Mitsamt eingebauter islamistischer Pseudo-Alternative
Algerien zwischen Massenprotestbewegung und Präsidentschafts„wahl“ des Regimes vom 12.12.19
von Bernard Schmid12/2019
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onlinezeitungWird das Feld der Möglichkeiten, das sich in den ersten Monaten dieses Jahres weit zu öffnen schien, nun durch die Machthaber in Algerien wieder jäh abgeschlossen? Danach strebt jedenfalls die amtierende Übergangsregierung unter Interimspräsident ‘Abdelkader Bensalah.
Letzterer war zunächst als vormaliger Parlamentspräsident in das Amt des Übergangs-Staatsoberhaupts gekommen, nachdem der vormalige Staatschef Abdelaziz Bouteflika (korrekte Transkription aus dem Arabischenb in internationaler Lautschrift: ‘Abdel’aziz Butefliqa) am 1. April 19 unter dem Druck von Massenprotesten seinen Abgang erklärte. Der schwerkranke Greis Bouteflika verzichtete damals auf eine erneute Kandidatur zu der ursprünglich zweieinhalb Wochen später geplanten Präsidentschaftswahl, die daraufhin abgesagt wurde. Bensalah hätte laut Verfassungstext nur drei Monate amtieren dürfen. Nachdem aufgrund anhaltender breiter Proteste keine politische Partei es wagte, Bewerber für den auf den 04. Juli dJ. terminierten nächsten Wahltermin zu benennen, musste auch dieser annulliert werden. Bensalah blieb zunächst auch ohne juristische Grundlage weiterhin im Amt.
Seitdem er am 15. September 19 nun die Abhaltung einer neuen Präsidentschaftswahl ankündigte und ihren Termin auf den 12. Dezember dieses Jahres festlegte, wächst der Druck der Machthaber auf die soziale und politische Protestbewegung - die ihrerseits „den Abgang der gesamten Oligarchie“ fordert, bevor sie eine solche Wahl akzeptieren möchte. Ansonsten, so wird in breiten Kreisen befürchtet, wird ein künftiger Amtsinhaber innerhalb weniger Monate eine innenpolitische „Normalisierung“ und eine Restauration des alten Regimes einleiten. Am 20. September d/J/ verhinderte erstmals ein enormes Polizei- und Armeeaufgebot die Anreise von Demonstranten aus anderen Landesteilen in die Hauptstadt Algier, und am 08. Oktober wurde zum ersten Mal versucht, den allwöchentlichen Mobilisierungstag der Studierenden – er findet immer Dienstags statt – per Verbot zu unterbinden.
Die Dynamik der Protestbewegung konnte dies nicht brechen. Am 1. November 2019, dem 65. Jahrestag des Beginns des antikolonialen Befreiungskrieg gegen Frankreich (1954-1962), war allein in Algier eine mindestens sechsstellige Zahl von Protestierenden auf den Straßen, und die Beteiligung wuchs gegenüber den vorausgegangenen Protestfreitagen seit dem Ende des Sommers wieder erheblich an. Auch die starke Frauenbeteiligung stach sichtlich ins Auge. „Es wird nicht gewählt“ wurde skandiert, oder „für eine neue Unabhängigkeit“ – gemeint: vom Regime -, „für eine neue Revolution“. Sprechchöre nahmen auch Übergangspräsident Bensalah dafür auf’s Korn, dass er Ende Oktober 19 beim Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi gegenüber Wladimir Putin behauptet hatte, er „versichere“ ihm, es sei in Algerien „alles unter Kontrolle“, es gebe nur noch ein paar Unzufriedene. Als „Beleidigung und Erniedrigung“ hatten diese Sprüche schon unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden, eine Woche vor dem Jahrestag, Zehntausende auf die Straße getrieben.
Am 25. September 19 verurteilte ein Militärgericht in Blida mehrere Politiker zu langjährigen Haftstrafen wegen Verbrechen gegen die Armee und die Nation. Zu ihnen zählten mehrere Figuren aus der Umgebung von Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika, die der Korruption auf hohem Niveau bezichtigt werden, wie dessen Bruder Said Bouteflika - aber auch die Chefin der oppositionellen „Arbeiterpartei“ PT, Louisa Hanoune, die durchaus ambivalente politische Beziehungen zum Boutefkika-Clan unterhielt. Ihre Verurteilung zu fünfzehn Jahren Haft sollte jedoch offensichtlich vor allem auch eine Warnung an die Adresse politischer Parteien darstellen, sich ruhig zu verhalten.
Eine heterogen zusammengesetzte Front aus Oppositionsparteien wie den beiden miteinander widerstreitenden Berberparteien FFS und RCD, den unterschiedlich ausgerichteten, ursprünglich trotzkistischen Parteien PT und PST, der durch eine Juristin angeführten Kleinpartei UCP und den ex-kommunistischen Splitterparteien MDS und PLD fordert zunächst eine „Übergangsperiode“ mit der Ausarbeitung neuer verfassungsrechtlicher Grundregeln. Diese Parteien werden Wahlen, die ohne eine Erfüllung dieser Vorbedingung stattfinden, boykottieren. Hinzu kommt ein Zusammenschluss von „Organisationen der Zivilgesellschaften“ wie Menschenrechtsvereinigungen und unabhängigen Gewerkschaften – außerhalb des faktischen Staatsgewerkschaftsverbands UGTA -, die am 15. Juni und 06. Juli d.J. jeweils größere gemeinsame Konferenzen abhielten. Einer der beiden landesweiten Zusammenschlüsse unabhängiger Gewerkschaften, die CSA, rief am 1. Oktober dJ. die Lohnabhängigen dazu auf, sich mit Arbeitskampfmaßnahmen massenhaft an der Oppositionsfront zu beteiligen. An einem Streiktag am 28. Oktober 19 beteiligten sich vor diesem Hintergrund zahlreiche Beschäftigte vor allem im Bildungswesen, in Krankenhäusern und anderen öffentlichen Diensten.
Die Machthaber ihrerseits grenzen das offiziell akzeptierte politische Feld nun wieder erheblich ein, indem sie herausfilterten, welche Kräfte zur geplanten Präsidentschaftswahl – deren reales Stattfinden jedoch Gegenstand eines Kräftemessens mit der Protestbewegung werden dürfte – zugelassen werden. Bereits im Oktober dieses Jahres hatten 115 Kandidaten ihr Interesse angemeldet. Zugelassen wurden, wie am Samstag, den 02. November d.J. bekannt wurde, durch die Wahlbehörde jedoch nur fünf Bewerber. Zwei ihnen sind frühere Premierminister unter Abdelaziz Bouteflika - ‘Ali Benflis und ‘Abdelmadjid Tebboune -, ein dritter war bis im März dieses Jahres sein Kulturminister. Hinzu kommen ein Funktionär einer regimenahen Kleinpartei, die sich von der faktischen Staatspartei FLN (Nationale Befreiungsfront) abspaltete, und der Islamist Abdelkader Bengrina. Letzterer ist selbst ein früherer Minister in den Jahren 1997 und 1999, ein Teil seiner Amtszeit als Tourismusminister fiel in die Anfangsphase der Präsidentschaft Abdelaziz Bouteflikas, welcher am 15. April 1999 gewählt wurde; Bengrina, der damals zur institutionell-islamistischen Parei MSP/Hamas gehörte, hockt noch bis im Dezember 1999 in der Regierung. Aktuell zählt er zu der fünfzehnköpfigen Parlamentsfraktion, die aus den drei islamistischen Parteien El-Bina (der Aufbau), En-Nahdha (Renaissance) und Adala (Gerechtigkeit) gebildet wurde; diese besteht neben der Fraktion der ebenfalls noch existierenden Partei MSP/Hamas.
Bereits am 10. Juli 19 hatten die Abgeordneten der beiden Staatsparteien FLN und RND („Nationale demokratische Sammlung“) – die letztgenannte Partei entstand 1997 als FLN-Abspaltung – einen Vertreter dieser islamistischen Koalition aus El-Bina/En-Nahdha/Adala, den Herrn Slimane Chenine, zum Präsidenten der Nationalversammlung gekürt. Und dies,obwohl seine Fraktion keine fünf Prozent der Sitze dort einnimmt. (Nachträgliche Anmerkung: Zum Auftakt seines Wahlkampfs, Mitte November d.J., in Tindouf wurde Bengrina durch die örtliche Bevölkerung ausgebuht und ausgepfiffen, sein dortiger Auftritt wurde zum Desaster. Vgl. https://www.tsa-algerie.com/video-abdelkader-bengrina-hue-par-la-population-a-tindouf/ und https://www.reflexiondz.net/Abdelkader-Bengrina-hue-par-des-citoyens-a-Tindouf_a58798.html)
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe. Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien am 07. Nov. 19 in der Wochenzeitung ‚Jungle World‘. Nähere Einzelheiten folgen demnächst.