Wenig hilfreiche Vorschläge für die
Erwerbs- und Einkommenslosen hatte jüngst Marokkos
Premierminister Abdelilah Benkirane anzubieten. Diese
sollten zu Gott beten, auf dass er ihnen Arbeitsplätze
gebe, schlug der Politiker aus den Reihen der als
moderat-islamistisch geltenden Partei für Gerechtigkeit
und Entwicklung (PJD) ihnen vor. Und er meinte es gar
ernsthaft. Ein Video mit seinen Aussprüchen zählte
alsbald zu den meist angesehenen im Internet.
Unsa
alla Allah wird’s schon richten ...
Diese Sprüche fielen nicht bei einem
nächtlichen Stoßgebet, sondern im Parlament. Bei einer
Sitzung am 14. Mai dieses Jahres ging Benkirane zunächst
ausführlich auf die dramatische Arbeitslosigkeit
insbesondere unter Hochschulabgängern und in der jungen
Generation ein. Die offizielle Statistik weist derzeit
eine Arbeitslosenrate von 9,9 Prozent auf. Aber bei den
unter 30Jährigen beträgt sie auch offiziell 30 Prozent.
In dieser Altersgruppe erklärten jüngst in einer Umfrage
33 Prozent, dass sie beabsichtigten, in naher Zukunft
ihr Land zu verlassen. Zu den Thema Arbeitslosigkeit und
soziales Elend fanden gleichzeitig große
Straßendemonstrationen statt, zuletzt am 27. Mai. Allein
in der marokkanischen Wirtschaftsmetropole Casablanca
gingen über 50.000 Menschen auf die Straße.
Es klingt vordergründig paradox, dass
gleichzeitig Marokko zum Ziel für eine wachsende Zahl
von auswanderungswilligen Spaniern geworden ist. So
erklärte der Chef der spanischen Handelskammer in
Tanger, Boussouf Amal, jüngst dem
Online-Nachrichtenmagazin Yabiladi
(« Oh mein Land »), er erhalte immer mehr Lebensläufe
von Menschen aus dem krisengeschüttelten Land auf der
Iberischen Halbinsel. Denn dort beträgt die allgemeine
Arbeitslosigkeit rund 25 Prozent, jene der jungen
Generationen erreicht faktisch annähernd 50 Prozent...
Tatsächlich weist dessen südlicher
Nachbar formal noch immer hohe Wachstumsraten auf,
derzeit circa 4 Prozent jährlich, was jedoch für ein
infrastrukturell „unterentwickeltes“ Land relativ gering
ist. Jedenfalls zu gering, um eine kapitalistische
Entwicklungsdynamik vergleichbar jener in Ostasien
auszulösen. Seit 2008 hatte Marokko viele
Finanzinvestitionen anziehen könne, da spekulativ
angelegte Kapitalien auf der Flucht vor der Finanzkrise
in Nordamerika und Europa hier Zuflucht suchten. Zudem
diente das marokkanischen Bankenwesen als Eingangstor,
um auf die afrikanischen Märkte vorzudringen. Ein
solcherart induziertes Wachstum ist jedoch kaum
geeignet, die Arbeitslosigkeit zurückzudrängen oder
strukturelle Ungleichheiten aufzuheben – es
verschlimmert sie eher noch.
Anfänglich glaubten die seit Anfang
dieses Jahres regierenden Softcore-Islamisten noch, über
eine relativ rosige Ausgangssituation zu verfügen. Doch
alsbald wurden sie diesbezüglich enttäuscht. „Wir
haben uns mitten in der Globalisierung wiedergefunden,
ohne darauf vorbereitet zu sein“, räumte ihr
Hochschulminister Lahcen Daoudi gegenüber dem
Wochenmagazin Maroc Hebdo ein. Dessen
Ausgabe vom 25. Mai 23 schmückte die Balkenschlagzeile:
La crise.
Auch die Islamisten wissen
prinzipiell, dass Allahs Hilfe sie auf Dauer bei der
Lösung der dringlichsten sozialen, ökonomischen und
ökologischen Probleme nicht weiterbringen wird. Deswegen
auch gingen sie in den meisten Ländern Nordafrikas
Bündnisse ein, um zu versuchen, nicht allein für die
Ergebnisse auf diesem Feld verantwortlich gemacht zu
werden. In Marokko regieren sie seit Januar im Bunde mit
der bürgerlich-nationalistischen Partei Istiqlal
und der linksliberalen, ex-kommunistischen Partei PPS.
In Tunesien gingen die dortigen Islamisten von
En-Nahdha nach den Wahlen zur
Verfassungsgebenden Versammlung von Ende Oktober 2011
eine Allianz mit der sozialdemokratisch geprägten Partei
Ettatakol und dem eher liberal-nationalistischen
„Kongress für die Republik“ (CPR) ein. Beide
Bündnisparteien zerfielen jedoch in den letzten Wochen
teilweise – größere Fraktionen spalteten sich von ihnen
ab, weil sie über die Ergebnisse der Regierungsarbeit
oder das Verhältnis zu den Islamisten unzufrieden sind.
Letztere dominieren bislang. Denn auch wenn sie oft
sichtbare Fehler begehen, so erlaubt es ihnen ihre
relativ starke Verankerung in der Gesellschaft doch, oft
nach wenigen Wochen Kurskorrekturen vorzunehmen.
Allerdings bröckelte auch En-Nahdhas
Popularität deutlich ab. Auch in Ägypten wird
unterdessen erwartet, dass die Muslimbrüder nach
Abschluss der Wahlen bei der Regierungsbildung eher mit
nicht-islamistischen Parteien statt mit den ebenfalls im
Parlament vertretenen Salafisten koalieren.
...
Habt Ihr etwa etwas gegen Allah ?
Vor diesem Hintergrund waren die
Marokkanerinnen - egal ob fromm oder unfromm – eher
herzlich wenig begeistert über Benkiranes Angebot, es
doch einmal mit Gebeten zu probieren. Auch in der
Parlamentssitzung schlug ihm deswegen Feindseligkeit
entgegen. „Wie, haben Sie denn etwa kein Vertrauen
auf Allah? Jedes Mal, wenn man ihn um etwas bittet, gibt
er es uns!“ erwiderte Benkirane im Parlament,
als er hörbaren Widerspruch erntete. Den verbreiteten
gesellschaftlichen Unmut steigerte dies allerdings eher
noch.
In den letzten beiden Monaten
versuchten die marokkanischen Islamisten, ihrem
Glaubwürdigkeits- und Terrainverlust entgegen zu
steuern. Im März dieses Jahres brachen sie eine Debatte
um quasi-feudale Privilegien vom Zaun. Es handelt sich
in Marokko um ein echtes, brisantes Thema. Neben der
formellen, juristischen Regeln gehorchenden Staatsmacht
besteht in diesem nordafrikanischen Land nämlich ein
„Schattenstaat“, der in der Gesellschaft allgemein
bekannt und tief verankert ist. Es handelt sich um ein
in der Tradition wurzelndes Netzwerk aus religiösen
Bruderschaften, lokalen Feudalherren, die auf Titel wie
Qaid hören, und - an seiner Spitze stehenden –
informellen doch einflussreichen Beratern des Königs. Es
verhält sich ungefähr so, als würde man sich in
Deutschland bei einem Land- oder Familienstreit zwecks
Regelung zuerst nicht an einen Richter, sondern an den
örtlichen Herrn Baron wenden.
An der Spitze dieser quasi-feudalen
Struktur steht der Monarch, auch wenn der seit 1999
amtierende Mohammed VI. das Amt gegenüber seinem streng
autoritären Vater und Vorgänger Hassan II. ein wenig
modernisiert hat. Und selbst wenn die am 1. Juli 2011
per Referendum angenommene (und am 17. Juni 2011, nach
Arbeiten einer Expertenkommission, vom König vorgelegte)
neue Verfassung die offiziellen politischen Vollmachten
des Monarchen formell beschneidet: Sein politischer,
sozialer und ökonomischer Einfluss bleibt doch immens.
Die „Parallelregierung“ aus informellen Beratern des
Monarchen ist mächtiger als die offizielle, vom
Parlament bestimmte Regierung. Ihr stehen die so
genannten „Thronparteien“ – wie der Pôle
authenticité et modernité (PAM) – nahe,
die im Parlament formell in der Opposition stehen.
Zugleich haben
Strategen der Monarchie in den letzten zwanzig Jahren
darauf geachtet, dass nicht aus der Feudalstruktur
kommende Parteien mit Massenanhang an der formellen
Regierungsbildung beteiligt werden, um den Unmut aus der
Bevölkerung zu kanalisieren. Vor nunmehr fünfzehn Jahren
stellte der damals fast allmächtige Innenminister
Hassans II., Driss Basri, deswegen die Weichen für eine
Regierungsbeteiligung der USFP, der marokkanischen
Sozialdemokratie. Im selben Zeitraum leitete er die
Legalisierung einer der islamistischen Parteien ein, aus
der die aktuelle Regierungspartei PJD wurde. Die Partei
gehört nicht der überkommenen Feudalstruktur an,
arrangierte sich aber im Gegensatz zu konkurrierenden
islamistischen Kräften mit ihr.
Angriff
auf quasi-feudale Privilegien?
Auch die
Bourgeoisie, oder wesentliche Teile von ihr, gedeihen im
Schatten dieser auf vier Jahrhunderte zurückblickenden
Monarchie und ihrer Sozialstrukturen. Insbesondere von
Bedeutung sind dabei die rund 700 Konzessionen – an
Transportbetriebe etwa, Bergbau- oder Fischereifirmen -,
die de facto wie königliche Privilegien an
Privatkapitalisten oder –firmen vergeben worden sind. Im
März 2012 eröffnete die Regierung Benkirane eine neue
Front und veröffentlichte eine Liste mit 100 Namen von
„Privilegierten“ um zu fordern, ihre staatlichen
Konzessionen müssten überdacht oder an andere
Interessenten vergeben werden. Die Berater des Throns
betrachteten dies als Kriegserklärung. Die Regierung
nahm ihre Liste vom Tisch und vollzog formell einen
Rückzieher. Allerdings gehen Beobachter davon aus, dass
sie auf Dauer ein Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten mit
dem Palast und den Feudalherren einzurichten versucht.
Im April dieses
Jahres nahm die Regierung sich dann die Fernsehprogramme
vor: Am 31. März 12 publizierte sie eine neue Liste von
Auflagen für die beiden staatlichen TV-Sender. Diese
sollen nunmehr die fünf täglichen Aufrufe zum Gebet
ausstrahlen, ferner sollen achtzig Prozent der Programme
des ersten Kanals in arabischer Sprache ausfallen und
entsprechend der Anteil des Französischen reduziert
werden. Taktisches Geschick bewiesen die Islamisten,
indem sie neben dem von ihnen verfochtenen Arabisch auch
den Berbersprachen einen breiteren Raum einräumen
möchten: Dadurch wollten sie die Parteien der
Berberbevölkerung, die den Islamisten in der Regel nicht
sonderlich wohlgesonnen sind, auf ihre Seite ziehen.
Gleichzeitig bewiesen die Regierungsislamisten, dass
ihnen in erster Linie noch der symbolische Kulturkampf
übrig bleibt, wenn sie bei den materiellen Konflikten
nicht weiter kommen. Justizminister Mustapha Al-Rami
empörte sich zugleich über die zahlreichen Touristen in
Marrakesch, die „viel Zeit damit verbringen, sich von
Gottes Wegen zu entfernen und Sünden zu begehen“.
Tatsächlich rührt Al-Rami durch
diesen symbolpolitischen Vorstoß an einen wunden Punkt
bei vielen Marokkanern. Allerdings nicht wegen des
vorgeblich sündigen Treibens (das ist vielen
Marokkaner/inne/n herzlich egal oder auch ganz recht).
Sondern eher wegen der beinahe als Kolonisierung zu
bezeichnen Landnahme insbesondere durch französische
Rentner und Wohlhabende, denen Städte wie Marrakesch und
Tanger zum Opfer fielen. Diese fortschreitende
Besetzung, und Verdrängung der Marokkaner aus den
Innenstädten, schreitet mancherorts noch fortan. Erst
vom 17. bis 20. Mai 12 fand in Paris eine „marokkanische
Immobilienmesse“ statt, und bei Bewohnern der
französischen Hauptstadt wurde auf großen Plakaten in
der Métro (etwa in der Station Strasbourg-Saint Denis)
dafür geworben, so wörtlich, „Häuser in guter Lage
in Marokko für 15.000 Euro“ zu erwerben. Ein
Skandal sondergleichen, so lange in Marokko nicht alle
dort wohnenden Menschen zu guten Bedingungen
untergebracht sind.
Aufschwung sozialer Kämpfe
Die jüngsten „Mammutdemonstrationen“
in vielen Städten widerspiegeln einen Aufschwung
sozialer Kämpfe. Er begann bereits seit Anfang des
Jahres und spätestens im Februar 12, als es etwa in der
Stadt Taza zu heftigen Zusammenstößen zwischen
protestierenden Arbeitslosen und Polizei mit mehreren
Hundert Festnahmen kam. Im Laufe der ersten Jahresmonate
hat eine soziale Protestdynamik den politischen,
demokratischen Massenprotest des Jahres 2011 – der sich
in der „Bewegung des 20. Februar“ ausdrückte – zum Teil
unterfüttert, zum Teil abgelöst.
Das außerparlamentarische Bündnis der
„Bewegung des 20. Februar“ repräsentierte vor allem eine
städtische Intelligenz, eine gewisse Bildungselite, aber
auch organisierte Linke. Neben ihnen gehörte auch die
islamistische, bislang nicht legalisierte charismatische
Bewegung Al-Adl wahl Ihsane (ungefähr:
„Gerechtigkeit und gute Tat“) dem Bündnis bis Ende
vergangenen Jahres an. Dann zog die Vereinigung von
Nadia Yacine aus dem Bündnis aus, wohl wie die
Islamisten einen zunehmenden Einflussverlust zugunsten
der Linken feststellen mussten.
Das außerparlamentarische
Oppositionsbündnis geriet dadurch in die Krise, die es
durch neue Demonstrationen und Mobilisierungen zu
überwinden trachtete. Zum Teil ist ihm dies offenkundig
gelungen, auch wenn die teilnehmenden Kräften sich
inzwischen teilweise gewandelt haben oder ausgetauscht
wurden. Insbesondere haben sich Teile der Gewerkschaften
inzwischen stärker als zuvor dem Protest auf den Straßen
angeschlossen.
Gewerkschaften in Marokko –
und
Nordafrika
Die
Gewerkschaftslandschaft in Marokko ist komplex, und
schwerer durchschaubar als in den anderen Staaten
Nordafrikas. Abgesehen von Libyen, wo es keinerlei
Gewerkschaften gibt – und die körperliche oder als
„undankbar“ empfundene Arbeit oft von Migranten
verrichtet wird -, herrscht dort oft ein Nebeneinander
zwischen Staatsgewerkschaft und unabhängigen
Gewerkschaften. So in Ägypten, wo die 1957 durch die
Armee und die Staatsmacht aufgebaute Staatsgewerkschaft
ETUF in den letzten fünf Jahren Konkurrenz von
unabhängigen Gewerkschaften bekommen hat, welch letztere
seit den Massenprotesten von Anfang 2011 einen starken
Aufschwung nehmen.
In Algerien wurde die
Staatsgewerkschaft UGTA im Jahr 1956 während des
antikolonialen Befreiungskriegs als verlängerter Arm der
„Nationalen Befreiungsfront“ (FLN) gegründet. Auch nach
Ende des Unabhängigkeitskriegs blieb sie mit dieser
späteren Staatspartei, und in der Folge mit dem neuen
Machtapparat, eng verbunden. Seit 1990 und dem Beginn
des Mehrparteiensystems sind andere Gewerkschaften zwar
legal, letztere sind jedoch oft Schikanen seitens der
Behörden ausgesetzt. Am 1. Mai 2012 gründeten mehrere
unabhängige Gewerkschaften jedoch einen neuen
Dachverband. Ihr Zusammenschluss steht unter dem Namen
Confédération nationale autonome des travailleurs
algériens (CNATA). Aktuell sind die unabhängigen
Gewerkschaften etwa am Hungerstreik von
Justizmitarbeiterinnen, der Anfang dieser Woche seinen
30. Tag überschritt, beteiligt. Diese Aktionsform folgte
einem Arbeitskampf im April 12, der mit repressiven
Mitteln unterbunden wurde. - Im Nachbarland Tunesien
befanden sich Staats- und kämpferische Gewerkschaften
lange Zeit gemeinsam im Dachverband UGTT. Seit dem Sturz
der alten Diktatur, Anfang 2011, konnte er seine
Unabhängigkeit stärker behaupten.
In Marokko jedoch bestehen vier
größere und über zwanzig kleinere Dachverbände
nebeneinander. Als erster entstand 1955 – ein Jahr vor
der Unabhängigkeit von Frankreich – der „historische“
Dachverband Union marocaine du travail
(UMT). Von ihm spalteten sich jedoch später mehrere
politische Richtungsverbände, unter dem Einfluss der
ihnen nahe stehenden Parteien, ab.
Aktuell sind drei der vier größeren
Gewerkschaftsbünde in das Regierungslager eingebunden,
jedenfalls an der Spitze, da manchen ihrer Funktionäre
Kabinettsposten gegeben wurden. Das betrifft die Führung
der UMT sowie die Dachverbände UNTM – diese Vereinigung
steht der islamistischen Regierungspartei PJD nahe – und
UGTM, historisch eine Gründung der bürgerlichen und
ebenfalls mitregierenden Partei Istiqlal.
Diese drei Verbände, oder jedenfalls ihre Apparate,
riefen nicht zu den Demonstrationen der jüngeren
Vergangenheit mit auf.
Dagegen unterstützten besonders die
CDT, die der marokkanischen Sozialdemokratie nahe steht,
sowie die von ihr abgespaltene Fédération
démocratique du travail die Mobilisierungen.
Nachdem sie im vergangenen Winter in die Opposition
ging, ist die marokkanische Sozialdemokratie – die sich
nach vierzehnjähriger Regierungsbeteiligung in keinem
guten Zustand befindet – dazu entschlossen, nunmehr ein
bisschen stärker soziales Profil zu zeigen.
Allerdings herrscht unterdessen bei
anderen Gewerkschaften ein heftiger interner
Richtungskampf. Das gilt besonders für den geschichtlich
ältesten Verband, die UMT, bei der theoretisch alle
politischen Richtungen vertreten sind. Deren Führung hat
in jüngster Zeit versucht, durch administrative
Maßnahmen missliebige und „ungehorsame“
Gewerkschaftsgliederungen oder –funktionäre
auszuschalten. Am 05. März 12 löste die Verbandsführung
die regionale Leitung für die Hauptstadt Rabat und die
Nachbarstädte Salé und Témara auf. Vier Tage später
rückten Mitarbeiter aus der Gewerkschaftszentrale in
Casablanca an, um die Räume zu verriegeln und die
Schlösser auszutauschen. Am 22. März 12 schloss ein
„Disziplinarausschluss“ fünf oppositionelle Mitglieder
aus dem Vorstand des Dachverbands aus. Drei von ihnen –
Khadija Rhamiri, Abdelhamid Amine und Abderrazzak Drissi
– wandten sich daraufhin am 19. Mai 12 mit einem Offenen
Brief an alle internationalen
Gewerkschaftszusammenschlüsse. Bislang reagierte jedoch
nur der „Weltgewerkschaftsbund“, der früher mit dem
sowjetischen Block verbunden war. In Asien und der
Karibik hat der seit ein paar Jahren in Athen ansässige
Verband, dem weltweit insgesamt 82 Millionen Mitglieder
angehören soll, noch einen gewissen Einfluss. Der
wesentlich mächtigere und stärker etablierte
Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) mit Sitz in
Brüssel, dem etwa auch die deutschen DGB-Gewerkschaften
angehören, reagierte bislang jedoch nicht.
Die oppositionellen Teile der UMT
unterstützten ihrerseits die Demonstrationen vom 27. Mai
12, wie sie auch andere soziale Kämpfe zu befördern
versuchen.
Repression
Unterdessen regiert die Staatsmacht
auch mit verstärkter Repression auf den neuen Zyklus
sozialer Kämpfe. Am 01. Juni 12 begann in der
südmarokkanischen Hafenstadt Sidi Ifni der Prozess gegen
zwei Vorstandsmitglieder von ATTAC Marokko, die im Jahr
2008 die heftige soziale Revolte dort unterstützt
hatten. In Kénitra im Zentrum des Landes wurde der
kritische Karikaturist Khaled Guéddar Ende Mai d.J.
verhaftet, unter dem Vorwand angeblicher
„Trunkenheit in der Öffentlichkeit“. Er selbst
gibt jedoch an, völlig nüchtern gewesen zu sein. Am 13.
Juni 12 wird ihm nun der Prozess gemacht. Er war bereits
2009 zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt
worden, weil er es gewagt hatte, Mitglieder der
königlichen Familien in Karikaturen zu zeichnen.
Fronkreisch, Fronkreisch
Der marokkanische Monarch kann
unterdessen auf treue und mächtige Verbündete hoffen.
Der erste ausländische Staatschef überhaupt, den der
frisch gewählte französische Präsident François Hollande
am 24. Mai 12 im Elysée-Palast empfing, war Mohammed VI.
Am folgenden Morgen, als die Zeitungen darüber
berichteten, erschien zeitgleich ein Bericht von Amnesty
international, der die Gewalt marokkanischer
Sicherheitskräfte anprangerte. Aus Sicht der wichtigsten
Großmächte, die Interessen in Marokko haben wie
Frankreich und die USA, pressiert es mit der Einführung
der Demokratie dort allerdings nicht.
Unterdessen
haben marokkanische Arbeiter/innen zumindest den
französischen Agro-Multikonzern Soprofel (auch:
Soprophile Idyl), ansässig in Chateaurenard in der Nähe
von Marseille, punktuell in die Knie zwingen können.
SOPROFEL produziert rund ein Drittel der aus Marokko
exportierten Tomaten, überwiegend in der Region
Souss-Massa im Südwesten des Landes. Der französische
Konzern hatte dort die Gründer/innen einer unabhängigen
Gewerkschaft – Ableger des oben erwähnten Dachverbands
CDT gnadenlos gefeuert.
Sechs von ihnen
führten ab dem 26. April 2012 einen Hungerstreik in
einem Zelt vor dem Sitz der marokkanischen Filiale des
Unternehmens durch, um ihre Wiedereinstellung und den
Respekt ihrer Rechte durchzusetzen. Die Leitung des
Dachverbands CDT rührte nicht den kleinen Finger, um
ihre Rechte durchzukämpfen. Am 02. Juni wurde bekannt,
dass die Betreffenden ihren Kampf gewonnen haben. Nach
37 Tagen im Hungerstreik.
Editorische Hinweise
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