Wir sind die Guten:
Mit dem Scheiß haben wir nichts zu tun

Rezension zum Buch „Anarchismus, Marxismus, Emanzipation“  und warum der Anarchismus hier gegenwärtig so schwach ist.

von Anne Seeck

5/6-12

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„Die Buchmacherei“ hat wieder ein interessantes Buch herausgebracht. Der Text auf dem Buchcover verspricht Spannung. „Die Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre lässt sich von keiner der verschiedenen sozialistischen Bewegungen als Erfolgsgeschichte reklamieren: Sozialdemokratisch- reformistische Versumpfung im Bestehenden, zumeist nur kurzfristig gelungene anarchistische Aufbrüche und schließlich- alles überschattend- massenhafte Gewalt im so genannten Realsozialismus. Es gilt, sich dieser Vergangenheit zu stellen, um für mögliche Gefahren sozialistischer Politik zu sensibilisieren und alte innersozialistische Konflikte und deren mögliche Aktualität zu beleuchten und zu verhandeln. In ausführlichen Gesprächen diskutiert Philippe Kellermann deshalb mit Bini Adamczak, Jochen Gester, Joachim Hirsch, Gerhard Hanloser und Hendrik Wallat über Anarchismus, Marxismus, Emanzipation.“

Es lässt sich leider nie wieder so unschuldig von einer besseren Welt träumen wie im 19. Jahrhundert.“ 1

Bini Adamczak fragt sich, „welcher Umgang mit den tatsächlich begangenen Wegen gefunden werden kann[...] Die Frage, die sich stellt, lautet also, wie der Versuch einer welthistorischen Befreiung in grausame Herrschaft umschlagen konnte.“.2 Es gebe keine Identität von Bolschewismus und Revolution sowie Bolschewismus und Kommunismus. Beide Behauptungen nutzten den autoritären KommunistInnen zur Vereinnahmung von Revolution und Kommunismus, und den autoritären AntikommunistInnen zu deren Denunziation. Die Linken glaubten, sie seien die Guten. Die Welt sah zwar nicht so aus, wie sie sich das vorstellten, aber das lag „an der Übermacht und Hinterhältigkeit des Gegners oder an der ideologischen Ignoranz der Massen“. 3 In Zeiten des Kalten Krieges bestand die Gefahr darin, dass „die Kritik am real existierenden Sozialismus ständig [...]als Parteinahme auf Seiten des real existierenden Kapitalismus gelesen“ 4 wurde. Viele antworteten darauf mit Ignoranz, „mit dem Scheiß, so hieß es, haben wir nichts zu tun.“5

Heute ginge es darum, Verantwortung für die Russische Revolution und das Scheitern zu übernehmen, da das Copyright der machtpolitisch legitimierten ErbInnen 1990ff. erloschen sei. Auch von Positionen außerhalb der marxistisch- leninistischen Tradition könne diese Verantwortung übernommen werden. Es ginge darum, „das Erbe jener linken KritikerInnen des Stalinismus und auch Bolschewismus zu retten, die von der gewaltsamen Geschichte an den Rand und den Rand des Vergessens gedrängt wurden[...] und andererseits der Versuchung zu widerstehen, im Rückgriff auf eine bessere Tradition eben diese Geschichte vergessen machen zu wollen“, so Bini Adamczak. 6 Eine Differenz zwischen AnarchistInnen und KommunistInnen würden zerfallen, wenn die KommunistInnen „die historische Verantwortung annehmen und aus dieser heraus eine radikale Kritik des autoritativen, parteizentrierten, produktivkraftfixierten, staatsorganisierten Weges leisten.“ 7

Es gäbe durchaus Chancen für eine Renaissance libertären Gedankenguts.“8

Jochen Gester macht für die Unkenntnis revolutionärer Traditionen außerhalb des marxistischen Gedankenguts die politische Sozialisation des größten Teils der Linken verantwortlich. Die Chance, Libertäre zu treffen, sei gering. Oftmals seien diese jung und interessierten sich nicht für die Entwicklung kollektiven Widerstands gegen die Zwänge der Arbeitswelt. (Anmerkung: Oder sie sind bereits in der FAU organisiert.) Philippe Kellermann sprach von einem „chronischen Leiden“ der AnarchistInnen, die häufige „Ablehnung jeglicher Form von Organisation[...]Der 'anarchistische Weg' scheint jedenfalls ein sehr schwieriges Unterfangen zu sein.“9 Dem entgegnete Jochen Gester, dass allgemein die Bereitschaft sinke, sich in die Obhut politischer Organisationen zu begegnen. Damit sinke die Berechenbarkeit der Bewegungen.

Es müsse sich eine neue Kollektivität herausbilden, aber: „Diese Kollektivität kann nicht erzwungen sein wie der Dienst in einer Armee. Sie kann sich nur freiwillig herausbilden, versuchen, in mühseligen Anstrengungen einen Konsens über gemeinsame Interessen herzustellen, zu Einheit bei Wahrung der Vielfalt zu gelangen.“ 10 Ohne Organisation gebe es keinen Erfolg und keine weiterreichenden Perspektiven, so Jochen Gester.

Als früherer Maoist vertrat er den Standpunkt, „es gäbe Kraft Erkenntnis eine Avantgarde, die bereits weiß, wohin die Reise gehen muss und was für die Anderen gut ist.“11 Als libertärer Sozialist komme es darauf an, „dass die Menschen beginnen selbständig zu denken und zu handeln und ihre eigenen Schlüsse ziehen“. 12 Die prägende Normalität sei aber, dass die Menschen in hierarchischen und entfremdeten Verhältnissen stehen. „So betrachtet sind wir mit Verhältnissen konfrontiert, in denen eine dauerhafte politische Aktivität nur Sache von Minderheiten ist und die Mehrheit damit, dass sie vertreten wird, kein grundsätzliches Problem hat.“, sagt Jochen Gester. 13 Es ginge aber darum selbstorganisierte Strukturen zu entwickeln. Neue Formen arbeitsweltbezogener direkter (Räte-) Demokratie seien unverzichtbar für eine demokratische Selbstverwaltung und die reale Inbesitznahme der Produktionsmittel.

Der klassische Anarchismus bleibt doch zu sehr Kind des 19. Jahrhunderts“- „er bleibt jedoch Ideologie“ 14

Gerhard Hanloser sagt: „ Nichtsdestotrotz findet sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts viel Anarchistisches als bastardisierte, hybride Theorie und Praxis, als mal deutlichere mal verstecktere Spurenelemente im Marxismus oder auch im postmodernen Denken wider. Für mich ist Anarchismus dann noch von Interesse, wenn er sich für Kategorien wie Ausbeutung, Klassenkampf und soziale Bewegungen interessiert und darin zum Ausdruck kommt.Als reine Theorie […] interessiert mich der Anarchismus nicht.“ 15

Auch der Marxismus stelle eine Ideologie dar. Ob eine Arbeiterklassenideologie, Modernisierungsideologie oder eine Selbstlegitimierung der realsozialistischen Länder. Marx sei auch ein Ideologe und sogar Demagoge gewesen. Allerdings: „Marx hat als Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft eine enorme Bedeutung.[...] Ich finde selbst dort, wo man geneigt ist, Marx zu verabschieden oder als ideologisch abzukanzeln, gültige Beschreibungen des Kapitalismus.“ 16

Wer allerdings zu sehr dem Produktivitätsparadigmas verhaftet sei, begreife den „Spirit“ nicht, der in den globalen Zeltstädten von Kairo, über Madrid, Tel Aviv bis zum Zuccotti Park zu spüren sei. „Die neuen Zeltplatz- Bewegungen haben der Anpassungsbereitschaft und dem Zynismus die rote Karte gezeigt. Das Postideologische als neueste Stufe der Ideologie grassiert dagegen. Hier steht ein Lernprozess noch aus: von 'Wir sind 99%' zu 'Wir sind alle Proletarisierte'- dann wird auch klar, dass die Nicht- Proletarisierten und ihre Fürsprecher mehr sind als nur 1 %. […] Es ist allein die face-to-face- Verbindung, die Vernetzung, Verknüpfung und Beziehung von Aufbrechenden, die etwas Neues schafft. […] Zu guter Letzt: können die Linken, die allzu gerne Erzieher sein wollen ohne die Frage 'Wer erzieht die Erzieher?' tatsächlich an sich ran zu lassen, das verlernen, was sie in ihren Gruppen, Organisationen und Parteien gelernt haben: das Manipulieren und Abtöten dessen, was ich hilflos 'Spirit' nenne, die Hybris, die Verstellung, das konkurrenzbehaftete racket- Verhalten. Sollte das gelingen, haben wir eine Chance.“ 17

Die Niederlagen sind „auf die Staatszentriertheit sowohl der reformistischen als auch revolutionären Ansätze zurückzuführen“ 18

Joachim Hirsch spricht davon, was vom Anarchismus zu lernen wäre: „[...] dass soziale Emanzipation nicht von Avantgarden, Parteien und Staaten ausgehen kann, sondern eine unmittelbare Angelegenheit der Menschen sein muss, dass Freiheit nicht durch Zwang hergestellt werden kann und dass dies bestimmter Formen gesellschaftlicher Praxis bedarf. Auch angesichts der Tatsache, dass die theoretischen Rechtfertigungen des Staatssozialismus, die in der marxistischen Tradition eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben, inzwischen der Vergangenheit angehören, bleibt das wichtig. Staatsfixierung und Staatsfetischismus spielen bis heute in sozialen Bewegungen, linken Gruppierungen und vor allem Parteien eine große Rolle.“ 19

Dabei war das Ziel bei Marx nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das Absterben des Staates als Voraussetzung gelungener Vergesellschaftung. „Der Mainstream der politischen Linken tickt anders. Hier ist der Staat zentraler Adressat und Akteur für eine linke Politik.“, so Jochen Gester. Aber es ginge nicht darum, den Staat zu ignorieren oder ihn nur zu bekämpfen, sondern ihn als politischen Raum zu begreifen, „[...]in dem soziale Bewegungen auch immer wieder anstreben müssen Ergebnisse ihrer Kämpfe in rechtlicher Form abzusichern. Nur durch die massenhaft nachvollzogene Erfahrung, dass dies nicht, nur teilweise und nur vorübergehend möglich ist, entsteht die notwendige Delegitimierung des kapitalistischen Staates als Vertreter des Allgemeinwohls.“ 20

Joachim Hirsch ist gegen eine Dämonisierung des Staates, denn der sei integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses. „Damit ist er eine Organisation, in der nicht zuletzt auch die Widersprüche zum Ausdruck kommen, die für die kapitalistische Gesellschaft charakteristisch sind. Und an Widersprüchen muss man bekanntlich ansetzen, wenn man etwas verändern will.[...] Es dürfte auch kaum möglich sein, den bestehenden Staatsapparat zu zerschlagen und dann irgendwie eine ganz neue, wirkliche demokratische politische Organisationsform zu schaffen. Ohne eine zentrale Apparatur kann eine Gesellschaft nämlich weder frei noch demokratisch sein. Auch auf dieser Ebene wird man also mit langwierigen und schwierigen Transformationsprozessen zu rechnen haben.“ 21 Joachim Hirsch plädiert für „zivilgesellschaftliche Initiativen und Bewegungen, also Formen der Selbstorganisation“, „im Prozess gesellschaftlicher Veränderungen (muss) die Zivilgesellschaft selbst transformiert werden.“ 22

Meines Erachtens kann in die heutige Zivilgesellschaft, z.B. die NGO`s, wenig Hoffnung gesetzt werden. Oftmals hängen diese Institutionen am staatlichen Tropf und zeichnen sich daher durch Anpassungsbereitschaft aus. Joachim Hirsch plädiert auch für einen „radikalen Reformismus“, „was heißt, konkrete Lebens- und Vergesellschaftsweisen neu zu gestalten: Verkehrs- und Produktionsformen, politische Organisationsweisen, Geschlechterverhältnisse, Naturverhältnisse. Das ist etwas, was sich gegen die herrschenden sozialen Formen- unter anderem den Staat- richtet und ein schwieriger, konfliktreicher, langwieriger und oft schmerzhafter Prozess ist. Dieser kann nicht von oben dekretiert werden, wie die gescheiterten proletarischen Revolutionen zeigen, sondern muss von selbstorganisierten gesellschaftlichen Initiativen ausgehen. Gelingt das, dann verändern sich die sozialen Kräfteverhältnisse und damit auch die Staatsapparate.“ 23

Auch dies ist meines Erachtens sehr optimistisch. Wer selbst in Bewegungen aktiv ist, weiß wie schwierig Selbstorganisationsprozesse sind, zumal wenn sie sich im Rahmen von Ehrenamtlichkeit bewegen und die Akteure sich auch noch um ihre Existenzgrundlage in Zeiten der Prekarisierung zu kümmern haben. Zudem fehlt oftmals die gesellschaftliche Anerkennung. Aus dem Elfenbeinturm eines Professors bzw. Beamtenpensionärs mögen „Selbstorganisierungsprozesse der Subalternen“ idyllisch anmuten, die schließlich den „Staatsapparat verändern“...Joachim Hirsch: „Kurzum: der Weg zur sozialen Emanzipation ist schwieriger und steiniger, als viele sich als revolutionär verstehende Vorstellungen das gesehen haben.“ 24

Im Gegensatz zur historischen Arbeiterbewegung fehlt uns heute komplett die Erfahrung revolutionärer Praxis.“ 25

Hendrik Wallat empfindet das sogenannte Bilderverbot als durchaus ambivalent: „[...] einerseits ist es nicht möglich, eine zukünftige Freiheit aus dem Stande der Unfreiheit heraus zu entwerfen; die offene Zukunft autoritär zu schließen und ihre nicht endgültige bestimmbare Differenz zur Gegenwart negieren. Andererseits ist der-/diejenige, der/die die Wirklichkeit in Grund und Boden kritisiert, auch in einer Bringschuld. Wenn man sich das Elend und das Scheitern des real- existierenden Sozialismus anguckt, muss sich eine anti-kapitalistische Linke die Frage gefallen lassen, ob man mittlerweile was Besseres im Angebot hat. Hierzu reicht es eben nicht aus, immer nur darauf zu verweisen, wie es nicht gehen soll. Dies sind, wie ich finde, sehr wichtige, aber auch sehr schwierige Fragen, die allerdings nicht vom Schreibtisch aus zu beantworten sind. Es sind dies eigentlich Aufgaben einer kollektiven Praxis, die freilich theoretisch antizipierbar sind und diskutiert werden müssen- was ja Teil der Praxis wäre, auf deren revolutionäre Gestalt in einem gesamtgesellschaftlichen relevanten Maßstab ich jedoch nicht gerade wetten würde.“ 26

Scholastische Debatten“

Das Buch liest sich sehr flüssig. Und es ist spannend. Allerdings ging mir zum Teil die „Prahlerei mit historischem Wissen“27 ziemlich auf die Nerven. Der Bildungskanon einiger männlicher, weißer Intellektueller wurde überdeutlich, ohne dass die eigene privilegierte Stellung reflektiert wurde. So kommen die weltweit Marginalisierten, reale soziale Kämpfe und weltweite Bewegungen in dem Buch zu wenig vor. Das ist schade, da der Interviewer Philippe Kellermann, der oftmals viel zu langatmig war, sich wundert, warum der Anarchismus so marginalisiert ist. Der Anarchismus war mal eine Bewegung, die in relevanten Bevölkerungsgruppen verwurzelt war, eine Bewegung, die das Leben war. Und nicht nur Theorie. Jochen Gester, der soziale Kämpfe führt, weiß da eine Antwort: „Die Geschichte zeigt aber auch, dass sich solche Chancen (Anm.: „Chancen für eine Renaissance libertären Gedankenguts“) verspielen lassen, z.B. durch scholastische Debatten, bei denen es weniger um die konkrete Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der dem Lohnsystem unterworfenen Menschen geht, als vielmehr um das Renomee und die Stellung der den Diskurs oder den Verband steuernden Intellektuellen.“. 28 Die linksintellektuellen Gegen- Eliten würden die Verhältnisse reproduzieren und sich „in ihrer intellektuellen Belesenheit und dem Verkünden abstrakter alternativer Lehrsätze“ genügen. 29

Gerhard Hanloser hat mit dem Gerede vom „organischen Intellektuellen“ Probleme: „Heutzutage dient diese Rede vom 'organischen Intellektuellen' nur noch dazu irgendwo als Organizer in der Gewerkschaft oder als Anhängsel der Partei „Die Linke“ Platz nehmen zu dürfen. […] Ich würde vorschlagen, jeden, der mit dem Gramscischen 'organischen Intellektuellen' um die Ecke kommt, schlicht nach dem Arbeitgeber zu fragen.“ 30

Die Rolle des Intellektuellen in einer zunehmend prekarisierten Gesellschaft ist allerdings ein anderes Thema. Und nichts gegen Intellektuelle, aber wie sagte Hannah Arendt: Intellektuelle müßten die „Zertrümmerer“ und „Einreißer“ sein. Ihr Fragen reißt alle vermeintlich sicheren Gedankengerüste wieder ein. Sie haben die Rolle des „Dagegen-Seins“ übernommen und halten damit den Prozeß des Nachdenkens in Gang.

Und warum spielt der Anarchismus keine Rolle?

Immer wieder fragt der Interviewer Philippe Kellermann nach, warum der Anarchismus keine Rolle spielen würde. Immer wieder verweist er auf anarchistische Theorie. Auch in dem Buch „ Begegnungen feindlicher Brüder“, dessen Herausgeber er ist, beklagt er diesen Zustand: „War in den 1960er Jahren der Anarchismus zumindestens- wenn auch oft nur als Schlagwort- in den Debatten präsent und damit auch eine gewisse Vorstellung der Geschichte der sozialistischen Bewegung, scheint unsere Gegenwart sich um diese Geschichte nicht mehr allzu viel zu kümmern. Vor dem Hintergrund, dass sich viele genuin anarchistische Vorstellungen in den gegenwärtigen Bewegungen recht großer Beliebtheit zu erfreuen scheinen, ist dies merkwürdig.“ 31

Hier ein Versuch einer Begründung, mit Zitaten von Gabriel Kuhn.

Gabriel Kuhn verweist dagegen in dem Buch „Vielfalt, Bewegung, Widerstand“ darauf, dass die anarchistische Bewegung international eine Stärke erreicht hat, „die ihr seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht mehr zugekommen ist.“ Allerdings sei diese Bewegung männlich, weiß und in der Mittelklasse der fortgeschrittenen Industrieländer verankert. Damit spiegele sie Machtverhältnisse wider, die sie zu bekämpfen beanspruche.

„Was die männliche und weiße Dominanz der Szene betrifft, so lässt sich auf aussagekräftige Quellen verweisen: etwa die Autorenverzeichnisse anarchistischer Anthologien oder die RednerInnenlisten anarchistischer Veranstaltungen; die Zusammensetzung anarchistischer Verlags- bzw. Zeitschriftenkollektive; die Personen, die innerhalb anarchistischer Projekte und Organisationen als besonders einflussreich gelten, usw. Persönliche Beobachtungen lassen sich hinzufügen: Ich habe im letzten Jahr rund 40 Veranstaltungen zu anarchistischen Themen im deutschsprachigen Raum gemacht. Der Prozentsatz von Männern, die zu den Veranstaltungen kamen, lag bei etwa 80%. Den Raum, den Männer in den Diskussionen einnahmen, bei 95%. Was die Teilnahme von Menschen mit Migrationshintergrund betrifft, so waren die Prozentsätze noch unausgewogener. In anderen Ländern sieht es, wie ich es aus eigener Erfahrung und auf der Basis von Gesprächen mit GenossInnen beurteilen kann, kaum anders aus. Die Klassenzugehörigkeit anarchistischer AktivistInnen ist aus verschiedenen Gründen weniger eindeutig, doch ist eine Dominanz des studentischen Mittelklassenmilieus evident.[...]

Viele Menschen, die in einem herrschaftsfreien Sinne politisch aktiv sind, nehmen nicht deshalb Abstand von der anarchistischen Szene, weil ihnen deren Prinzipien und Ideale nicht geheuer sind, sondern weil sie sich in ihr aus bestimmten Gründen nicht zuhause fühlen. Manche wollen sich nicht in Schubladen stecken lassen oder mit ideologischen Labels belasten. Dies scheint jedoch nicht der Hauptgrund zu sein. Vielmehr scheint es sich um sozio-kulturelle Differenzen zu handeln, die Distanz schaffen.“ 32, so Gabriel Kuhn.

Es ginge darum, die eigene soziale Position zu reflektieren und über den Tellerrand der eigenen Szene hinauszuschauen. Die Exklusivität und Uniformität der anarchistischen Szene müsse überwunden werden: „Das Publikum in anarchistischen Lokalen- Buchläden, Cafes etc.- ist in der Regel um vieles homogener als das in x- beliebigen Lokalen der Mehrheitsgesellschaft. Für eine Bewegung, die sich unter anderem über ihre angebliche Überwindung bürgerlicher Normierung definiert, ist dies kaum rühmlich- ganz abgesehen davon, dass es ein wesentlicher Grund dafür ist, warum sich der Eintritt in die anarchistische Gegenkultur für viele Uneingeweihte so schwierig gestaltet. Auch wenn wir es oft nicht wahrhaben wollen und solche Begrifflichkeiten energisch von uns weisen: es gibt in unserer Szene eine Menge Regeln zu lernen und eine Reihe von Codes zu verstehen. Viele fühlen sich davon abgeschreckt. Anderen ist der Lernprozess schlicht zu mühsam. Dass sich etliche Menschen auch auf einem persönlichen Niveau in der anarchistischen Szene nicht willkommen fühlen, hilft dabei kaum. [...]Die Bedeutung (auch die politische), die einer sozialen Atmosphäre zukommt, die einladend, warm und herzlich ist, darf nicht unterschätzt werden; zudem ist sie die einzige Atmosphäre, die unseren Ansprüchen an eine 'bessere Welt' gerecht werden kann.“33 Solange die Anarchisten sich in einem Ghetto bewegen, wird auch der Anarchismus hier bedeutungslos bleiben.

Gabriel Kuhn beschreibt aber noch einen Grund, den Konflikt zwischen klassischem und neuem (Lifestyle-) Anarchismus. Er ist für einen Kompromiss: „Klassische AnarchistInnen akzeptieren, dass die anarchistische Bewegung in den letzten Jahren wesentliche Änderungen durchgemacht hat; Änderungen, die notwendigerweise die Art, wie AnarchistInnen wahrgenommen werden, verändert haben, aber auch das Selbstbild vieler AnarchistInnen. Darüber hinaus akzeptieren klassische AnarchistInnen, dass niemand ein Monopol auf die 'richtige' Definition des Anarchismus hat und das unterschiedliche Auslegungen und historische Wandlungen der Bewegung nur Gutes tun können.“ 34

Meines Erachtens kommt man weder mit dem ökonomischen Reduktionismus der Sozialanarchisten (Hier geht es nur um Arbeitskämpfe...) oder der „reinen Lehre“ der anarchistischen Historiker- Freunde (Bakunin hat gesagt...) weiter. Aber auch nicht mit einem Lifestyle- Anarchismus, dem es nur um die individuelle Lebensgestaltung geht, und nicht um den Kampf gegen das System. Mit 30 ziehen sich die Lifestyle- Anarchisten dann in ihr Privatleben zurück.

Gabriel Kuhn: „Gleichzeitig zeigen Neue AnarchistInnen der anarchistischen Geschichte gegenüber Respekt und vermeiden, den Anarchismus zu einer bloßen Modeerscheinung verkommen zu lassen. Sie verpflichten sich dazu, die politischen Inhalte des Begriffs zu verteidigen und nicht allzu leichtfertig mit diesem umzugehen. […] Dies wäre nicht zuletzt auch das wirksame Mittel gegen die mediale und kommerzielle Sinnentleerung des Anarchismus, die heute manche fürchten“ 35

Und Gabriel Kuhn schließt: „Solange es uns gelingt, unsere Prinzipien, Ideale und Träume (wenn auch nur ansatzweise) zu leben, solange ist Anarchie Wirklichkeit.“ 36

Literatur des letzten Kapitels:

Philippe Kellermann (HG.): Begegnungen feindlicher Brüder, Unrast Münster Mai 2011
Gabriel Kuhn, Vielfalt, Bewegung, Widerstand, Unrast Münster August 2009

Anmerkungen

1Bini Adamczak, Dekonstruktion von Anarchismus und Kommunismus, In: Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismus, Marxismus, Emanzipation, Berlin 2012, S.41

2Ebd. S. 13f.

3Ebd. S. 13

4Ebd. S. 30

5Ebd. S. 30

6Ebd. S. 41

7Ebd. S. 42

8Jochen Gester, Der schwierige Prozess von Selbstorganisation und Selbstermächtigung, In: Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismus, Marxismus, Emanzipation, Berlin 2012, S. 49

9Ebd. S.

10Ebd S. 55

11Ebd. S. 56

12Ebd. S. 49

13Ebd. S. 65

14Gerhard Hanloser, Soziale Befreiung und die Schwierigkeit mit der Notwendigkeit, In: Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismus, Marxismus, Emanzipation, Berlin 2012, S. 75

15Ebd. S. 75 f.

16Ebd. S. 80f.

17Ebd. S. 88f.

18Joachim Hirsch, S. 128

19Ebd. S. 126

20Ebd. S. 61

21Joachim Hirsch, Vereinfachte Emanzipationskonzepte der Vergangenheit hinter sich lassen, In: Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismus, Marxismus, Emanzipation, Berlin 2012, S. 124

22Ebd. S. 120

23Ebd. S. 124

24Ebd. S. 125

25Hendrik Wallat, Auf dem Weg zur Freiheit des Nichtidentischen, in: Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismus, Marxismus, Emanzipation, Berlin 2012, S. 164

26Ebd. S. 140f.

27Philippe Kellermann, S. 117

28Jochen Gester, Der schwierige Prozess von Selbstorganisation und Selbstermächtigung, In: Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismus, Marxismus, Emanzipation, Berlin 2012, S. 49

29Ebd. S. 57

30Gerhard Hanloser, S. 84

31Philippe Kellermann (Hg.), Begegnungen feindlicher Brüder, Münster 2011, S.12

32Gabriel Kuhn, Vielfalt, Bewegung, Widerstand, Münster 2009, S.130f.

33Ebd. S. 140

34Ebd. S. 71

35Ebd. S. 71

36Ebd. S. 141

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