Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

5/6-12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Missverständnisse ausräumen, Differenzen weiter diskutieren
Die SIB antwortet auf das Avanti-Papier


Liebe GenossInnen von Avanti,

vielen dank für Euer Schreiben. Was lange währt, wird endlich gut, sagt mensch. So empfinden wir auch euer Papier, solidarisch im Ton und deutlich bei der Benennung von Gemeinsamkeiten und Differenzen.

Wir wollen mit unserer Antwort nicht eine „Papierschlacht“ eröffnen, bei der beide Gruppen sich gezwungen sehen ständig neue Antworten zu produzieren, sondern nur einige Missverständnisse ausräumen und tatsächliche Differenzen weiter diskutieren.

In einigen Punkten haben wir uns zwischen die Stühle gesetzt, und zwar bewusst. Ihr konstatiert: „Der wesentliche und wahrscheinlich auch grundlegende Unterschied zwischen unserer Herangehensweise und der, die sich mit dem Diskussionsprozess zur Neuen Antikapitalistischen Organisation präsentiert, ist unsere Praxisbezogenheit. Wir können und wollen weder die potenziellen Diskussions- bzw. Organisationspartner auf theoretischer Ebene bestimmen, noch die Inhalte der Organisation zuerst en détail festlegen, und uns auf dieser Ebene zusammenschließen.“

Wir hatten einige kritische Anmerkungen von Gruppen bekommen, die unsere mangelnde inhaltliche Festlegung kritisieren. Andere wiederum, so wie Ihr, kritisieren unsere zu weitreichende Positionierung. Es ist uns bewusst, dass wir manch „schweres Geschütz“ aufgefahren haben. Wir halten eine detaillierte Vorfestlegung der Inhalte der neuen NAO für absurd. Allerdings wäre es auch falsch, nichts zu den Inhalten zu sagen. Deshalb haben wir uns neben einigen theoretischen Ausführungen, die alle als Diskussionsbeitrag und nicht als in Stein gemeißelte Weisheiten zu Verstehen sind, auf fünf Essentials beschränkt. Dies finden wir nach wie vor richtig und wichtig. Es geht hierbei auch nicht darum, über andere Gruppen in diesem Prozess zu „bestimmen“, sondern um die Kenntlichmachung der eigenen Schmerzgrenzen. In einem ehrlichen Diskussionsprozess müssen die Schmerzgrenzen der Beteiligten deutlich sein, damit alle wissen, woran sie sind.

Was bedeutet z.B. heute eine Antiimperialistische Politik? Wie gehen wir mit den Gewerkschaften um? Das sind Fragen, die nicht nur in der Praxis geklärt werden können, sondern auch einer theoretische Diskussion bedürfen. Gerade das von euch monierte Durchscheinen eines „Haupt-Nebenwiderspruch-Theorems“ haben wir z. B. selbstkritisch angemerkt und in unseren weiteren Papieren („Von Quietscheentchen, Liebesbeziehungen und ‚Fidelio’“) bearbeitet. Hier zeigt es sich, dass unsere Positionen nicht statisch sind und wir einen Rest an Lernfähigkeit bewahrt haben.

Wir als relativ neue Gruppe konnten bisher natürlich nur begrenzt praktisch arbeiten, sind aber darum bemüht unsere Praxis weiterzuentwickeln, auch zusammen mit den anderen im NAO-Prozess mitarbeitenden Gruppen. Auch die Zusammenarbeit mit diesen Gruppen steckt natürlich in Kinderschuhen, wird aber von uns gewollt und forciert.

An diesem Punkt besteht auch eine weitere Differenz. Die vermaledeite Beziehung zwischen Theorie und Praxis ist seit Jahrhunderten in den emanzipatorischen Bewegungen kontrovers diskutiert worden. Wir lehnen eine einseitige Schwerpunktsetzung ab. Eine Praxis ohne theoretische Durchdringung ist auf Dauer dazu verurteilt in Aktionismus oder Pragmatismus (im negativen Sinne) umzuschlagen. Eine von der Praxis losgelöste Theorie aber endet in Dogmatismus oder in irrelevante Besserwisserei. Unsere Wunschvorstellung ist die synchrone Entwicklung von Theorie und Praxis und deren Verzahnung. Es ist uns bewusst, dass an diesem Anspruch viele linke Gruppen gescheitert sind und die erfolgreiche Durchführung eines solchen Vorhabens fast so unmöglich ist wie die Quadratur des Kreises. Wir sind aber überzeugt, dass entschiedene AntikapitalistInnen nicht auf Dauer erfolgreich sein können, ohne dies zu versuchen.

Ihr schreibt in eurem Papier: „Ein Unterschied liegt unsres Erachtens in der Orientierung des Aufbaus einer Partei des ‚neuen Typs’ mit Option auf Partizipation am parlamentarischen Geschehen“.

Das wäre eindeutig ein Missverständnis, wobei so etwas nur schwer missverstanden werden kann, wenn mensch unser Papier liest. Wir wollen eine Organisation, die wir ab und zu auch „Partei“ nennen. Diese Begrifflichkeit verstehen wir aber im Wahren Sinne des Wortes, und nicht im Sinne des bundesdeutschen Parteienrechts. Wir wollen in den sozialen Kämpfen „Partei“ sein, und nicht in Kleinkleckersdorf für den Gemeinderat kandidieren (auch nicht in Großkleckersdorf und sonst wo). Es handelt sich definitiv nicht um ein wahlpolitisches Konkurrenzprojekt zur LINKEN, dies wird kurz- und mittelfristig auch so bleiben. Wir betrachten allerdings eine Beteiligung an Wahlen für eine antikapitalistische Organisation auch nicht prinzipiell als etwas Ehrenrühriges. Wir möchten im Verhältnis zur LINKEN (oder auch andere reformistische Organisationen) nicht nach dem Prinzip der Sphären-Teilung arbeiten, wonach wir die außerparlamentarische BegleiterInnen ihrer Politik sind. Wir kämpfen für unsere eigenständigen Positionen, ob es diesen Organisationen gefällt oder nicht. Und wenn wir Ihnen dabei auf die Füße treten sollten, dann ist es so.

Das alles ist bei unseren Wortmeldungen eindeutig dargelegt. Wir wollen eine Organisationsstruktur, in der vielfältige Arbeitsweisen und Aktivitätsgrade zusammengefasst werden können. Mit großer Beteiligung der BasisaktivistInnen und mit einer möglichst großen Verbindlichkeit.

Weiter wollen wir in dieser Phase des Prozesses nicht einer möglichen zukünftigen Organisationsstruktur vorgreifen und vorgefertigte Modelle vorlegen (die wir auch gar nicht haben), diese müssen im Prozess der Entstehung der NAO entwickelt werden.

In einem weiteren Punkt schreibt Ihr:

Euer Diskussionsprozess unterscheidet sich bereits dadurch grundlegend von dem Prozess innerhalb der IL, dass er in einer Breite ‚ausgeschrieben’ wird, die zwar beeindruckend ist, bei uns aber gewisse Zweifel aufkommen lässt, ob die jeweiligen Beiträge wirklich innerhalb der beteiligten Gruppen und Initiativen erarbeitet und verankert sind, oder nur das Ergebnis einiger weniger schlauer Köpfe“

Das wissen wir auch nicht. Wir können nur für uns sprechen. Alle längeren Papiere, die im Namen der SIB veröffentlicht wurden – und viele der Papiere, die namentlich gekennzeichnet sind – haben einen langen Diskussionsprozess in der Gruppe hinter sich. Nun ist es für eine kleine Gruppe, wie die SIB, sicher einfacher, so ziemlich alles zu diskutieren. Ab einer bestimmte Größe einer Organisation wird es schwieriger. Wie das in einer NAO aussehen würde, können wir nicht beurteilen, unsere Maxime ist hierbei: Soviel Diskussion wie möglich, soviel Entscheidung wie nötig.

Weiterhin bemerkt Ihr:

Ihr macht einen Parforceritt durch die Welt der bundesdeutschen radikalen Linken, und überlegt euch, wer denn für eine revolutionäre Organisation geeignet wäre. Dabei kennen sich die meisten dieser Personen und Organisationen doch seit Jahren und haben sich mehr oder weniger bewusst entschieden, keine gemeinsame Theorie und Praxis zu teilen.“

Das ist wohl wahr. Die angesprochenen Organisationen und Gruppen sind teilweise sehr weit auseinander und haben doch – so unsere Sicht – genug Gemeinsamkeiten um an einem Diskussionsprozess teilzunehmen. Was am Ende des Prozesses steht, vermögen wir nicht einzuschätzen, zumindest sorgt die Diskussion schon jetzt dafür, dass die unterschiedlichen Positionen klar für die Beteiligten dargelegt werden. Außerdem mussten wir feststellen, dass es durchaus Entwicklungen in den Positionen der verschiedenen Gruppen gibt. Menschen ändern ihre Meinung und so manche/r GenossIn, der/die wir weit entfernt von uns erachteten, ist doch näher an uns dran oder wir an sie/ihn. Und umgekehrt. Deshalb sehen wir die bisherigen Differenzen nicht als unverrückbar an.

In diesem Sinne hoffen wir auf auch auf weiterhin solidarische Diskussionen und – wie bisher gehabt – gute Zusammenarbeit

Sozialistische Initiative Berlin (SIB)

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Stellungnahme von den AutorInnen.