Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Neues vom Protest und der Repression12/2019
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CGT-Kollege kam am Montag frei – ‚Volxhaus‘ nach kurzer Zeit geräumt – Augenverlust eines Demonstranten vom Samstag, 16.11.19 führt zu wachsender Polemik – Urteil infolge von Attacke auf Polizisten vom Samstag - Diskussion darüber, warum die Behörden für den 05. Dezember 19 erneut die place d’Italie mit ihren Baustellen zum Auftaktort machen wollen: beabsichtigte Idiotenfalle für die dümmsten unter den Randalierern? – Die CFTC (christlicher Gewerkschaftsdachverband) verweigert einen Aufruf zum Streiktag am 05. Dezember d.J. – Rund eine Milliarde Euro für „Notmaßnahmen“ im öff. KrankenhauswesenArtikel vom Mittwoch, den 20. November 19
In einem Artikel vom Montag dieser Woche (vgl. nebenstehenden Beitrag: << Erster Jahrestag der „Gelbwesten“-Protestbewegung >> vom 18.11.19) berichteten wir darüber, dass der Kollege George Louis von der CGT und vom Front Social am Samstag früh um 7 Uhr – vor Beginn der Feierlichkeiten oder Unfeierlichkeiten zum ersten Jahrestag der „Gelbwesten“bewegung – festgenommen worden war. Bis im Laufe des Montag, 18.11.19, an welchem oben zitierter Artikel verfasst wurde, war die Öffentlichkeit und waren auch die Freundinnen und Freunde von George Louis im Unklaren darüber belassen, was ihm überhaupt vorgeworfen würde.
Inzwischen ist Louis am Montag (vgl. den Aufruf zur Solidarität anlässlich seiner richterlichen Anhörung: https://paris.demosphere.net/rv/74785) freigekommen. Mittlerweile ist „immerhin“ auch klar, worum es überhaupt ging. In der Vorwoche war bei Protesten eine Tür am Hochschulministerium in Paris eingerammt worden (erwähnt auch in unserem nebenstehenden Artikel: << Demonstration in Paris gegen antimuslimischen Rassismus >> ), und der Kollege soll dabei gewesen sein. Infolge seiner Anhörung am Montag, den 18. Nov. d.J. kam er nun frei. Näheres dazu wurde ansonsten bislang noch nicht öffentlich.
Im Laufe des Wochenendes (16./17.11.19) war überdies kurzzeitig das früher einmal alternative Sozialzentrum La Flèche d‘Or, heute weitgehend ein kommerzialisierter Konzertsaal mit angeschlossenem Café, im Pariser Nordosten (102, rue de Bagnolet) besetzt worden. Teile der „Gelbwesten“bewegung riefen dort eine maison du peuple aus, ungefähr zu übersetzen mit „Volxhaus“ (oder „Volkshaus“, doch das französische Wort le peuple ist bei weitem nicht mit dem deutschen „Volks“begriff identisch, sondern bezeichnet ein Bündnis der subalternen sozialen Klassen). Am Sonntag, den 17. November wurde es mit größeren Polizeieinheiten, die brachial vorgingen, geräumt. Dabei kam es, je nach Bilanz – es kursieren mehrere -, zu fünfzehn bis siebzehn Festnahmen. Die dabei Festgenommenen sind inzwischen jedoch, nach Identitätsfeststellungen, samt & sonders freigekommen, laut dem Verf. vorliegenden Angaben wohl auch ohne Strafverfahren.
Ein Teilnehmer an den „Gelbwesten“protesten am Samstag, den 16.11.19 in Paris, der 41jährige Leiharbeiter Manuel aus dem nordfranzösischen Valenciennes, verlor am vorigen Samstag, den 16.11.19 in Paris auf der place d’Italie ein Auge. Dies geschah am Rande der Auftaktsammlung zur (im Anschluss dann doch noch verbotenen) Demonstration. Im Unterschied zu den bislang 25 Menschen, die im Zusammenhang mit den „Gelbwesten“protesten seit nunmehr einem Jahr je ein Auge verloren, wurde er allerdings nicht durch ein Gummigeschoss vom Typ LBD 40 getroffen, sondern eine Tränengasgranate traf in mitten ins Gesicht. Videoaufnahmen, die seit dem gestrigen Dienstag (19.11.19) auch in bürgerlichen Fernsehsendern zu sehen sind, zeigen die Szene.
Wie viele Andere zählte auch er mit Bestimmtheit nicht zu der Idiotenfraktion, die sich schon seit dem späten Samstag Vormittag auf dem Platz an ihr Werk machte und etwa auch eine Bushaltestelle in Scherben schlug, sondern zu den zielgeleiteten Protestierenden. Vielmehr stand er, die Hände in den Hosentaschen und ruhig plaudernd, zusammen mit seiner Ehefrau in einer Gruppe auf der gegenüber liegenden Seite des ziemlich ausgedehnten Platzes. Die gesamte Gruppe war in Gespräche vertieft. Manuel war laut eigenen Angaben ein relativ erfahrener Demonstrant, der an mehreren Protestmobilisierungen der „Gelbwesten“ teilnahm und keine unnötigen oder unkalkulierbaren Risiken einging.
Mittlerweile hat sogar ein bürgerlicher Sensationssender (BFM TV) seit Dienstag Abend wiederholt ein Interview mit dem 41jährigen Manuel auf seinem Krankenbett – die Binde auf dem zerstörten linken Auge deutlich sichtbar im Bild – ausgestrahlt, und das öffentlich-rechtliche Fernsehen wiederum eines mit seiner Frau. (Vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/ und https://actu.orange.fr/ )
Diese Mal kocht die Empörung spürbar in breiteren Kreisen hoch als in vorausgegangen Fällen von Schwerverletzten, etwa mit dem Verlust eines Auges, im Zusammenhang mit den „Gelbwesten“protesten. Möglicherweise ist es gelungen, seinen Fall stärker zu „personalisieren“, das Opfer von Polizeigewalt ist also stärker persönlich auch in bürgerlichen Medien präsent und ruft dadurch stärkere Empathie hervor.
Viele Fragen und Kritik ruft – bis hinein jedenfalls in linksliberale Kreise – auch der Polizeieinsatz, im Zusammenhang auch mit den Behördenentscheidungen im Vorfeld der Protesttage am Wochenende des 16./17. November, hervor.
Kaum jemand rechtfertigt dabei das Vorgehen des dümmsten Teils der Vermummtenfraktion, die am Samstag, 16.11.19 eifrig tätig war. (Diese Feststellung gilt nur für Paris, aus anderen französischen Städten wurden im selben Zeitraum keine vergleichbaren Vorfälle vor.) Aus deren Reihen wurden unter anderem auch zum Löschen anrückende Feuerwehrleute attackiert, und Randalierende lieferten sich körperliche Reibereien mit ihnen; diese attackierten auch einen Waschsalon - in welchen sich zwei von ihren Kollegen abgeschnittene Polizisten geflüchtet hatten, in dem sich aber auch Kund/inn/en befanden - u.a. mit Bauzaunteilen als Rammböcken, und zertrümmerten eine Bushaltestelle.
Letzteres aus Sicht dieser Super„rebellen“ wohl, weil deren Glasscheiben durch die Werbefirma JC Decaux – tatsächlich ein übler Verein - systematisch als Werbefläche gemietet werden. Aufgrund solcherart rrrrrevolutionärer Heldentaten dürfen Pariser Angestellte nun im Regen auf den Bus warten, eine wirklich tolle und das Bewusstsein hebende Sache; von Solidaritätsadressen des Pariser Proletariats für die Zerstörer ist bislang nichts bekannt. Auch wurde bislang nicht publik, dass die vermummten Superhelden selbst beschlossen hätten, fortan nur noch in Baströckchen herumzuhüpfen, weil die T-Shirts, Hosen und Turnschuhe von gewöhnlich bösen Textilunternehmen kommen. Neben politischem Abenteurertum kommen bei solchen Superhelden allerdings sicherlich auch Adrenalinsteuerung und Alkohol hinzu.
Tatsache scheint aber auch zu sein, dass die polizeiliche Einsatzleitung (die Polizeipräfektur, die direkt dem Innenministerium untersteht) diese Situation wohl einkalkuliert hatte und mit ihr rechnen musste. Es war die Polizeipräfektur als Anmeldebehörde, die, nachdem sie die Champs-Elysées als Austragungsort für die (angemeldeten) Demonstrationen vom 16. November 19 verweigert hatte, die im südlichen Teil des Stadtgebiets gelegene place d’Italie als Auftaktort festgelegt hatte. Dieser Platz, rund um das Bezirksrathaus des 13. Pariser Arrondissement, wird jedoch derzeit von drei Baustellen geprägt. Reichlich Baumaterial steht und liegt herum. Auf den Champs-Elysées – als aus Sicht der Staatsmacht strategisch wichtigem Ort, in quasi unmittelbarer Reichweite des Elyséepalasts – war im Frühjahr 2019 bei größeren „Gelbwesten“-Terminen Sorge dafür getragen worden, dass in deren Vorfeld Baustellen versiegelt oder abgebaut werden. In diesem Falle passierte dies jedoch nicht. Als ob man den dümmsten Teil der Idiotenfraktion geradezu provozierend dazu einladen wollte, in ihrem Sinne tätig zu werden, auf dass die Sache auch nur ja schön aus dem Ruder laufen möge…
In diesem Sinne erklärte etwa auch der sozialliberale Bezirksbürgermeister des 13. Pariser Arrondissements, Jérôme Coumet – er lief 2017 vom Strauss Kahn-Flügel des Parti Socialiste zu den Macron-Unterstützer/inne/n über, vgl. https://www.lesechos.fr/, soll jedoch bei der Kommunalwahl im März 2020 die sozialdemokratische Pariser Rathauschefin Anne Hidalgo unterstützen - noch am Wochenende im TV, sich über die Festlegungen der Polizeibehörde zu wundern. Er nahm es sicherlich (jedenfalls in seinen öffentlichen Äußerungen) eher als Inkompetenz und Ungeschick wahr, wo man wohl ebenso gut eine kalkulierte Strategie der Provokation und der Spannung vermuten könnte. Wie viele Angehörige des sozialen Protestlagers es nun tun.
Und nun, Überraschung!: Die Demonstration vom 05. Dezember 19 – dem Tag, an welchem der Sozialprotest gegen die Renten„reform“ mitsamt Arbeitsniederlegungen seinen Auftakt nimmt – soll laut Auffassung der Polizeipräfektur die Demonstration wiederum… na, drei mal dürft Ihr raten?: von der place d’Italie aus beginnen. Na, wenn das keine echte Strategie darstellt… (Anmerkung: Mittlerweile konnte der Auftaktort jedoch in den Bereich des Pariser Nord- und Ostbahnhofs, die beide nahe nebeneinander liegen, verlegt werden.)
Einer der Beteiligten an dem Rammbock-Angriff auf einen Waschsalon (mitsamt zwei Polizisten, aber auch Kund/inn/en im Inneren) wurde am gestrigen Dienstag, den 19.11.19 zu einem Jahr Haft ohne Bewährung verurteilt. (Vgl. http://www.leparisien.fr/ und https://www.lefigaro.fr/ ) Es soll sich um einen 38jährigen handeln. Auf mindestens einer E-Mail-Liste einer Anti-Repressions-Liste wurde um Solidarität auch für ihn geworben und angekündigt, ihm reichlich Unterstützungspost in den Knast zu schicken. Einen Tritt in den Arsch hätte er wohl eher verdient…
Ansonsten in Kürze:
Im Hinblick auf die Sozialproteste, Arbeitskämpfe und Demonstrationen am bzw. ab dem 05. Dezember dieses Jahres differenzieren sich nun die Positionen der unterschiedlichen Gewerkschaften aus. Die CGT und Solidaires wird man zweifellos auf der Straße antreffen; eine klare Positonierung der (an der Spitze rechtssozialdemokratisch geführten) CFDT steht noch aus, diese eruiert die Entwicklung der Regierungspositionen. Als erster Gewerkschaftsdachverband entschloss sich nun die CFTC (Christenheinis), dezidiert nicht zum Sozialprotest ab dem 05. Dezember d.J. aufzurufen, sondern „den Dialog zu bevorzugen“; vgl. https://www.lefigaro.fr/flash-eco/la-cftc-n-appelle-pas-a-la-greve-le-5-decembre-20191119 (AFP-Meldung)
Am heutigen Mittwoch Vormittag wurde nun der „Notplan“ der französischen Regierung für das leidende, und seit Frühjahr d.J. regelmäßig streikende, öffentliche Krankenhauswesen verkündet. In Kurzfassung: Die Regierung möchte im Gesamtpaket eine Milliarde dafür ausgeben (Gesamtbudget des Sektors bislang: 80 Milliarden jährlich); Krankenschwestern und -pfleger sollen eine Prämie von jährlich 800 Euro zusätzliche erhalten, also im Jahresdurchschnitt rund 67 Euro pro Monat. Vertreter/innen des protestierenden Gesundheitspersonals forderten zeitgleich vier bis fünf Milliarden Euro für Personalmaßnahmen.
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe. Ende November 19, ursprünglich verfasst für die Zeitschrift Archipel.
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