Die Piratenpartei
ein Bericht aus dem Autonomen Seminar an der HU Berlin

von Anne Seeck

5/6-12

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onlinezeitung

Im Autonomen Seminar an der Humboldt- Uni referierte Wolfgang Ratzel an drei Abenden über die Piratenpartei.

Was fasziniert an der Piratenpartei?

Die Piratenpartei ist keine herkömmliche Weltanschauungspartei, die über Programme ihre Weltanschauung verbreiten. Sie sei eine Verfahrenspartei und funktioniere de facto als Anti- Partei, die Methoden und Prozesse hervorbringt.

Der Ursprung der Partei liegt in Schweden. Dort ging es um den Urheberrechtsstreit. Aus einer Musiksoftwareentwicklungsfirma wurde die erste Piratenpartei gegründet.

Die erste Piratenpartei war die schwedische Piratpartiet, die am 1. Januar 2006 unter der Führung von Rickard Falkvinge gegründet wurde. Ihren Namen hatte sie von der Anti-Copyright-Organisation Piratbyran, welche zuvor bereits den BitTorrent -Tracker The Pirate Bay gegründet hatte. Die Musik- und Filmindustrie prägte den Begriff „Piraten“, um damit Personen, die unrechtmäßig Inhalte kopierten, eine besonders negative Konnotation zu verleihen. Die Piraten griffen absichtlich diese Bezeichnung auf, um im öffentlichen Diskurs eine Neubewertung herbeizuführen, den Begriff politisch positiv zu besetzen. Pirat ist ein Geusenwort.

Im deutschsprachigen Raum wurden die Piratenpartei Österreichs (Juli 2006) und die Piratenpartei Deutschland (September 2006) gegründet. Das Durchschnittsalter in Deutschland beträgt 31 Jahre. Das typische Mitglied ist netz-affin, jung, männlich, erwerbstätig, kinderlos. Die Piraten haben Zugang zu Jugendlichen. Sie sprechen darüber, was die Jugendlichen tun. Auch viele Leute, die sich in der politischen Landschaft nicht aufgehoben fühlen, finden ein Sprachrohr.

Von vorneweg ist das eine globale Partei, weltweit gibt es 45 Parteien, 12 Parteien haben sich an Wahlen beteiligt. In der Regel bekamen sie unter 1%. Bei Landtagswahlen in Deutschland erreichten sie 7-8-9%. Die Piraten sind eine sozialliberale Grundrechtspartei.

Martina Weißband sagte: „Wir bieten kein Programm, sondern ein Betriebssystem.“ Das Betriebssystem ist inhaltlich leer. Das Parteiprogramm heisst: Feedback, Feedback, Feedback!

Es sei die erste Partei, die das System der repräsentativen Parteidemokratie in Frage stellt. (außer in der Anfangsphase der Grünen). Sie stellen nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem in Frage. Sie wollen nur über das System der repräsentativen Demokratie hinauskommen.

Liquid Democracy: http://liqd.net/schwerpunkte/theoretische-grundlagen/direkter-parlamentarismus/

Die Konturlosigkeit ist für sie eine Chance. Sie haben kein klares, festes Programm. Das Programm ist ein Sammelsurium. Nur paar Essentials. Ohne Kosten Internet, öffentlichen Nahverkehr. Es gibt nur wenige, die wissen, was die Piraten machen. Niemand weiß so richtig, was die Piraten sind und wollen.

Das Faszinierende sei, dass die politischen Prozesse transparent laufen. Sie wollen keinen Marsch durch die Institutionen, sondern das System entern. Sie wollen ein antihierarchisches System. Wir verlangen nicht, dass ihr aufsteht zur Rebellion, zur Überwindung der Verhältnisse, es geht um das Ändern eines laufenden Systems.

Dafür setzen sie Bildung voraus. Die Piraten behaupten, dass die Einzelnen Teil einer klugen Masse sind.

Es ist eine neue Politikform. Sie plädieren für Optionen.

Sie haben eine positive Grundeinstellung. Sie verbreiten Optimismus und die Verheißung von Fortschritt. Dabei übersehen sie Elend und Leid. Eine radikale Weltverleugnung.

Die Aussagen sind durch eine Schlichtheit gekennzeichnet. Jeder kann Politik machen.

Politik kann man mit einem Click machen. Clicktivismus- Aktivismus.

Kann Demokratie als leeres Betriebssystem funktionieren?

Wir befinden uns in einer Krise der repräsentativen Parteiendemokratie. Das zeigt sich insbesondere an der Prozentzahl der abgegebenen gültigen Stimmen. Es gibt drei Möglichkeiten bei den Wahlen. Aus dem Angebot auszuwählen, ungültig oder nicht zu wählen. Immer mehr wählen nicht. Werden die Nichtwähler in die Statistiken einbezogen, ergibt sich z.B. folgendes Bild:

NRW:
Nichtwähler: 40,4%
SPD: 23%
CDU: 15,5%
Die Grünen: 6,7%
FDP: 5,1%
Piraten: 4,6%
D
ie Linke: 1,5%

Die Regierung in NRW wird damit von 29,7% legitimiert. (SPD/Grüne)

Schleswig-Holstein:
Nichtwähler: 39,9%
SPD: 18,2%
CDU: 18,2%
Die Grünen: 7,8%
FDP: 4,9%
Piraten: 4,9%
Die Linke: 1,3%

In Griechenland betrug die Wahlbeteiligung 60%, in Algerien 40%, in einzelnen Stadtteilen von Algier nur 10%.

Die Regierungen sind nicht mehrheitlich legitimiert. Die politische Klasse spürt das. Daher grassiert der Schrei nach Direkter Demokratie. Dabei ist Vorsicht geboten. Die Direkte Demokratie kann nicht mehr als die Bedürfnisse und Interessen der Wahlberechtigten ausdrücken. (siehe auch Thomas Wagner im Buch „Demokratie als Mogelpackung“)

Man gründet Parteien, um an die Macht zu kommen und die eigene Klientel zu versorgen. In der arabischen Welt dienen z.B. demokratische Verfahren, um demokratiefremde Elemente wie die Hamas zu etablieren. Mit demokratischen Verfahren wird die Demokratie abgeschafft. Übrig bleibt ein reines Entscheidungsverfahren. Das ist ein Grund für die Wahlmüdigkeit.

Programme sind reine Form, sie sind ein nachrangiges Beiwerk. Sie spielen keine Rolle, wenn die Parteien an die Macht kommen. In Berlin hat die Linkspartei z.B. ihr eigenes Programm verraten. Entscheidend ist dagegen die Logik der Kapitalverwertung. Es geht um das Weiterfunktionieren der kapitalistischen Verhältnisse. Es wird nach Maßgabe der Wirtschaft regiert. Die Regierungen sind „Hausmeister des Kapitals“.

Wolfgang Ratzel meinte in dem Vortrag, wenn sich die Piratenpartei in eine Programmpartei verwandeln würde, sei das das Falscheste. Die Piraten müssten aus der Demokratie herausspringen. Die Piraten verwalten Meinungen, Optionen, Vielfalt.

In dem Seminar waren auch VertreterInnen der Piraten anwesend. Die Piraten hätten ein Programm, das länger sei, als das der anderen Parteien. Jedes Mitglied könne Änderungen des Programmes vorschlagen. Die Stärke der Piraten sei die innerparteiliche Demokratie. Jedes Mitglied kann mitbestimmen und Anträge stellen. Es sei eine andere Umgangsweise, von unten nach oben. Die Piratenpartei sei eine Plattform, die Ressourcen bereitstellt. Die Meinungsbildung werde organisiert, indem eine leistungsfähige Infrastruktur bereitgestellt werde.

„Es geht um die Idee! Gute Ideen können von den Grünen, Linken oder der CDU kommen.“ Die Piraten wollen dementsprechend Themenkoalitionen bilden. Ein piratischer Anzugsträger aus dem Bundesvorstand eilte mitten aus dem Seminar in eine Kneipe in Mitte, um sich mit FDP-lern zu treffen...Man muss sie dafür nicht hassen...

Das Programm der Piraten: www.kein-programm.de

Bezeichnend war in der Diskussion mit den Piraten, dass nur über Verfahren und nicht über Inhalte geredet wurde. Wie sagte Martin Sonneborn: Inhalte überwinden!

Nach der Machtübernahme „an die Wand stellen“...:
http://www.youtube.com/watch?v=Y4sGwa_J-Q4

Über die Piraten in Analyse und Kritik:

Die Speerspitze der »kreativen Klasse« will nicht mehr nur spielen, sie will ihr Kapital gewinnbringend einsetzen (Von Katja Kullmann)

„ Nicht als Partei sind die PiratInnen interessant, sondern als Speerspitze einer bestimmten Klasse, einer neu sich definierenden Gesellschaftsschicht, die sich gerade erst selbst kennenlernt, die augenblicklich ihre Reichtümer, Schwächen und Chancen sortiert und die - vorläufig noch etwas stümperhaft, niedlich bis kindisch, womöglich unschuldig - nun erstmals über sich und ihre Interessen spricht(...) Es geht ihnen vorrangig um Verfahrensweisen, Techniken, Distributionsvarianten, ganz im Stile einer übereifrigen Abteilungsleitung - nicht um Ideen, sondern um Transportwege für Ideen. Und schon gar nicht sprechen hier »die da unten« oder gar das »Antiestablishment«. (2) Eher meldet sich das next Oben zu Wort, das mutmaßliche Establishment von Morgen. Es ist die aufziehende neue (Klein)Unternehmerelite, die sich hier erstmals unter einem allgemeinverständlichen Logo versammelt(...) Statt Utopien (sie hassen dieses Wort) zu entwerfen oder die unterschiedlichen sozialen Räume zu vermessen, die der neoliberale Brachialkapitalismus in überraschender Klarheit freigelegt hat, interessieren sie sich überwiegend für ihren eigenen (medien)belesenen Raum, den sie folgerichtig zum Hauptthema und zum place to be erklärt haben. Es sind die BloggerInnen, TwitterInnen, Flickr-MeisterfotografInnen, DaWanda-KunsthandwerkerInnen, ProgrammiererInnen, OnlinehändlerInnen, -journalistInnen und -beraterInnen, das eBay-Kleingewerbe und das freigesetzte digitale Projektmanagement, die scheinselbstständigen Socialmediabeauftragten, die Stütze beziehenden RemixkomponistInnen und VideocutterInnen, FernstudentInnen und App-EntwicklerInnen, die die PiratInnen im Visier haben. Zwar leiden all diese Leute aktuell noch unter einem gewissen Prekariatstrauma, doch ahnen einige von ihnen sehr präzise, dass sie eines Tages zu den ganz großen GewinnerInnen der kommenden Zeit zählen könnten(...) Liquid Democracy heißt das Schlüsseltool der PiratInnen, ein Softwareprogramm, mit dem akkreditierte NutzerInnen in Foren diskutieren und über Parteianträge abstimmen können. »Liquid Democracy« ist grundsätzlich leer. Es ist nichts als eine Onlinepinnwand(...) Ihre Ideologie - die keine sehr neue ist, denn sie stammt aus den 1990er Jahren des vergangenen Jahrtausends - lautet: Die Ära der Ideologien ist vorüber(...) Unterdessen diskutieren, demonstrieren, protestieren weltweit gerade die Menschen, viele, überall. Und es sind nicht die Alten, die da auf die sprichwörtliche Straße gehen. Eine große Zahl von ihnen ist sogar jünger als das allerallerjüngste Mitglied der PiratInnen. Sie streiten um Gerechtigkeit und Fairness, sie nehmen ein fürchterlich altmodisches Wort wie »Umverteilung« in ihre Münder, sie wehren sich gegen eine Segregation der Städte und ein weiteres Auseinanderdriften der sogenannten sozialen Schere - es sind wirklich viele, und wirklich überall. Dem WLAN-Bürgertum fällt zu all dem wenig bis nichts ein. Es interessiert sich vor allem für das Zukunftspotenzial seines je individuellen 24-Zoll-Horizonts. Wie gesagt: Man muss sie dafür nicht hassen.“ (aus ak, April 2012)
http://www.akweb.de/ak_s/ak571/05.htm

Die Piratenpartei debattiert über Feminismus - ihre Antwort heißt »Equalismus«
http://www.akweb.de/ak_s/ak572/15.htm
Der Streit um das Urheberrecht ist neu entbrannt. Meist geht er an der Sache vorbei
http://www.akweb.de/ak_s/ak572/03.htm

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir von der Autorin.