goss am Montag bei Radio France Inter noch Öl ins Feuer, indem er behauptete, das auf einer Zugstrecke im Pariser Umland gelegte Feuer sei von Streikenden entzündet worden. Unter Verweis auch auf blockierte Hochgeschwindigkeitszüge in der Auvergne beschuldigte er die Streikenden, kriminelle Akte zu begehen.

Dieses Meinungsklima macht einen bedeutenden Unterschied besonders zum massiven, dreiwöchigen Streik in allen öffentlichen Diensten im November und Dezember 1995 aus, welcher damals alle Züge (und auch alle öffentlichen Nahverkehrsmittel im Raum Paris) konsequent und zu 100 % lahmlegte. Dieser damalige Ausstand blieb bis zum Schluss populär und wurde, je nach Phase, durch 60 % bis 70 % der französischen Bevölkerung in Umfragen unterstützt. Unterdessen eigneten die Menschen sich den Nahverkehr respektive den öffentlichen Raum auf neue Art und Weise an, fuhren mit Skatboard oder Fahrrad zur Arbeit, sammelten Erfahrungen mit „Autoteilen“ und Mitfahrorganisationen in der Nachbarschaft; nicht zuletzt dieses Organisieren von alltäglicher Solidarität ließ den damaligen Verkehrsstreik für Viele sogar zu einem relativ positiven Erlebnis werden...

Seitdem hat sich Einiges hat sich seitdem geändert, Einiges. Solidarität in der Gesellschaft hat sich verringert und ist heute erheblich erschwert. Nicht zuletzt trägt auch die Nichtinformation der öffentlichen Meinung stark zum Unverständnis der öffentlichen Meinung bei: Da es vordergründig um scheinbar relativ „technische“ Fragen (den Aufbau des Unternehmens SNCF, die Organisation der französischen Bahn) geht, wird seitens von Bahndirektion und Regierung so gut wie Alles getan, um in den Augen der Öffentlichkeit die Gründe des Streiks als obskur und total unverständlich erscheinen zu lassen. Zudem ist die Basis des Streiks – er wird vorwiegend vom Zugpersonal, Lokführerinnen und Schaffnern, getragen und in viel geringerem Ausmaß vom Bahnhofs- und Schalterpersonal – relativ schmal. So kommt es in vielen Bahnhöfen nur in geringem Ausmaß zu Versuchen, das Publikum über Beweg- und Hintergründe des Streiks zu informieren, es mangelt etwa an Flugblättern an das Laufpublikum oder die wartenden Fahrgästen in den Bahnhöfen. Auch wenn es natürlich Versuche gegeben hat und gibt, sich an die öffentliche Meinung zu wenden und diese um Unterstützung zu ersuchen.

Erleichtert wird die Stimmungsmache dadurch, dass zum ersten Mal der Beginn des Abiturs – 687.000 Oberschüler begannen ihre Abiturprüfungen an diesem Montag, den 16. Juni 14 – die Fortsetzung eines Transportstreiks nicht verhinderte. Die Schulverwaltung sah sich zu einer gewissen Flexibilität gezwungen: Zu spät kommende Prüflinge dürfen bis zu einer Stunde lang nachschreiben – d.h. ihre Zeit überziehen -, entschied Schul-/Unterrichtsminister Benoît Hamon (er zählt eher zum linken Parteiflügel der regierenden Sozialdemokratie, sofern es so etwas überhaupt noch gibt). Auch das Unternehmen SNCF – das in diesem Streik sehr auf seine Kommunikation, auf seine PR bedacht - erwies sich als relativ intelligent im Umgang mit den Schüler/inne/n und führte einen besonderen Button ein, mit dem die Prüflingen sich auf den Bahnsteigen als „Fahrgäste mit Vorrang“ kennzeichnen dürfen. Auch die Passagiere nehmen offensichtlich Rücksicht. Am Montag wurde in der Gesamtbilanz vermeldet, letztlich seien frankreichweit insgesamt nur 280 Prüflingen mit Verspätung eingetroffen, welche dann ihre Zeit überziehen durften. Die CGT wandte sich ihrerseits in einer „Adresse an die Oberschüler(/innen)“ an die Abiturskandidat/inn/en. Allerdings ist ihre PR-Strategie und ihr Kommunikationsgeschick nicht gar so ausgereift wie jene des Unternehmens, und über ihren Aufruf an die Oberschüler/innen wurde oft eher spöttisch berichtet (vgl. dazu die eher nüchterne AFP-Meldung: http://www.lefigaro.fr/).

Im Juni 2003 hatte der damalige Abitursbeginn am 12. Juni jenes Jahres noch den mehrwöchigen Ausstand in den Transportbetrieben und anderen Sektoren (gegen die mittlerweile vorletzte „Rentenreform“ zum Absturz gebracht; die Führungen der Gewerkschaftsapparate besonders bei der CGT fürchteten, er könne „unpopulär“ werden, und würgten den Ausstand damals herunter. Vgl. dazu http://archiv.labournet.de/internationales/fr/100603/index.html

Verknüpfung Bahnstreiks und intermittents

Zwei recht unterschiedliche Arbeitskämpfe flossen seit vergangener Woche zusammen, und vielerorts bemühen die Eisenbahner und die Kulturprekären sich auch aktiv um eine Verknüpfung. In Marseille demonstrierten sie etwa am Montag gemeinsam. Die intermittents du spectacle versuchen, durch eine vorige Woche begonnene Eskalation ihrer Proteste doch noch die ministerielle Unterschrift unter das Abkommen zur Arbeitslosenversicherung vom 22. März d.J. (vgl. http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2014/03/kulturprekaer2014.pdf ) zu verhindern, das viele von ihnen in ihrer Existenz bedroht. Das Abkommen der „Sozialpartner“ war vom Unternehmerverband Medef, der auf Sparmaßnahmen bei der Arbeitslosenkasse pocht, und mehreren Gewerkschaften in der Nacht vor den frankreichweiten Kommunalwahlen im März unterschrieben worden, vielleicht in der Hoffnung, diese würden einen medialen Schatten auf die Vereinbarung werfen.

Letztere kann aber nur in Kraft treten, wenn Arbeits- und Sozialminister François Rebsamen sie formal zulässt, da der Staat eine Aufsicht über die Sozialkassen führt. Seit der Absage einer Oper in Montpellier zu Anfang vergangener Woche nimmt die Zahl annullierter Kulturveranstaltungen zu. Andernorts schafften es die protestierenden intermittents hingegen, durchzusetzen, dass Festivals und Spektakel weiterhin stattfinden, aber ohne Eintrittsgelder, was für einen Verdienstausfall der veranstaltenden Unternehmen oder Kommunen sorgt. In Toulouse etwa sorgten sie dafür, dass das Schauspielfestival Printemps des comédiens ausschließlich mit Gratiseintritten stattfindet. Parallel dazu besetzten zahllose Kulturprekäre bei einem Aktionstag am vorigen Freitag ein halbes Dutzend Filialen der Arbeitslosenkasse in verschiedenen Städten Frankreichs, darunter Paris. Und am Montag demonstrierten über 10.000 von ihnen allein in der Hauptstadt vor dem Kulturministerium. Nunmehr ist das Stattfinden aller großen Festivals im Hochsommer, wie das Anfang Juli beginnende Theaterfestival in Avignon, bedroht, und der Unmut bei den von Finanzausfällen bedrohten Städten steigt. Kulturminister Aurélie Filippetti setzte sich inzwischen von der Regierungslinie zum Thema ab und kritisiert das regressive Abkommen vom 22. März 14, während der fachlich zuständige Minister Rebsamen davon bislang nichts wissen will: Das Abkommen sei durch mehrere Gewerkschaften unterzeichnet werden und müsse deswegen als legitim betrachtet werden.

Bis am 28. Juni 14 wird es in Kraft treten, oder eben nicht. Am Donnerstag, den 19. Juni 14 bekräftigten nun die Regierung und an ihrer Spitze Premierminister Manuel Valls, es werde tatsächlich in Kraft gesetzt. Allerdings sollen seine Auswirkungen an manchen Stellen abgemildert werden. So sollen die „Auszeiten“ für die Alimentierung von ohne Bezahlung bleibenden Kulturschaffenden aus der Arbeitslosenkasse – diese sollen nach derzeitigem Stand des Abkommens mehrere Wochen, zum Teil Monate auf den Beginn ihrer Unterstützung warten müssen – für sechs Monate eingefroren werden. Die fragliche Bestimmung soll also erst in einem halben Jahr in Kraft treten, wohl, um die überwiegend im Sommer stattfindenden Kulturfestivals zu retten und vielen französischen Städten Ausnahmefälle zu erleichtern. (Worauf Stimmen aus der Kulturprekärenbewegung spöttisch reagierten, indem sie ironisch vorschlugen, dann auch „Weihnachten um sechs Monate zu verschieben“.) Aufschub soll den in ihrer ökonomischen Existenz bedrohten Kulturprekären auch ein Fonds, der vorübergehend eingreifen soll, um bedrohten Kulturschaffenden ihre Ausfälle bei der Arbeitslosenunterstützung finanziell zu kompensieren. Dies schlug der durch die Regierung als „Vermittler/Mittelsmann“ eingesetzte sozialdemokratische Abgeordnete Jean-Patrick Gille vor. Allerdings: Den Fonds gibt es bereits, es handelt sich also keinesfalls um eine Neuschaffung. Er wurde im Jahr 2003 unter dem Eindruck des damaligen, besonders starken Streiks der Kulturprekären im Frühjahr/Sommer jenes Jahres eingerichtet, und soll nun „reaktiviert“ werden. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ )

Die Eisenbahner ihrerseits protestieren gegen eine Bahnreform, welche formal die seit fünfzehn Jahren getrennten Unternehmen SNCF – für den Transport zuständig – und RFF, das die Infrastruktur verwaltet und die vormaligen Schulden der Bahn übernommen hat, wieder unter einem Dach zusammenführt. Dies ist auch bitter notwendig, weil die Auftrennung für groteske Situationen sorgt wie den jüngsten Skandal, bei dem die französische Bahn neue Regionalzüge bestellte, für die jedoch die Bahnhöfe zu eng sind. Erstere unterstehen der SNCF, zweitgenannte RFF. Doch hinter der Fassade der oberflächlichen Wiederzusammenführung steht die betriebswirtschaftliche Auftrennung der ganzen französischen Bahn in mehrere Dutzend Spartenunternehmen, die nur noch formal durch eine Holding an der Spitze zusammengehalten würden. Dies würde etwa Lohnverhandlungen erleichtern, da die Bahn dann nicht mehr mit 150.000 Eisenbahnerinnen reden muss, sondern nur noch mit einigen Hundert hier oder einigen Tausend dort. Zudem soll es Teilprivatisierungen etwa einzelner Strecken begünstigen, wenn ab 2019 die durch die EU beförderte Öffnung des Bahnsektors für private Konkurrenz erfolgt.

Vor allem die beiden eher linken Gewerkschaften CGT und SUD laufen dagegen Sturm, wobei die CGT gespalten ist: Ihre Spitze glaubte ursprünglich an einen symbolischen Streik von zwei oder drei Tagen, wurde dann aber durch eine Radikalisierung ihrer Basis überrannt. Beide treten für eine wirkliche Wiederzusammenführung der Bahn in einem vereinigten Verkehrssektor ein. Die CGT schwankte aber in den letzten Tagen und wollte sich mit einer Verschiebung der an diesem Dienstag begonnen Parlamentsdebatte zur Bahnreform begnügen, während die linke Basisgewerkschaft SUD diese zu Fall bringen möchte. Die Regierung möchte weder das Eine noch das Andere.

Rechtsopposition und (sehr) falsche Freunde

Die Konservativen sind ihrerseits im Parlament gespalten, zwischen jenen, die vor allem der Regierung das Leben schwer machen und deswegen gegen die Reform stänkern möchten, und deren Unterstützern. Die extreme Rechte ihrerseits geht strategische klug vor: Der Front National kann zwar unmöglich die Gewerkschaften CGT und SUD und ihren Streik unterstützen und erklärt auch, den Unmut vieler Leute über den Streik zu verstehen. Dabei wendet er den Zorn aber nicht gegen die Beschäftigten, sondern gegen die Europäische Union, die an allem schuld sei und die Reform erzwinge. Im gleichen Atemzug versucht die extreme Rechte, die Gewerkschaften zu umgehen, indem sie sich formal radikaler gibt als jene – innerhalb der Bahngesellschaft SNCF seien die Gewerkschaften „Komplizen“ der Direktion -, um zur Bildung von „Komitees zur Verteidigung des öffentlichen Diensts“ aufzurufen. Dies wäre natürlich ausgesprochen zweischneidig, denn solcherlei Komitees würden sich bei Bedarf gegen Regierungspläne und gegen eine Zerschlagung der Bahn (wobei alle Schuld daran auf die EU geschoben würde) mobilisieren lassen, aber ebenfalls bei Bedarf gegen Streiks als „Bedrohung für die Dienstleistung“.

Die Gewerkschaften haben auf dieser Flanke einen neuen Feind gefunden, der im Gegensatz zu den anderen jedoch nicht ihre angeblich „Unnachgiebigkeit“ anprangert, sondern sie verbal zu übertrumpfen sucht. Am Mittwoch, den 18. Juni 14 bekundete Front National-Vizepräsident Florian Philippot unterdessen im Radio „Unterstützung“ und „Verständnis“ für die streikenden Eisenbahner/innen, auch wenn er sich von einigen „berufsgruppenegoistischen Forderungen, die es sicherlich gibt“ abgrenzen möge; vgl. http://www.lemonde.fr/ Er wandte sich sogar gegen Angriffe auf Streikrecht (auch wenn das Programm seiner Partei ausdrücklich das Streikrecht auf eine Ultima ratio-Logik einschränken und eingrenzen möchte), welches „ein durch die Verfassung garantiertes Recht“ darstelle, und dagegen, „von vornherein eine soziale Bewegung zu kriminalisieren“. Auch die extreme Rechte hat Geschmeidigkeit erlernt…

Ausblick

Am Dienstag, den 17. Juni 14 behauptete die Direktion der SNCF, die Verkehrslage bessere sich am siebten Tag des Streiks – der die Gesellschaft rund zwanzig Millionen pro Tag kostet -, um die Streikenden zu demoralisieren. Gleichzeitig hatte die Teilnahme an den Vollversammlungen, auf denen täglich basisdemokratisch über die Fortführung des Streiks für je 24 Stunden entschieden wird, am Montag spürbar zugenommen. Im Streik sind besonders das Zugpersonal, also Lokführinnen und Schaffner, während das Bahnhofspersonal in geringerem Ausmaß streikt und zugleich als „Blitzableiter“ den Unmut eines aufgehetzten Publikums ernten darf. Dies macht derzeit zwischen 10 und 20 Prozent des Gesamtpersonals der Bahngesellschaft SNCF aus.

Am Donnerstag (19. Juni 14) begann der Streik in manchen Regionen tatsächlich in einigen Regionen abzubröckeln, so wurde in Südwestfrankreich im Raum Toulouse der Zugverkehr am Abend wieder aufgenommen. Die Direktion der SNCF fährt in ihrer geschickten Kommunikations-/PR-Strategie fort. So erklärte sie am Donnerstag, der Streik habe bislang 153 Millionen Euro gekostet, aber sie werde den Bahnkunden und –kundinnen sämtliche Ausfälle ersetzen und Schadensersatz zahlen. So wird allen Bahnkund/inn/en 30 Prozent pauschaler Nachlass auf alle Abokarten im Monat Juli gewährt. SNCF-Chef Guillaume Pépy gab an diesem 19.06.14 der Boulevardzeitung Le Parisien persönlich ein Interview, und forderte darin alle Mitarbeiter/innen zur unverzüglichen Wiederaufnahme der Arbeit auf, da am selben Tag nun das Parlament die Bahnreform beschlossen und also der Repräsentant des souveränen Volkes gesprochen habe. In einer Demokratie müsse an dieser Stelle der Protest aufhöre. Unterdessen wurden am selben Donnerstag einige Änderungsanträge auf Vorschlag der „Linksfront“ (französische KP plus Abspaltung von der Sozialdemokratie) in das Bahnreformgesetz aufgenommen, welche v.a. die Position der künftigen Holding SNCF gegenüber ihren Spartengesellschaften stärken und dadurch die Zersplitterung der Bahn auf Einzelfirmen/-filialen abmildern sollen.

Auch die CGT-Führung kam in diesem Zusammenhang leicht ins Schlingern. Zumal CGT-Generalsekretär Thierry Lepaon in einem Rundfunkinterview bei Radio France Inter am Mittwoch früh – in welchem er ziemlich in der Defensive wirkte – von der Regierung lediglich einen „Dialog“ über eventuelle Änderungen am Bahnreform-Gesetz forderte. (Bis dahin forderte die CGT dessen Verschiebung, und andere Gewerkschaften dessen Annullierung.) Am Donnerstag wollte die CGT-Führung den Beginn einer „Wendung“ erkennen. Ob diese eher schwankende Position ursächlich für das Abbröckeln des Streiks ist oder – umgekehrt – eher dessen Auswirkung darstellt (also den Versuch, unter „Wahrung des Gesichts“ aus dem Streik herauszukommen), muss im Augenblick dahingestellt bleiben.

Unterdessen rufen mehrere Gewerkschaften, u.a. die CGT, für die Woche des 23. Juni und besonders für den Donnerstag, 26.06.14, in einigen Sektoren (v.a. in öffentlichen Diensten) zum Ausstand aus. Dabei geht es gleichzeitig um Streik für sektorenbezogene Forderungen der abhängig Beschäftigten, um einen Ausdruck des Protests gegen die Austeritätspolitik der Regierung und um eine Ablehnung der „rechten Alternative“, wie sie im Wahlergebnis der Europaparlamentswahlen zum Ausdruck kam – die Verbindung zwischen sozialem Protest, Bedrohung der Demokratie und Antifaschismus wird ausdrücklich gezogen.

Editorische Hinweise

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