DDR implodiert - Druckhaus Norden kaputt
Wie die Belegschaft des westberliner SED-Betriebs im Winter 1989/90 für ihre Arbeitsplätze kämpfte

Ein Bericht, vorgelegt auf dem Parteitag der SEW am 16.2.1990

12/2019

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Nach der Öffnung der DDR-Grenzen traten am 13.11.1989  Büro und Sekretariat der SEW zurück. Ein geschäftsführender Ausschuss sollte einen a.o. Parteitag für Januar 1990 einberufen. In dieser Zeit begann die Abwicklung des SED-eigenen Druckhauses Norden in Westberlin, gegen den sich die Belegschaft zur Wehr setzte. Ohne Erfolg, denn die ideologische Krise wurde von der finanziellen abgelöst. Die von der SED noch 1989 mit 13 Millionen DM finanzierte SEW erhielt 1990 nur noch 800.000 DM. Nicht nur das Druckhaus Norden wurde liquidiert, sondern alle hauptamtlichen Funktionäre entlassen und sämtliche Büroräume gekündigt.

Auf dem a.o. Parteitag im Februar 1990, wo auch der nachstehende Bericht vorgelegt wurde, konnte wegen fehlender 2/3 Mehrheit die SEW nicht aufgelöst werden. Auf dem nächsten a.o. Parteitag im April 1990 benannte sich die SEW in "Sozialistische Initiative" (SI) um, die sich Ende Juni 1991 auflöste. / khs

Abschlussbericht der SEW-Untersuchungskommission

1. Der Untersuchungsauftrag

Gemäß dem Beschluß des Parteivorstandes vom 6. Dezember 1989 ist die Untersuchungskommission zu dem Zweck eingesetzt worden, die "finanziellen Verhaltnisse und Verantwortlichkeiten" in den Betrieben "Verlag Zeitungsdienst Berlin GmbH", "Druckhaus Norden GmbH", "Gründel Grundstücksgesellschaft mbH" sowie "T.V.O. Treuhand - Verwaltungs- und Organisations Gmbh" offenzulegen. Insbesondere sollte geklärt werden, ob Mitglieder der SEW Gesellschafterinnen dieser GmbHs sind und "inwieweit sie im Auftrag der jeweiligen Parteiführungen seit Gründung der SEW als selbständiger Partei gehandelt haben." In den Untersuchungsauftrag einbezogen wurde auch die "Verantwortlichkeit der Parteiführung". Der PV-Beschluß erfolgte auf Antrag der Parteigruppe "Neue Zeitung", weil die Genossinnen Inge Kopp und Dietmar Ahrens lange Jahre den Eindruck erweckten, als stünden "Zeitungsdienst" und "Druckhaus" unter maßgeblichem Einfluß der Partei, dies jetzt aber in Zusammenhang mit der Einstellung der "Neuen Zeitung" bestritten. Die in der Redaktion Arbeitenden hatten bekanntlich wegen des Verweises auf den parteinahen Charakter dieser Betriebe darauf verzichtet, einen Betriebsrat einzurichten, und sie hatten auch nicht auf die Einhaltung gesetzlicher und tarifrechtlicher Vorschriften durch die Geschäftsführung geachtet.

2. Zusammensetzung der Kommission

Die Kommission besteht aus den Mitgliedern des Gruppenvorstands der Parteigruppe "Neue Zeitung" (in diesem Falle: Fritz Axnick, Siegbert Gruchot, Andreas Hamann, Gerhard Seyfarth, Gisela Starke), den PV-Mitgliedern Thomas Gerchel, Doris Hensen, Ernst Welters sowie aus den Genossinnen der Redaktion Dankwart August und Renate Hinz. Aufgrund seiner besonderen Verpflichtungen in der SEW konnte Ernst Welters in der Kommission nicht tätig werden.

3. Arbeit der Kommission

Die Kommission führte vom 7.12.1989 bis zum 12.2.1990 acht Sitzungen durch. Sie befragte die Genossinnen und Genossen Dietmar Ahrens (amtierender Parteivorsitzender), Inge Kopp (stellvertretende Parteivorsitzende), Volker Junge (zuletzt als Mitglied des Büros und des Sekretariats zuständig für die "Wahrheit" bzw. "NZ"), Klaus-Dieter Heiser ("Wahrheit"-Chefredakteur bis 30.11.1989), Joachim Näther (Mitglied der Revisionskommission) und Irene Matusche (bis zu ihrem Parteiaustritt Mitglied der Revisionskommission) sowie Irmgard Neumann (Buchhalterin im PV). Die Genossen Werner Neumann, Werner Girke und Konrad Krüger verweigerten unter Berufung auf von ihnen zu wahrende Geschäftsgeheimnisse die Auskunft. Werner Neumann erklärte zusätzlich, daß er sich nicht an den PV-Beschluß gebunden fühle. Weiter nahm die Kommission Einsicht in allgemein zugängliche Unterlagen (Handelsregister) sowie in die vom "Zeitungsdienst" ausgestellten Rechnungen für den Parteivorstand .

Keine Antwort erhielt die Untersuchungskommission von der bei der SED eingerichteten Untersuchungskommission, an die sie sich in einem Schreiben mit der Bitte um Unterstützung gewandt hatte. Auch die Parteigruppe des Druckhauses Norden leistete der Kommission keine Hilfe.

4. Eigentumsverhältnisse

4.1. Druckhaus Norden
Die Druckhaus Norden GmbH (Stammkapital 1,1 Mio. DM) war minde­stens bis zum 22.12.1989 eine hundertprozentige Tochter der Zei­tungsdienst Berlin, Verlags- und Druckerei-Gesellschaft mbH. Mit Beschluß der Gesellschafterversammlung vom 27.9.1985 wurde der Verlagskaufmann Werner Kark Neumann zum Geschäftsführer bestellt. Werner Neumann ist SEW-Mitglied.

4.2. Zeitungsdienst Berlin
Die Zeitungsdienst Berlin Verlags- und Druckerei-Gesellschaft mbH (Stammkapital seit Anfang 1982: 1,5 Mio. DM) wird laut Beschluß der Gesellschafterversammlung vom 27.9.1985 vom Geschäftsführer Werner Neumann geleitet. Laut Handelsregister sind 100 Prozent des Stammkapitals der Zeitungsdienst Berlin im Besitz der Organisation und Verwaltung Aktiengesellschaft (ORVAG AG) mit Sitz in Zürich (Schweiz), Bahnhofquai 11.

4.3. Gründel Grundstücksgesellschaft mbH
Alle Geschäftsanteile der Gründel Grundstücksgesellschaft mbH sind seit Frühjahr 1984 im Besitz der ORVAG AG. Das Stammkapital der Gesellschaft beträgt laut Handelsregister Berlin (HRB 8758) 350 000 DM. Geschäftsführer ist der Diplomvolkswirt und Diplom­kaufmann Konrad Krüger. Krüger ist Mitglied der SEW. Prokurist der Gesellschaft ist Werner Girke.
Laut Auskunft des Grundbuchamts beim Amtsgericht Tiergarten ist die Gründel Grundstücks GmbH Besitzerin des Grundstücks Kaiserin-Augusta-Allee 101 (1000 Berlin 21, Sitz von Druckhaus Norden, Zei­tungsdienst und NZ-Redaktion). Der gleichen Gesellschaft gehört laut Auskunft des Katasteramts des Bezirksamts Charlottenburg das Grundstück Schustehrusstr. 10/Wilmersdorfer Str. 165 (1000 Berlin 10, Sitz des Parteivorstandes der SEW). Die Gründel Grundstücks GmbH gehört - laut Auskunft des Grundbuchamts beim Amtsgericht Tempelhof/Kreuzberg - ebenfalls das Grundstück Hasenheide 47 (1000 Berlin 61, Wohnhaus). Weitere Liegenschaften konnte die Kommission nicht ermitteln.

4.4. TVO
Die T.V.O. Treuhand - Verwaltungs- und Organisations-Gesellschaft mbH (Stammkapital 50 000 DM) ist eine hundertprozentige Tochter der ORVAG AG. Die 1976 gegründete TVO verwaltet die der Gründel GmbH gehörenden Grundstücke. 1981 war Werner Neumann fünf Monate lang Geschäftsführer der TVO, bis er von Werner Girke abgelöst wurde. Werner Girke ist Mitglied der SEW. Prokurist ist Konrad Krüger.

4.5. Orvag AG
Laut Handelsregister des Kantons Zürich (Eintrag vom 16.12.1983) verfügt die ORVAG AG über ein Aktienkapital von 500 000 SFr (500 Inhaberaktien zu SFr 1000). Einziges Mitglied des Verwaltungsrats der ORVAG AG ist der Rechtsanwalt Dr. Georg Lechleiter, wohnhaft in Zürich, El.eonorenstr. 2. Am 17.8.1989 bestellte Lechleiter den Kaufmann Werner Girke aus Berlin-West zum Generalbevollmächtigten und zum Liquidator der ORVAG AG in den Angelegenheiten des "euro­päische buch Literatur Vertrieb GmbH". Girke hat die Generalvoll­macht auch für die TVO. Er setzte in seiner Eigenschaft als Be­vollmächtigter der ORVAG AG 1985 Werner Neumann als Geschäftsfüh­rer des Zeitungsdiensts ein.
Ein Georges Lechleiter, Mitglied des ZK der Partei der Arbeit der Schweiz, war Gast des VIII. Parteitags der SEW im Mai 1987 (Proto­koll, S. 9).

4.6. Angaben der bürgerlichen Presse
Am 11.2.1984 berichtete die "Welt" zum ersten Mal über die "Grau­zone kommunistischer Unterwanderungsstrategie", die "verschach­telte Finanz- und Immobilienkette der 'Sozialistischen Einheits­partei'". Nach Ansicht der "Welt" liefen alle Fäden bei der Abtei­lung Finanzen und Parteibetriebe im SED-Zentralkomitee zusammen. Als Grund für diese Vermutung diente der Zeitung der Umstand, daß RA Friedrich Karl Kaul auch nach seinem Tode (1981) noch 1983 auf dem Papier als Vorstandsmitglied der "Svenska Västfisk Export AB" mit Sitz in Göteborg, Schweden, figurierte. Västfisk war damals eine Tochter der Orvag und Eigentümerin des Grundstücks Kaiserin-Augusta-Allee 101.
Drei Jahre später, am 15.12.1987, griff die "Welt" einen Streit­fall im Haus Hasenheide 47 (s.u.) auf, um noch einmal die Ver-schachtelungen in aktualisierter Form darzustellen. Wie auch 1984 bezeichnete die Zeitung die Abteilung Finanzen und Parteibetriebe im ZK der SED (geleitet zunächst von Karl Raab, danach von Heinz Wildenhain; Stellvertreter: Otfried Geisler) als verantwortlich für die finanziellen Transaktionen, ohne jedoch einen schlüssigen Beweis vorlegen zu können.
Im Spätherbst 1989 wurde Heinz Wildenhain in der DDR verhaftet, weil er an der Vernichtung von Akten beteiligt war. Anfang Februar 1990 erfolgte sein Ausschluß aus der SED-PDS. Genauere Nachweise über die Verbindungen zwischen der SED-Abteilung und den genannten Firmen konnten die bürgerlichen Medien bisher jedoch nicht erbrin­gen.
In zwei Berichten des "Spiegel" (Nr.47/1989 und Nr. 50/1989) über die Aktivitäten der "Kommerziellen Koordinierung" tauchen weder die ORVAG AG noch die SED-Abteilung Finanzen und Parteibetriebe auf. In einer späteren Ausgabe (3/1990) werden aber "KoKo" (Regie­rungsstrang) und ZK-Abteilung Verkehr (Parteistrang) als eng mit­einander verknüpft handelnd dargestellt. In welchem Verhältnis die Abteilung Verkehr und die Abteilung Finanzen und Parteibetriebe zueinander stehen, wird nicht behandelt. Weiter heißt es dort, aus der von Karl Raab in Luxemburg gegründeten "Gesellschaft für die Förderung des Presse- und Verlagswesens" (bis 10.11.1986 Alleinbe­sitzerin des Zeitungsdiensts Berlin GmbH; zu diesem Zeitpunkt ist die Orvag nur Geschäftsführerin der Luxemburger Gesellschaft) habe sich eine Finanz- und Immobilienkette zwischen Schweden und der Schweiz entwickelt, die von Wildenhain inspiziert worden sei. In einer anderen Ausgabe (6/1990) nennt der "Spiegel" die "Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe der SED" als eigentlichen
"Arbeitgeber" von Werner Neumann.

5. Beziehungen der SEW zu den genannten Firmen

Bei Befragungen der Genossinnen Dietmar Ahrens und Inge Kopp durch die Kommission ergaben sich widersprüchliche Aussagen über die politische Abhängigkeit der genannten Firmen.

Sowohl Inge Kopp als auch Dietmar Ahrens bestritten, daß ein anderes als ein Geschäftsverhältnis zwischen Verlag und PV besteht. Dietmar Ahrens stellte dar, daß Druckhaus und Verlag mitten im kalten Krieg ihre Arbeit aufnahmen und die Partei froh war, daß es überhaupt eine Zeitung gab. In jener Situation habe auch die Regel gegolten: Je weniger ein Genosse weiß, desto weniger kann er verraten. Aus diesen und anderen Gründen habe er sich nicht um die konkrete Finanzierung des Zeitungsdiensts und des Druckhauses gekümmert. Außerdem sei die Geschäftsleitung der Unternehmen mit Parteimitgliedern besetzt worden, die eine vernünftige Koordinie­rung der Interessen sicherstellen sollten.
Einerseits erklärten beide Genossinnen übereinstimmend, daß ihnen die Gesellschafter der genannten Firmen nicht bekannt seien. Inge Kopp sagte (am 12.12.1989), sie wisse auch nicht, inwieweit die Genossen Neumann, Girke und Krüger in welche geschäftlichen Zusam­menhänge eingebunden seien.

Andererseits erklärte sie (am 8.12.1989), das Sekretariat des Par­teivorstandes der SEW habe bei Einstellungen für die Redaktion der Zeitung eine "politische Empfehlungskompetenz" gegenüber dem Zei­tungsdienstverlag gehabt. Die Gehaltshöhe für Redakteurinnen sei im Sekretariat festgelegt worden. Der Zeitungsdienstverlag habe für die Herstellung der Zeitung (incl. redaktioneller Arbeiten) stets eine Pauschalsumme verlangt, unabhängig von der Zahl der be­schäftigten Redakteurinnen, auch während der Zeiträume, als dem Sekretariat des PV bekannt war, daß mehrere Planstellen in der Re­daktion unbesetzt waren. Die Rechnungen des Zeitungsdiensts wurden ohne jede Prüfung von Einzelposten immer bezahlt. Ob schriftliche Verträge über die Herstellung der Zeitung existierten, sei ihr nicht bekannt, sagte Inge Kopp.
Widersprüchliche Aussagen erhielt die Kommission bei Nachfragen nach den konkreten Umständen der 1985 erfolgten Ablösung von Karl Troeder als Geschäftsführer von Druckhaus und Verlag durch Werner Neumann. Inge Kopp erklärte, sie könne sich nur erinnern, über den Wechsel informiert worden zu sein. Sie könne sich nicht daran er­innern, was dem zugrunde lag. Im Sekretariat habe es darüber keine Diskussion und keinen Beschluß gegeben. Demgegenüber erklärte Dietmar Ahrens, er sei vor der Abberufung von Karl Troeder darüber informiert gewesen. Die Initiative dazu sei aus dem Parteivorstand gekommen.
Im Gegensatz zu der Äußerung von Inge Kopp, sie habe keine Kennt­nis von den Zusammenhängen bei den genannten Firmen gehabt, steht die Aussage einer ehemaligen Genossin (Name ist der Kommission be­kannt) gegenüber dem Kommissionsmitglied Renate Hinz. Danach gab es 1987 einen Konflikt im Haus Hasenheide 47 zwischen der Gründel Grundstücksgesellschaft (vertreten durch Werner Girke, Prokurist, bzw. Konrad Krüger, Geschäftsführer) und Mieterinnen des Hauses. Nach mehreren Gesprächen im Kreisbüro Kreuzberg (die ehemalige Ge­nossin war damals Vorsitzende der WPG 29, Girke ihr Stellvertre­ter) kam es am 26.11.1987 zu einer Unterredung zwischen Inge Kopp und der ehemaligen Genossin, bei der Inge Kopp von einem Interview des SFB mit den beiden Mieterinnen stark abriet und den Ratschlag erteilte, abends Girke anzurufen. Wenige Tage später kam es uner­wartet zu einem Einigungsangebot der Gründel Grundstücksgesel1-schaft. Ganz offenbar lag hier eine direkte Einflußnahme von Inge

Kopp auf geschäftliche Angelegenheiten der Gründel GmbH vor. Der von der Kommission angeschriebene Untersuchungsausschuß der SED antwortete nicht auf unser Schreiben, so daß auch von dort keine Klärung möglich war.

Daß die Existenz der Zeitung (und damit des Zeitungsdiensts und des Druckhaus Norden) im Jahr 1989 mehrfach gefährdet war, weil die SED-Führung damit drohte, ihre Hilfe einzustellen, bestätigte in einem Gespräch mit der Kommission Volker Junge, früher Mitglied des Büros und des Sekretariats des PV der SEW. In Zusammenhang mit der China-Berichterstattung der "Wahrheit" (Veröffentlichung der PV-Resolution, Leserbriefe etc.) erging eine kurzfristige Einla­dung zu einem Gespräch mit dem damaligen ZK-Sekretär für interna­tionale Beziehungen, Hermann Axen, an dem der amtierende SEW-Vor-sitzende Dietmar Ahrens und Volker Junge teilnahmen. Axen habe eine (letztlich nicht erfolgte) Änderung der Berichterstattung verlangt, andernfalls sei die "solidarische Unterstützung seitens der SED gefährdet". (Dieses Gespräch ist nicht zu verwechseln mit dem offiziellen Treffen einer Delegation des SEW-Büros mit Hermann Axen, das auf mehreren PV-Tagungen eine Rolle spielte.) Am 19. September 1989 kam es zu einem weiteren Gespräch im ZK der SED, an dem von Seiten der SED der stellvertretende Leiter der Ab­teilung Internationale Politik und Wirtschaft, Hans-Georg Schu­ster, teilnahm. Dieser nahm den Aufmacher in der "Wahrheit" vom Vortag (Überschrift: "DDR-Kirchen fordern Dialog und Reform") zum Anlaß, um von Dietmar Ahrens und Volker Junge in anmaßender Weise eine andere Veröffentlichungspolitik zu verlangen. Ähnlich wie bei der China-Problematik hieß es, wenn der Kurs so weitergehe, werde man nicht in der Lage sein, die "Solidarität der SED fortzuset­zen" .

Bereits im November 1988, so berichtete der ehemalige "Wahrhelt"-Chefredakteur Klaus-Dieter Heiser gegenüber der Kommission, habe der damalige SEW-Vorsitzende Horst Schmitt die Veröffentlichung des zweiten Teils eines sowjetischen Beitrags über Chrustschow un­tersagt. Heiser mußte nach eigener Darstellung bei dem Gespräch, an dem neben Horst Schmitt auch der vormalige Chefredakteur Heinz Grünberg teilnahm, den Eindruck gewinnen, daß die SED ultimativ eine Kursänderung verlangt hatte, nachdem die "Wahrheit" eine Reihe von Perestroika/Glasnost-ArtikeIn veröffentlicht hatte.

6. Bewertungen

6.1. "Das Imperium"

Bei der Klärung der Besitzverhältnisse ist die Kommission nicht weiter als bis zur ORVAG AG, einer anonymen Aktiengesellschaft, vorgedrungen. Die Kommission hat den Eindruck, daß auch die Genos­sinnen Dietmar Ahrens und Inge Kopp überhaupt nicht an einer rest­losen Aufklärung der Besitzverhältnisse interessiert sind. Der Kommission stellt sich die Frage, inwieweit derartige Ge­schäftskonstruktionen noch ihre Berechtigung besitzen. Sicher war es nach den Erfahrungen mit dem KPD-Verbot 1956 legitim, das Par­teivermögen so abzusichern, daß es unter keinen Umständen dem Zu­griff des bürgerlichen Staates anheim fällt. In der Praxis sind die Firmen Zeitungsdienst, Druckhaus Norden, Gründel, TVO fremder Kontrolle unterstellt, dem Zugriff der SEW entzogen. Das Druckhaus Norden figurierte zum Schluß als "gewöhnlicher kapitalistischer Betrieb", so die Aussage von Werner Neumann auf einer NZ-Redaktionsversammlung. Dessen ungeachtet hatte die SEW - im Rahmen des Beziehungsgefüges zur SED - nachweisbar Einfluß auf diese Firmen in den Fragen der Auswahl der Redakteure für die ParteiZeitung, der Bestimmung der Gehaltshöhe und der Urlaubsdauer für diese Redakteure, der Berufung des Geschäftsführers von Zeitungsdienst und Druckhaus Norden.

Insbesondere mußte es befremden, daß Zeitungsdienst Berlin, Druckhaus Norden und Gründel Grundstücksgesellschaft auch in der Binnenstruktur wie ganz normale kapitalistische Betriebe geführt wurden. Im Zeitungsdienst existierte nicht einmal ein Betriebsrat. Initiativen zu einem emanzipatorischen kollektiven Betriebskonzept starteten weder die wirklichen Eigentümer noch die SEW-Führung. Die politische Chance, hier beispielgebend für Westberlin selbstbestimmte Entscheidungsstrukturen der Beschäftigten zu entwickeln (vergleichbar etwa den Alternativprojekten von Selbsthilfegruppen im linken Spektrum Kreuzbergs), wurde vertan. Der Widerspruch, daß im Druckhaus Tariflöhne gezahlt wurden, während die in der Redaktion Beschäftigten eine niedrigere Vergütung als "Parteiarbeiter" erhielten, blockierte überdies Bemühungen der Betroffenen zu solidarischen Beziehungen zwischen den Beschäftigten.

Aufgrund der uns bekannten Tatsachen muß davon ausgegangen werden, daß die im Besitz der Orvag befindlichen Firmen letztlich über die DDR kontrolliert wurden. Der Verlag Zeitungsdienst Berlin und das Druckhaus Norden wurden in erster Linie deshalb gegründet und betrieben, um die Herausgabe der Parteizeitung "Die Wahrheit" abzusichern. Es wäre sicher nicht sinnvoll gewesen, die Herstellung der SEW-Zeitung über eine andere Druckerei in Westberlin abzuwickeln, obwohl es vermutlich billiger gewesen wäre. Aber zumindest bis Mitte der 70er Jahre war eine Enteignung kommunistischer Organisationen in Westberlin nicht auszuschließen. Es ist deshalb verständlich, daß die SEW zumindest bis zu diesem Zeitpunkt nicht das* Eigentum an den betreffenden Firmen angestrebt hat. Auch die Rechtsform und der Sitz der Unternehmen erschienen unter diesem Gesichtspunkt keinesfalls als kritikwürdig. Jedoch eröffnet die Verschleierung der wirklichen Besitzverhältnisse Spekulationen Tür und Tor: so stellte die "taz" am 1.2.1990 die Vermutung auf, hinter der Orvag stünde Schalck-Golodkowski. Gründe für diese Vermutung führte die "taz" nicht an.

Sondervotum Dankwart August und Renate Hinz:  Faktisch hat die SEW-Führung niemals wirklich souverän entschieden. Sie befand sich vielmehr ohne Kenntnis ihrer Mitglieder in voller Abhängigkeit von der SED, die ihrerseits bis in einzelne Personalentscheidungen hinein den Ausschlag gab. Bereits spätestens seit dem Bau der Mauer war diese Verknüpfung mit der SED völlig obsolet geworden. Insofern waren die gewählte Eigentumsstruktur und die entsprechende Rechtsform der Unternehmen schon in den 60er Jahren durchaus kritikwürdig. Es ist vollends unverständlich, daß die ausschlaggebenden Kräfte des SEW-Apparates, die allein über die reale Situation informiert waren, noch in den 70er Jahren nicht das Eigentum an den betreffenden Firmen angestrebt haben.

Die Kommission hält es für einen schweren politischen Fehler, daß die SEW-Führung seit Beginn der 70er Jahre (Abschluß des Vierseitigen Abkommens) bis heute keinerlei Anstrengungen unternommen hat, um eine eigene materielle Basis für die Herausgabe der Zei­tung und anderer Publikationen zu schaffen und zu diesem Zweck den Zeitungsdienst und das Druckhaus Norden in Eigentum der SEW zu überführen. Parteiintern wurde der falsche Eindruck erweckt, es handle sich de facto um Parteibetriebe. In der Öffentlichkeit wurde niemals offensiv und mit aller Deutlichkeit dargestellt, daß es sich eben nicht um SEW-Betriebe handelt. Folge davon ist, daß die Handlungsweise von Werner Neumann (sozial völlig ungerechtfer­tigte Kündigungen; Drohungen gegen den Betriebsrat; Versuche, Betriebsversammlungen zu verhindern) das Ansehen der gesamten Par­tei insbesondere in den Gewerkschaften schwer schädigt.

6.2. Geschäftsgebaren

Das Geschäftsgebaren der Leitungen von Druckhaus und Verlag weist einige Merkwürdigkeiten auf. So stellte der Verlag Zeitungsdienst dem Parteivorstand der SEW Rechnungen aus, die jeder normale Mensch und jede normale Firma zurückweisen würden. In diesen mo­natlichen Rechnungen wurden die Kosten für die Herstellung der Ta­geszeitung "Die Wahrheit" vermengt mit denen für die Herstellung der viermal jährlich erscheinenden Zeitschrift "Konsequent" und nur eine Pauschalsumme angegeben. Nicht einmal eine Aufspaltung in Sach- und Personalkosten wurde vorgenommen. [Laut Rechnung Nr. 4573 des Zeitungsdiensts vom 30.11.1989 wurden "Für die Herstel­lung der Tageszeitung 'Die Wahrheit' im Monat November 1989 (Nr. 252 bis Nr. 274) und die Herstellung der Zeitschrift 'Konsequent'" 657.129,07 DM plus 7 % MWSt 45.999,03 DM, insgesamt 703.128,10 DM gefordert.] Der Parteivorstand bzw. sein Sekretariat konnten also überhaupt nicht kontrollieren, ob die angegebene Summe betrüge­risch oder realistisch war.

Aus den Kreisorganisationen der SEW und auch aus befreundeten Or­ganisationen gab es häufig Klagen über zu höhe Preise des Druck­haus Norden. Die VVN/VdA vergab daher den Druckauftrag für ihr Ma­gazin "Der Mahnruf" an ein anderes Unternehmen. Durch das Nichterscheinen von Werner Neumann, Werner Girke und Konrad Krüger konnte beispielsweise nicht geklärt werden, was mit der Differenz-Summe geschah, die bei den Pauschalzahlungen des PV für "Die Wahrheit" und "Konsequent" entstanden sein muß in den Mo­naten, als mehrere Planstellen für Redakteure nicht besetzt waren. Um dies korrekt feststellen zu können, hätte Werner Neumann nur die Bruttolohn-Listen und die Bilanzen der letzten Jahre der Kom­mission vorlegen müssen. Der Kommission lagen weder Bruttolohn-Li­sten noch Bilanzen von Zeitungsdienst und Druckhaus Norden vor. Werner Girke hat durch sein Nichterscheinen dazu beigetragen, daß die von der bürgerlichen Presse dargelegten Geschäftsverflechtun­gen zwischen der SED und Betrieben im westlichen Ausland auch im Zusammenhang mit der Gründel Grundstücksgesellschaft und der SEW weder dementiert, kommentiert oder bestätigt werden können. Inwieweit die Orvag als sogenannte Geldwaschanlage für die SED oder als KapitalVernichtungsanlage benutzt wurde, konnte nicht ge­klärt werden, da die dazu notwendigen Bilanzen, Bruttolohn-Listen, Spendenbelege u.a. Unterlagen der Untersuchungskommission nicht vorlagen und Werner Neumann, Werner Girke sowie Konrad Krüger nicht gewillt waren, die Kommission zu informieren.

6.3. Verantwortung des PV

Die Kommission stellt fest, daß von den Verantwortlichen im PV über die Jahre der Existenz der SEW hinweg keine Anstrengungen gemacht wurden, um die genannten Firmen aus ihren ominösen Konstruktionen zu lösen und direkt oder indirekt der Partei zu unterstellen. Zugleich wurde die SEW in ihrer übermaßigen Abhängigkeit von Spenden, hauptsächlich von der Spenderin SED, belassen (von 12,8 Mio. DM Parteieinnahmen 1988 stammten 8,5 Mio. DM aus Spenden). Diese Spenden waren ihrerseits notwendig, um die sehr hohen laufenden Ausgaben für die Herausgabe der Tageszeitung (monatlich rund 700 000 DM), den großen hauptamtlichen Funktionärsapparat (2,7 Mio. DM 1988) und für die Unterhaltung großzügig bemessener Räume in allen zwölf Bezirken zu decken. Selbst aus den offiziellen Angaben für den Präsidenten des Abgeordnetenhauses ergibt sich, daß der Eigenfinanzierungsgrad der SEW bei rund 30 Prozent der Ausgaben gelegen hat.

Die Verantwortlichen im PV haben weiterhin nie Anstrengungen gemacht, um Berichte in bürgerlichen Medien (wie in der "Welt") zu dementieren.

Die Verantwortlichen im PV sowie auch die Revisionskommission haben weiter nie die Ausfertigungsart und die Höhe der Rechnungen des Zeitungsdienstverlages beanstandet, obwohl - wie oben geschildert - für außerordentlich hohe Beträge außerordentlich simple Rechnungen vorgelegt wurden. Die Kommission konnte nicht klären, ob die/der Verantwortliche im Sekretariat des PV angewiesen war, alle Rechnungen zu akzeptieren. Die Aussage von Inge Kopp, es seien Pauschalzahlungen vereinbart worden, konnte mit keinem Dokument belegt werden. Ein solches Verhalten ist nur verständlich, wenn den zuständigen Funktionären unterstellt wird, sie hätten die Zahlungen in dem Bewußtsein geleistet, der eigentliche Geldgeber -also die SED - werde die Kontrolle über die sachgemäße Verwendung seiner Mittel schon ausüben. Die Kommission weist zugleich auf den Umstand hin, daß die Buchhalterin im PV auch die Ehefrau des Zeitungsdienst-Geschäftsführers ist.

In Bezug auf Druckhaus und Zeitungsdienst eröffnet die jetzige Situation Möglichkeiten für politische Machenschaften, die von der SEW nicht zu beeinflussen sind. So verweigert die Geschäftsleitung des Zeitungsdiensts "aus datenschutzrechtlichen Gründen" die Herausgabe der "Konsequent"-Abonnentenadressen an die Redaktion der Zeitschrift, obwohl ein entsprechender Beschluß des SEW-ParteiVorstandes (des Herausgebers der Zeitschrift) vorliegt. Gleichzeitig hat der Verlag Zeitungsdienst Berlin zugunsten der DKP-Zeitung "uz" die Adressen der "NZ"-Abonnenten für den Versand von Werbeexemplaren benutzt.

Im Verlauf der Entwicklung einer neuen Konzeption zur Ablösung der "Wahrheit" durch eine andere Zeitung sind Anfang 1989 in einer Unterkommission Vorschläge für ein anderes Finanzierungskonzept sowie zur Kontrolle des Finanzgebarens der Geschäftsleitung des Zeitungsdiensts entwickelt worden. Dietmar Ahrens versprach damals die Einbeziehung dieser Vorschläge in die praktische Tätigkeit und bat, von einer Aufnahme der entsprechenden Passagen in das Papier der vom PV eingesetzten Arbeitsgruppe abzusehen. Real hat sich jedoch nichts ereignet.

7. Konsequenzen

Werner Neumann, Werner Girke und Konrad Krüger haben die ganze Zeit über mit ihrem Verhalten bezeugt, daß sie nicht gewillt sind, sich Beschlüssen der SEW und ihres Parteivorstandes unterzuordnen.

Damit haben sie gegen das Statut der SEW verstoßen, das festlegt: "Gefaßte Beschlüsse werden einheitlich von allen verteidigt und diszipliniert durchgeführt. Die Minderheit ordnet sich der Mehrheit unter." (1,2) Wegen dieses schweren Verstoßes gegen das Statut bittet die Untersuchungskommission den Parteivorstand, laut Punkt 19 des Statuts ein Parteiverfahren gegen Werner Neumann, Werner Girke und Konrad Krüger einzuleiten mit dem Ziel des Ausschlusses aus der SEW. Werner Neumann hat nicht nur gegen das Statut verstoßen, sondern auch das Ansehen der Partei in der Öffentlichkeit schwer geschädigt (siehe 6.1.), woraus sich ein weiterer Ausschlußgrund ergibt.

Weiter unterstützt die Kommission den Beschluß der Kreisdelegiertenkonferenz von Tiergarten, in dem die Gesellschafter des Druckhaus Norden aufgefordert werden, "an die Belegschaft mit einem Verhandlungsangebot über eine schuldenfreie Übergabe des Betriebes an diese heranzutreten".

Die Kommission lenkt die Aufmerksamkeit der Parteitagsdelegierten auf den Umstand, daß die Firmen Gründel und TVO weiterhin existieren und ihrem eigentlichen Besitzer Gewinne einbringen.

Vorgelegt auf dem Parteitag der SEW am 16.2.1990

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