Der Auftakt zur
Streikbewegung gegen die Renten„reform“
(Version 2019) haut richtig rein.
-Mobilisierungserfolg ist unbestreitbar. -
„Randale“falle schnappt nicht zu. - Das
Bildungsministerium ergänzt unterdessen für
die Lehrkräfte das Verarmungsprogramm, in
Gestalt der geplanten Renten„reform“, um ein
veritables Verarschungsprogramm. - Neue
zentrale Aktionstage am 10. und 12. Dezember
19. - Sieben von acht Raffinerien befinden
sich im Streik.- CGT ruft zur
„Generalisierung des Streiks“ auf
06.
Dezember 2019
So fühlt sich also der
Streiktag, oder eher: der Tag des
Streikbeginns in mehreren Sektoren, in Paris
an. Am Donnerstag Vormittag gegen 9 Uhr, im
kalten Nebel: Die Métro-Stationen im
Stadtteil sind geschlossen. Auf der am
nächsten situierten Linie der Pariser Métro,
Nummer 4, war ein Mindestverkehr von einem
Drittel der üblicherweise verkehrenden Züge
„zu Stoßzeiten“ angekündigt. Zumindest hier
vor Ort ist sie jedoch zu. (Am
Spätnachmittag dagegen wird die Linie
verkehren, allerdings erstaunlich leer: Die
meisten Leuten haben wohl nicht damit
gerechnet, auf sie bauen zu können.)
Buslinien verkehren dagegen hier im
nördlichen 18. Pariser Arrondissement, allem
Anschein nach sogar in ziemlich regelmäßigen
Abständen, allerdings relativ leer. Auch
hier scheinen die Leute nicht mit ihnen
gerechnet zu haben. Hätte die örtliche
Bevölkerung sich nach dem Ausfall der Métro-
dann auf die Buslinien gestürzt, wären sie
wohl hoffnungslos überfüllt.
Stattdessen sieht man aber vor allem
überdurchschnittlich viele Fahrräder. Und im
Laufe der Minuten fällt eine gewisse Ruhe
auf, die Abwesenheit der sonst üblichen
Hektik. Auch kommt es zu keinen besonderen
Staus. Alles deutet darauf hin, dass an
diesem ersten Streiktag (u.a. im
Transportdienst) viele Beschäftigten in
anderen Sektoren erst einmal eine Auszeit
genommen haben. Nicht, dass sie streiken
würden – in der Privatwirtschaft überwiegend
nicht -, doch sehr viele nahmen sich einen
freien Tag. Oder optierten für
Heimarbeit/Bildschirmarbeit. (So auch der
Verfasser dieser Zeilen, der ebenfalls ein
Berufsleben zu bewältigen hat, überdies als
Freiberufler…)
Dies zeigt sich im Laufe
des Tages auch beispielsweis an der
außerordentlich hohen Zahl von Pariser
Einwohnern, die man just an diesem
Donnerstag Weihnachtsbäume schleppen oder
anderen Besorgungen nachgehen sieht, oft in
Begleitung von Kindern, deren
Schulunterricht ausfiel.
Nein, ein GENERALstreik
ist es nicht. Oder auch „noch nicht“,
wie der Generalsekretär der Union syndicale
Solidaires – Zusamenschluss der
SUD-Gewerkschaften – am Freitag mittag
(06.12.19) im TV erklären wird; um
hinzuzufügen: „Allmählich sieht
die Sache ihm aber ähnlich!“,
unter Verweis auf die
weitere Entwicklung der Mobilisierung, vgl.
dazu unten.
(Ja, es bräuchte einen
solchen – Generalstreik -, er wäre das
probateste Mittel für eine positive
gesellschaftliche Entwicklung! Es genügt nur
nicht, das Wort im Munde zu führen, man
müsste auch in der Realität aufbauen, Stück
um Stück.)
Nahezu alle Läden,
Geschäfte, Restaurants sind an diesem
Donnerstag wie üblich geöffnet, anscheinend
auch die meisten Banken. Orange (die
privatisierte französische Telekom) macht
hingegen erst ab 11 Uhr, und mit
Unterbrechungen während des Tages, auf.
Wahrnehmbar bestreikt werden die
Transportmittel, und sehr viele Schulen.
Postämter sind geöffnet, jedoch ebenfalls –
wohl aus ähnlichen Gründen wie die Bussitze
– erstaunlich menschenleer und ausnahmsweise
nicht überfüllt.
Zu den wichtigsten
Zahlen vom Donnerstag:
im Grundschulzweig betrug die
Streikbeteiligung an diesem Donnerstag, den
05. Dezember unter den Lehrkräften 70 % und
lag insgesamt bei 55 %, in Paris erreichte
sie dagegen insgesamt gar 78 % -; gestreikt
wurde jedoch auch in den Krankenhäusern,
aber auch in der Chemie- und der
petrochemischen Industrie und stellenweise
in der Stahlerzeugung. (Am Freitag, den
06.12.19 lag die Streikbeteiligung bei den
Lehrkräften lt. Zahlen des
Bildungsministeriums – die oft untertrieben
sind, ausgeklammert werden etwa Lehrkräfte
mit einem unterrichtsfreien Tag oder solche,
die ihre Streikerklärung auf einem falschen
Formblatt bei der Direktion einreichen… -
bei rund zehn Prozent. Neue Höhepunkte )
Am frühen Donnerstag
Nachmittag dann beginnt die Demonstration,
die vom Pariser Ostbahnhof (also von der
Gare de l’Est)
über die place de la
République
in Richtung place de Nation
(im Pariser Südosten) führen soll.
Glitzernde Helme tragende, streikende
Feuerwehrleute bahnen sich einen Weg durch
die Menge, ihnen wird applaudiert. Einige
Feuerwehrleute tanzen auf einem Gitter im
Dachgeschoss eines sieben- oder
achtstöckigen Wohngebäudes am Boulevard
Maganta, viele Blicke richten sich nach
oben. Krankenhausbeschäftigte tragen weiße
Blusen und Atemschutzmasken. Die CGT
(stärkste vertretene Organisation) und SUD
haben gut mobilisiert; es gibt auch einen
riesigen „Kopfblock“ (cortège
de tête)
vor den offiziellen Gewerkschaftsblöcken, wo
unter anderem auch Linksradikale
demonstrieren, die Schwarzvermummten sind
klar in der Minderzahl.
Hinzu kommen andere
Gewerkschaften in geringerer Anzahl, ganz am
Schluss läuft die französische
Sozialdemokratie, die Ex-Regierungspartei
unter François Hollande (unter 200 Personen;
gähn). Unterdessen wurde ein ungewollter
Gast, der sich angekündigt hatte,
glücklicherweise nicht gesichtet: Auf der
extremen Rechten hatte zwar Marine Le Pen –
stets um soziale Demagogie bemüht – ihre
angebliche „volle Unterstützung“ behauptet
und ihren Mitgliedern (in der Partei, wo
dieses Vorgehen umstritten ist und von
wirtschaftsliberalen Flügelkräften
angeprangert wird) „eine Teilnahme
freigestellt“. Ihre Partei, der
Rassemblement National (RN, „Nationale
Sammlung“), wurde jedoch absolut nicht
gesichtet, jedenfalls nicht in Paris;
Meldungen aus weiteren Städten gilt es
diesbezüglich auszuwerten.
Ein echter Mobilisierungserfolg
Mindestens eine Million
Demonstrierende in Frankreich, wo am
gestrigen Donnerstag in 250 Städten
protestiert wurden, lautet die Bilanz – das
ist für einen ersten Mobilisierungstag in
einer absehbaren Abfolge von Protestterminen
ein beachtlicher, ein gewaltiger Auftakt.
Auf 806.000 // vgl.
https://www.bfmtv.com/
// bezifferte am Abend
das französische Innenministerium ihre
Gesamtzahl, der Gewerkschaftsdachverband CGT
– als einer der Hauptveranstalter – sprach
// vgl.
https://www.nicematin.com
// von 1,5 Millionen.
Solcherlei Abweichungen zwischen
Veranstalter- und Polizeizahlen zählen in
Frankreich zu den Klassikern bei sozial- und
innenpolitischen Auseinandersetzungen.
Allgemein wird damit gerechnet, dass die
Zahl von einer Seite unter-, von anderer
Seite her übertrieben angegeben wird.
Florian Bachelier, Abgeordneter der
Regierungspartei LREM und einer der
Quästoren (eine Art
Parlaments-Vizepräsidenten) der
französischen Nationalversammlung, räumte
gegen 23 Uhr in einer Fernsehdebatte ein,
eine Million seien es wohl gewesen.
Wie geht es weiter?
Die entscheidende Frage
stellt sich nun ab dem heutigen Freitag:
jene der reconduction,
also der allüberall in Personalversammlungen
zu treffenden Entscheidung darüber, ob die
Basis den Arbeitskampf fortsetzen oder aber
abbrechen möchte. In vielen Bereichen, vor
allem bei der Eisenbahn und in anderen
Transportunternehmen, wird mit einer
Fortsetzung auch über den Wochenbeginn
hinaus gerechnet.
Bei der RATP, also den
Pariser Verkehrsbetrieben, wurde er am
Donnerstag Abend bereits bis mindestens
kommenden Montag, den 09. Dezember
verlängert. // Vgl.
https://actu.fr/// Es sei daran erinnert,
dass in Frankreich Lohnabhängige selbst über
ihre Ausübung des Streikrechts entscheiden –
nicht Gewerkschaftsvorstände wie in
Deutschland, wo Streiken ohne erklärte
gewerkschaftliche Unterstützung überdies als
rechtswidrig gilt, nicht so in Frankreich -,
allerdings auch kein Streikgeld erhalten,
sondern im Arbeitskampffalle auf ihr
Einkommen verzichten.
Auch in den Raffinerien
wurde, etwa im Raum Marseille, am Freitag
früh eine Fortführung des Arbeitskampfs
beschlossen. // Vgl.
https://www.laprovence.com
// Am Freitag mittag
befanden sich sieben von acht Raffinerien in
Frankreich im Streik. Zum selben Zeitpunkt
streikten 87,2 % der französischen
Lokführer/innen, das waren mehr als am
Vortag. // Vgl.
https://www.20minutes.fr//
Der Ausstand im
Transportwesen führt notwendig auch zu
Beeinträchtigungen – aus Arbeitgebersicht –
in anderen Wirtschaftszweigen, etwa zum
Fernbleiben oder Zuspätkommen von
Beschäftigten. Wer ein Auto nutzt, ist zwar
nicht auf die RATP angewiesen, steht dafür
dann jedoch absehbar im Stau. Am Donnerstag
war dieses Phänomen noch nicht derart
ausgeprägt, eben weil (vgl. oben) viele
abhängig Beschäftigte an diesem 05. Dezember
d.J. zunächst einmal einen Urlaubstag
genommen oder einen Tag Freizeitausgleich
angemeldet (oder einen Krankenschein
hinterlegt) hatten.
Wirklich spannend wird es
ab dem Beginn nächster Woche werden
bezüglich der Frage, wie es weitergeht. Dann
wird das eigentliche Kräftemessen beginnen,
wenn die Privatwirtschaft ernsthafte
Verlangsamungen verzeichnet.
Worum geht es in der
Sache?
Einmal wieder, einmal mehr wird in
Frankreich eine Renten„reform“ angekündigt.
Begriffe ändern Ihre Geschichte. Wurde vor
vierzig von „Reform“ gesprochen, dann wusste
man, dass das Gegenüber sich für
gesellschaftliche Veränderungen einsetzte,
für sozialen Fortschritt, ein besseres Leben
anstrebte – jedoch eine Revolution für
unnötig oder zu riskant hielt. Hört man
hingegen heute aus dem Fernseher oder aus
dem Radio, dass eine neue „Reform“
angekündigt wird, dann weiß oder ahnt man:
In naher Zukunft wird man bestohlen werden.
Nicht vierzig Jahre,
jedoch über ein Vierteljahrhundert ist es
her, dass in Frankreich am Rentensystem
herumgedoktert wird. Es geht heute um ein
weiteres Mal, ein weiteres „Reform“vorhaben
nach dem von 1993 – der „Balladur-Reform“ -,
nach der „Fillon-Reform“ von 2003 unter dem
damaligen Sozialminister François Fillon und
Präsident Jacques Chirac, nach der
„Woerth-Reform“ von 2010 unter der
Präsidentschaft Nicolas Sarkozys sowie der
„Touraine-Reform“ 2013/14 unter Präsident
François Hollande (und seiner
„Sozial“ministerin Marisol Touraine).
Einmal mehr soll, wenig originell, das
Eintrittsalter in die Rente angehoben
werden. Zuletzt war das Mindestalter von 60
auf 62 angehoben worden (2010), doch hatten
die bisherigen „Reformen“ vor allem an einer
anderen Stellschraube gedreht, nämlich
jener, die die Zahl der erforderlichen
Beitragsjahre zur Rentenkasse anhebt. Diese
betrug bis zu der rückschrittlichen „Reform“
unter Premierminister Edouard Balladur von
1993 noch 37,5 Jahre für alle Beschäftigten,
danach 40 Jahre in der Privatwirtschaft; mit
der ebenfalls regressiven „Reform“ von 2003
wurde sie nun auch in den öffentlichen
Diensten auf 40 angehoben, und mit jener von
2010 auf 41,5 Beitragsjahre für alle Lohn-
oder Gehaltsabhängigen. Seit der bislang
letzten so genannten „Reform“ von 2013/14
wird die Anzahl der Beitragsjahre, mit
Übergangsregelungen (die sich von 2020 bis
2035 hinziehen), sukzessive auf künftig 43
steigen.
Doch noch blieb bislang das offizielle
Renteneintrittsalter von 62, wie es 2010
eingeführt worden war (mit voller Wirkung ab
2018), unangetastet. Im europaweiten
Vergleich liegt es eher im relativ niedrigen
Bereich. Allerdings hat es auch bislang eher
einen theoretischen Gehalt. Denn wer weniger
als die erforderlichen Beitragsjahre
aufweist, muss entweder bis zum Alter von 67
(gültig seit 2017) mit der Pensionierung
warten, um eine volle Rente beziehen zu
dürfen, oder aber wird mit finanziellen
Abzügen an der Pensionszahlung bestraft.
Nunmehr soll das Minimalalter auf 64
angehoben werden. Darunter soll eine
Verrentung zumindest mit Strafabzügen
verbunden sein.
Zuletzt wurde in
Frankreich eine Renten„reform“ im Jahr 1995,
in Gestalt des so genannten „Juppé-Plans“ –
nach dem damaligen Premierminister Alain
Juppé benannt – durch eine mächtige
Streikbewegung verhindert. Durch das Kippen
der damaligen Regierungspläne wurde etwa das
Vorhaben gestoppt, die günstigeren
Sonderregelungen für die Rente in einzelnen
Bereichen, insbesondere bei den
Beschäftigten in Verkehrsbetrieben wie der
Eisenbahngesellschaft SNCF, aufzuhebeln.
Diese sollen nunmehr nach dem Willen der
aktuellen Regierung erneut angegriffen
werden: Die Rentenregelungen sollen für alle
Beschäftigten aneinander angeglichen werden,
allerdings „nach unten“, also im Sinne einer
Verschlechterung für alle. Dieses Vorhaben
wird von Regierungsseite im Namen von
„Gerechtigkeit“ und der „Abschaffung von
Vorrechten und Privilegien“ gerechtfertigt.
Doch schenkt man den Umfragen auch der
bürgerlichen Institute Glauben, dann gehen
zwei Drittel der Gesellschaft diesem
vordergründigen „Anti-Privilegien“-Diskurs
nicht auf den Leim, sondern lehnen seine
Kernaussage ab.
Ein weiteres Kernstück
der „Reform“, mit deren genauen Inhalten die
Regierung am liebsten nur scheibchenweise
herausrücken möchte – im September dieses
Jahres sollte sie bereits auf dem Tisch
liegen, doch dann entschied sich
Premierminister Edouard Balladur für
sukzessive Ankündigungen bis im Juni 2020 -,
besteht in der Neuberechnung der Rentenhöhe.
Diese hing bislang von
einem Parameter ab, welcher in der
Privatwirtschaft und in den öffentlichen
Diensten unterschiedlich ausfällt. In der
Privatwirtschaft wurde bis zur
„Balladur-Reform“ von 1993 ein Prozentsatz
(theoretisch 50 Prozent, aufgrund
zahlreicher Zusatzregeln real
durchschnittlich rund 70 Prozent) des Lohns
während der zehn Berufsjahre mit dem besten
Verdienst zur Berechnungsgrundlage genommen.
Der Grund lag darin, dass man davon ausging,
dass der Verdienst in den letzten
Berufsjahren zumeist am höchsten ausfällt –
jedenfalls besser als in den Anfangsjahren –
und dass man denen, die von der Arbeit in
Rente abgehen, keinen allzu starken Abfall
ihres Einkommensniveau zumuten dürfe.
Infolge der „Reform“ der Rechtsregierung aus
dem Jahr 1993 wurde diese
Berechnungsgrundlage auf die 25 „besten“
Berufsjahre, statt zuvor zehn, gestreckt;
dadurch sinkt der Durchschnittswert. In den
öffentlichen Diensten gilt die Regel, dass
die Berechnungsgrundlage im Gehalt der
letzten sechs Monate vor der Verrentung
liegt; von ihr ausgehend, werden 75 % des
zuletzt empfangenen Gehalts genommen. In den
öffentlichen Diensten liegen die Einkünfte
oft niedriger als in der Privatwirtschaft,
jedoch verlaufen die beruflichen Laufbahnen
meistens entsprechend relativ klar
vorgestanzter Linien von unteren in höhere
Lohngruppen, wenn dem keine negative
Benotung entgegensteht.
Die geplante neue
„Reform“ soll die Berechnungsgrundlage auf
die gesamte Berufskarriere strecken, also
künftig auf alle 43 erforderlichen
Beitragsjahre (möchte man ohne Abzüge in
Rente gehen), statt auf die 25 besten Jahre
im privaten Wirtschaftssektor respektive die
letzten sechs Monate bei den
Staatsbediensteten sowie
Kommunalangestellten. Dies bedeutet
selbstverständlich eine drastische Absenkung
der zu erwartenden Renten.
Zugrunde liegen soll
ihnen dann ein Punktesystem; pro
gearbeitetem Vierteljahr soll ein bestimmte
Anzahl an „Punkten“ angesammelt werden. Der
Clou dabei ist, dass der einem Punkt
entsprechende Geldwert jährlich vom
Parlament neu festgelegt werden soll.
Theoretisch - so kündigt es jedenfalls die
Regierung denen, die ihr Glauben schenken
wollen, an - geht es dabei um eine Anpassung
an die Lohnerhöhung für die aktive
Erwerbsbevölkerung, also eine Anhebung.
Nichts garantiert jedoch, dass es nicht,
etwa in Krisenzeiten oder auch wenn die
Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialkassen
gesenkt werden sollen, auch eine schlichte
Absenkung des Punkt-Wertes geben kann. Die
Regierung behauptet, dies sei nicht der
Fall, da jährlich die „Sozialpartner“ über
den Wert eines jeden „Punkts“ verhandeln
können sollen; die Regierung solle dies,
laut durchgesickerten Teilen der
„Reform“pläne, dann berücksichtigen. Nur:
Was ist, wenn ihre Verhandlungen ohne
Konsens ausgehen, wenn sie scheitern? Oder
wenn in Krisenjahren geschwächte
Gewerkschaften einer Absenkung von Löhnen
zustimmen?
Jean-Paul Delevoye,
Sonderberichterstatter der Regierung für die
Rentenpolitik, hat mündlich angekündigt, der
Kostenfaktor für die Rentenbevölkerung,
derzeit 14 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts, solle künftig auf
gleicher Höhe stabilisiert werden. Da jedoch
gleichzeitig die Anzahl der Senioren an der
Gesamtbevölkerung steigt, kann dies wohl nur
irgendwie funktionieren, wenn zugleich jede
und jeder einzelnen von ihnen künftig eben
weniger an Rente erhält.
Die Regierung ihrerseits
behauptet, ihr Vorhaben sei „sozial
gerechter“, weil dasselbe Punktesystem
künftig für alle gelte. Ansonsten müsse man
eben auch dem Umstand Rechnung trage, dass
die Bevölkerung im Durchschnitt länger lebe
als vor fünfunddreißig Jahren (eine
progressive Reform, die letzte ihrer Art,
hatte 1981/82 das Mindestalter für die Rente
auf sechzig abgesenkt), und deswegen müsse
man eben später in Rente. Aber: Um wie viel
stieg die Arbeitsproduktivität im selben
Zeitraum, wie viel Werte schafft ein/e
abhängig Beschäftigte/r heute an einem Tag
mehr als 1982?
Bislang war Frankreich
ein Land, in welchem die Altersarmut zwar
vorhanden, jedoch relativ schwach ausgeprägt
war, im Vergleich mit Nachbarländern wie
etwa Deutschland.
Nun wird befürchtet, dies könne sich mit dem
geplanten System umkehren. Es sei denn, die
Betroffenen greifen auf private
Absicherungen (neben der gesetzlichen Rente)
zurück und zahlen etwa in Rentenfonds ein,
die das Geld dann etwa in Börsengeschäften
anlegen, um zu versuchen, es zu wahren und
zu mehren. Genau dies dürfte auch zu den
strategischen Zielen der Regierung gehören.
„Zugeständnisse“?
Wenig zur Beruhigung der Lage geeignet…
Um dem Protest den Wind
aus den Segeln zu nehmen, kündigten zwei
französische Ministerien am Vorabend des
Streik(beginn)tags vom gestrigen Donnerstag
an, ihre Untergegeben vor solchen
Auswirkungen zu bewahren. Innenminister
Christophe Castaner verkündete am Mittwoch,
die Polizisten jedenfalls würde ihre eigene
Sonderregelung für die Rente bewahren //
vgl.
https://www.lefigaro.fr/
// – während alle anderen Sonderregelungen,
sofern sie günstiger ausfallen als die
gesetzliche Regelrente, eingestampft werden
sollen. Natürlich ging es dabei auch darum,
Personal für ein eventuelles repressives
Vorgehen gegen „ausufernde“ Proteste bei der
Hand zu haben, nachdem auch
Polizistengewerkschaften und
Personalvertreter zuvor eine Beteiligung an
den Protesten in Aussicht gestellt hatten.
// Vgl.
https://www.nouvelobs.com/s
//
Am Donnerstag waren
allein in Paris 6.000 Polizisten (und
Gendarmen) mobilisiert // vgl.
https://www.lefigaro.fr/
// , in ganz Frankreich
war die Hälfte aller überhaupt vorhandenen
Polizeieinheiten im Einsatz; dies war
jedenfalls geplant, im Anschluss dann wurde
die Zahl leicht eingedampft, auf 55 von 120
bis 130 existierenden Großverbänden. // Vgl.
https://www.marianne.net/
//
Die Pariser
Polizeipräfektur oder das Innenministerium,
die am Vortag eifrig öffentlich über den
erwarteten „schwarzen Block“ und erwartete
Randale schwadronierten – und damit wohl die
Auseinandersetzung auf dieses Terrain zu
verlagern versuchten -, erhielten jedoch
nicht, was sie jedenfalls laut Auffassung
vieler Opponenten erwartet hatten: eine (in
gewissen Grenzen) einkalkulierte und
erwünschte Randale als Vorwand etwa für eine
Auflösung der Demonstration. Zwar brannten
auf der place de la
République
gegen 15 Uhr mehrere Autos, und die
Rauchsäule war von weitem aus der
Demonstration heraus zu sehen. Die
Gewerkschaften (und ihre Ordnerdienste)
entschieden sich jedoch, trotz zeitweiliger
Unterbrechung der Demonstration inklusive
Tränengasregen (die rund anderthalb Stunden
lang zum Stehen kam, oder im Schritttempo
vorrückte und dann wieder vor dem Tränengas
zurückwich), für ihre Fortsetzung, die
danach auch relativ reibungslos verlief.
Zusätzlich reagierte das
Bildungsministerium auf alarmierende
Presseberichte, aus denen hervorging, dass
Lehrkräfte – diese werden in Frankreich
erheblich schlechter bezahlt als in
Deutschland – künftig durch die
Renten„reform“ bis zu 1.000 Euro monatlich
verlieren könnten, wie selbst kreuzbrave
Regionalzeitungen schrieben. //Vgl.
https://www.ouest-france.fr
// Prompt reagierte der
amtierende Bildungsminister Jean-Michel
Blanquer und kündigte an, diesen zu
erwartenden Verlust zu
„kompensieren“, und zwar durch 300 Euro
Gehaltsprämie… jährlich. Und dies „bereits
ab Januar 2021“ (yippie…). Hier wird das
regierungsoffizielle Verarmungsprogramm; im
Hinblick auf künftige Altersarmut, noch um
ein staatliches Verarschungsprogramm
ergänzt!
Dies steigerte die Wut
wahrscheinlich noch, da diese Ankündigung
durch die Betroffenen als Hohn betrachtet
wurde. Auch wenn der zynische alte Sack,
pardon: Herr Serge July – dereinst
maoistischer Aktivist im Mai 1968, dann
Herausgeber der sozialdemokratischen
Tageszeitung Libération,
später weiter nach rechts geglitten – sich
in einer Studiodebatte am späten Mittwoch
Abend im Privatfernsehsender BFM TV darüber
wehklagte, dass „zwei Minister
schon im Vorfeld des Streiks nachgegeben und
dadurch die Protestierenden ermutigt, zur
Radikalisierung animiert“
hätten: In Wirklichkeit ist der Zusammenhang
wohl eher ein anderer. Der junge Abgeordnete
der Linksfraktion (La France insoumise)
Adrien Quatennens stellte in einer
neuerlichen Studiodebatte beim selben Sender
am Donnerstag Abend den Zusammenhang wie
folgt dar: „Wenn zwei
Ministerien erklären, dass sie ihre
Beschäftigten vor den Auswirkungen der
Reform besonders schützen müssen, dann
widerlegt das den beruhigenden Diskurs der
Regierung, die behauptet, es gebe gar keine
negativen Auswirkungen.“
Vor Beginn der Proteste
zeigten sich 71 % der Französinnen und
Franzosen „besorgt“ über ihre Aussichten in
Sachen Rente. //
https://www.huffingtonpost.fr// Den Streik, oder eher Streikbeginn, an
diesem Donnerstag unterstützten, je nach
Umfrageinstitut, 58 bis 69 Prozent der
Befragten. //
https://www.bfmtv.com
und
https://www.lci.fr//
Dies sind ähnliche Proportionen wie im
Spätherbst 1995. Damals dauerte ein Streik,
der seinen Schwerpunkt in den
Verkehrsbetrieben SNCF (Eisenbahn) und RATP
hatte, jedoch auch andere öffentliche
Dienste erreichte, vom 24. November bis kurz
vor Weihnachten. Und endete mit der
Rücknahme des „Juppé-Plans“, mit dem damals
bereits das Rentensystem kahlrasiert werden
sollte. Dass sich ein ähnliches Szenario
wiederholen könnte – dies stellt den Wunsch
vieler Protestierender, und den Alptraum der
Regierung dar.
Am Freitag Vormittag
versammelten sich mehrere
Gewerkschaftsdachverbände – jene, die am
Streik & Protest teilnehmen oder ihn
unterstützen: CGT, FO, Union syndicale
Solidaires, der Zusammenschluss von
Bildungsgewerkschaften (die FSU) – am Sitz
des drittstärksten französischen
Dachverbands, Force Ouvrière
(FO) im 14. Pariser Bezirk. Die FO-Spitze,
als Gastgeberin, rief schon vor
Bekanntwerden der gemeinsamen Beschlüsse zur
Fortsetzung der Mobilisierung auf. Dem
schloss sich das gemeinsame Treffen, genannt
intersyndicale,
dann an. Nunmehr ruft die intersyndicale
zu weiteren zentralen Streik-, Aktions-,
Demonstrations- und Protesttagen am
Dienstag, den 10. Dezember und am
Donnerstag, den 12. Dezember 19 auf.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Beitrag
vom Autor für diese Ausgabe.
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