Stellungnahmen zu den Riots in Frankreich
Der Aufstand der Gelbwesten


von Sophia Slamani

12/2018

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In Frankreich haben Massendemonstrationen der sogenannten „Gelben Westen“ die gesamte politische Landschaft erschüttert. Um was für eine Bewegung handelt es sich dabei? Was sind ihre Ziele? Und welche Aufgabe haben linke und revolutionäre Kräfte in dieser Situation – in Frankreich und hierzulande?

Am 17. November wurden in allen Regionen mindestens 2.500 Straßenkreuzungen und Mautstraßensperren gemeldet, an denen laut Polizei mindestens 300.000 „Gelbe Westen“ teilgenommen haben. Am 24. November fanden erneut zahlreiche Aktionen mit mehr als 100.000 Teilnehmer*innen statt, mit 1.600 Blockaden in allen Regionen. Am 1. Dezember gab es wieder einen großen Tag von Mobilisierungen und Blockaden, die Zielscheibe einer sehr starken Repression mit 66.000 eingesetzten Polizist*innen in ganz Frankreich waren – einem Polizeiaufgebot, das es seit 1968 nicht mehr gegeben hat. Es hat hunderte Schwerverletzte und sogar eine Tote – eine 80-jährige Rentnerin wurde im Fenster ihrer Wohnung von einer Tränengasgranate getroffen – gegeben. Und doch waren die Polizeikräfte in ganz Frankreich weitgehend von den Massen überwältigt, die die Nase voll vom Präsidenten der Reichen haben und das mit ihrem Slogan „Macron, Rücktritt!“ zeigten. Unter den Protestierenden waren auch Tausende von Schüler*innen und Student*innen in ganz Frankreich. Für den 8. Dezember werden erneute Massendemonstrationen erwartet.

Woher kommt die Bewegung?

Tatsächlich wurde diese Bewegung nicht von einer Partei oder Gewerkschaft initiiert. Sie wurde vollständig aus sozialen Netzwerken aufgebaut und entstand ursprünglich aus der Ablehnung einer neuen Erhöhung der CO2-Steuer auf Kraftstoffe, die im europaweiten Vergleich in Frankreich am höchsten ist.

So hat die Bewegung der „Gelben Westen“ die empfindlichste Front für die Macron-Regierung eröffnet und ist seitdem immer radikaler geworden. Am Morgen des 07. Dezembers gingen Arme, Prekäre, Arbeitslose und Renter*innen erneut in Scharen auf die Straße.

Die organisierte Arbeiter*innenbewegung und die Linke waren von dem spontanen und spektakulären Aufkommen des Klassenkampfes völlig überrascht. Das zeugt von den Spuren, die 30 Jahre neoliberale Hegemonie, der Rückzug der Arbeiter*innenbewegung und der Verrat der Führung gewerkschaftlicher und politischer Organisationen hinterlassen haben. Als Beweis dafür weigern sich die Gewerkschaftsführungen heute, einen Generalstreik zu fordern, weil die Mobilisierungen angeblich von Rechten manipuliert werden.

Es gibt zweifellos rechte Wähler*innen in den Reihen der Gelben Westen, doch weder sind sie die bestimmenden Kräfte, was die Führung angeht – im Gegenteil ist die Bewegung aktuell eher führungslos –, noch bestimmen sie die Zusammensetzung der Bewegung. Es gibt auch kleine Kapitalist*innen, die Teil der Bewegung sind, doch in ihrer großen Mehrheit handelt es sich um unorganisierte Arbeiter*innen, die sich außerhalb der der traditionellen gewerkschaftlichen Routine bewegen.

Es stimmt, dass wir sagen können, dass die Gelben Westen-Bewegung sich nach links oder rechts entwickeln könnte. Aber die Heterogenität und Verwirrung der Gelben Westen-Bewegung ist keine Ausnahme, sondern eine Regel, wenn es um die Momente geht, in denen Massensektoren nach langen Zeiten des ideologischen Niedergangs handeln. Revolutionär*innen werden auch hierzulande mit Sicherheit in ähnliche Prozesse eingreifen müssen. Das Schlimmste wäre, Angst vor diesen Elementen der Verwirrung, der Unreife, ja sogar reaktionären Vorurteilen dieser Massen zu haben.

Der soziale Hintergrund der Proteste

Denn die Wut der „Gelben Westen“ ist längst nicht nur ein Donnerschlag bei ansonsten ruhigem Wetter. Sie ist vielmehr das Ergebnis tiefer Widersprüche, die sich in den letzten Jahren angesammelt haben. Seit seiner Wahl im Mai 2017 hat Macron daran gearbeitet, alle untergeordneten Schichten der Gesellschaft anzugreifen, indem er die Ausbeutungsrate der Arbeiter*innen weiter und weiter vergrößerte.

Die von der Macron-Regierung angekündigte Kraftstoffsteuer wird vor allem die Bewohner*innen von Randgebieten belasten, die keine andere Wahl haben werden, als weiterhin mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Sie bleibt für alle gleich hoch, macht also keinen Unterschied zwischen den Reichsten und den Ärmsten, wie z.B. die Mehrwertsteuer es auch nicht tut. Damit gilt sie schon jetzt als die ungerechteste Steuer für die Bevölkerung.

Die Französ*innen sind aber sehr wohl bereit, Steuern zur Finanzierung öffentlicher Güter zu zahlen – solange sie diesen auch tatsächlich dienen. Doch tun sie das nicht: Krankenhäuser und Postämter werden geschlossen und tausende Arbeitsplätze in Bildung und Gesundheit abgebaut, während die Lebenshaltungskosten steigen. Nun beschweren die Leute sich, dass die Regierung Menschen, die bereits jetzt darum kämpfen, am Ende des Monats noch genügend Geld zu haben, auffordert, den Gürtel noch enger zu schnallen.

Ein berechtigter sozialer Ärger also, wenn wir sehen, dass das Geld der Steuerzahler*innen für die Subventionierung von Unternehmen ausgegeben wird, während die Arbeitslosenquote in den letzten 30 Jahren immer bei etwa 10 Prozent lag und fast 13 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Während die Regierung den Militärhaushalt bis 2025 Kosten in Höhe von 300 Milliarden Euro zusagt, die unter anderem für die Bekämpfung des Aufstandes der Gelben Westen auf der Überseekolonie La Réunion verwendet werden,verfolgt sie Steuerhinterziehungen, die in Frankreich etwa 80 Milliarden Euro jährlich betragen, nicht. Gleichzeitig erzielen multinationale Konzerne wie TOTAL Milliarden von Euro und zahlen auf diese keine Steuern.

Die Frage der Ökologie

Hinzu kommt, dass Frankreich seit mehreren Jahren Europameister ist, was die Gewinne von großen Aktienunternehmen betrifft: fast 45 Milliarden Euro allein im Jahr 2017. Diese Geschenke an die Reichen wurden durch die Machtübernahme von Präsident Macron noch vergrößert, der auch die Vermögenssteuer großzügig abschaffte. Die über 500 Millionen Euro Kraftstoffsteuer werden nicht für den ökologischen Umbau, sondern zur Deckung des Defizits im Haushalt 2019 nach der Abschaffung der Vermögenssteuer verwendet werden, wie ein Brief der französischen Regierung an die EU beweist.

Die Regierung und die Medien haben demgegenüber versucht, die Bewegung einfach als Kriminellen und Vandalen zu diffamieren. Mit diesen Bemerkungen wollen sie die Bewegung entpolitisieren und diskreditieren während die Gewalt von der Polizei ausgeht, die allein am 1. Dezember Hunderte von Schwerverletzte und sogar Tote zu verantworten hatte. Tatsächlich beschließt Macron nur dann, über Ökologie zu sprechen, wenn er eine zusätzliche Steuer auf die Bevölkerung erheben will.

Diese Kraftstoffsteuer ist daher nicht nur sozial ungerecht, sondern auch ökologisch ineffizient. Während die Reichen weiterhin das Recht auf Vernichtung und Verschmutzung genießen, werden die Armen dafür bestraft.

Frankreich tanzt auf einem Vulkan. Nach den nächsten Mobilisierungen werden wir wissen, ob ein Ausbruch vermieden werden kann. Emmanuel Macrons Ansprache zur Umweltfrage hat die Ziele nicht erreicht, die Unterstützung der Französ*innen für die Gelben Westen hat nicht nachgelassen und nichts von dem Zorn, der in wenigen Wochen zum Ausdruck gekommen ist, wurde gelindert. Die Regierung hatte keine andere Wahl, als die Erhebung dieser Steuer zu streichen. Dies ist jedoch nicht genug, weil die Forderungen der gelben Westen nun viel weiter gehen. Sie fordern auch beispielsweise die Erhöhung der Reichtumssteuer und des Mindestlohns.

Wie geht es in Frankreich weiter?

Wie sich die Bewegung entwickelt hängt vor allem davon ab, wie die Linke und die Gewerkschaften in ihr intervenieren. Es wird notwendig sein, die Faschist*innen und die opportunistische Bourgeoisie aus den Reihen der Gelben Westen zu entfernen und dass die Arbeiter*innenbewegung die Führung der Bewegung mit ihren eigenen Forderungen übernimmt. Tatsächlich braucht es mehr als eine Neonweste und Blockaden an Kreisverkehren. Es braucht Selbstorganisation, Streiks, Besetzungen von Raffinerien, Fabriken, Bahnhöfen usw., um den Generalstreik, die totale Lähmung der Wirtschaft, durchzuführen.

Daniela Cobet, Mitglied der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), sagt: „Der einzige Weg, all diese Probleme zu lösen, besteht darin, die Bewegung von unten demokratisch zu strukturieren und zu organisieren. [Und zwar] durch Vollversammlungen und lokale Aktionskomitees, die entscheiden, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wie man sich für die Bewegung ausspricht und sich mit anderen lokalen Komitees abstimmt. Diese lokalen Aktionskomitees würden auch dazu beitragen, die Einheit mit anderen Sektoren zu stärken, die den Kampf gegen die Macron-Regierung teilen, wie z.B. mit Studierenden, die gegen die Selektion an den Universitäten und die Erhöhung der Studiengebühren kämpfen“.

Diese Komitees werden bereits eingerichtet und koordiniert. Im Moment enthält die Forderungsliste der Gelben Westen, die an die Regierung gerichtet ist, äußerst progressive Punkte wie die Erhöhung des Mindestlohns, das Ende der Leiharbeit, Altersrenten, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Kopplung der Löhne an die Inflation, die Begrenzung prekärer Verträge, mehr Steuern für Großunternehmen usw.. Es ist daher verbrecherisch, wenn die Gewerkschaftsführungen keinen Generalstreik ausrufen und ihre Politik der Zusammenarbeit mit Kapital und Regierung fortführen.

Die Regierung hofft, dass die Bilder der Zusammenstöße und die bevorstehenden Feierlichkeiten zum Jahresende zum Aussterben dieser Bewegung führen werden – die Gewerkschaftsbürokratien hoffen höchstwahrscheinlich dasselbe. Wenn die Arbeiter*innenbewegung insgesamt das Gleiche denken würde, wäre das ein großer Fehler. Obwohl die extreme Rechte bisher noch marginal ist, wartet sie darauf, diese Bewegung zu überfallen und hofft, dass keine antikapitalistische Perspektive entsteht. Wir werden sie enttäuschen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass sich der Zorn der Massen nicht nur gegen diese obszöne Regierung der Reichen wendet, sondern auch den Weg für eine antikapitalistische Offensive ebnet, die die Emanzipation durch die Arbeiter*innenklasse bringt.

Die Bewegung hat inzwischen schon mehrere Beispiele dafür gegeben, dass Rechtsextreme von Gelben Westen abgelehnt wurden. Besonders beeindruckend waren die Ereignisse des 1. Dezember, an dem sich das Kollektiv Adama Traoré mobilisierte – eine antirassistische Initiative gegen Polizeigewalt –, das die armen Vororte und armen Schichten sowie die Studierenden, die gegen die Selektion an der Universität kämpften und vor allem die klassenkämpferischen Eisenbahner*innen aufforderte, sich zu erheben. „Wenn wir Eisenbahner*innen heute hier sind und dazu aufgerufen haben, den Gelben Westen beizutreten, dann deshalb, weil wir uns in dieser Bewegung zur Verteidigung der öffentlichen Dienste, zur Erhöhung des Mindestlohns gegen die hohen Lebenshaltungskosten wiedererkennen“, erklärte Anasse, Eisenbahner während einer Rede. „Unsere Koordinierung hat eine ähnliche Geschichte wie die [der] Gelben Westen. Während des Eisenbahnstreiks hatten wir genug von dieser Gewerkschaftsbürokratie, die uns einen starren Zeitplan vorgab und mit dem Premierminister Edouard Philippe über sozialen Rückschritt verhandeln wollte, während wir unsere Löhne opferten“. Im Bewusstsein des Misstrauens der Gelben Westen gegenüber den Gewerkschaftsapparaten fügte er hinzu: „Wir verstehen, dass der Begriff Gewerkschaft nicht verstanden wird als der einfache Gewerkschafter, der Prolet, der bei der CGT oder unter einem anderen Banner organisiert ist […]. Was wir zum Kotzen finde, und zwar auch wir als Gewerkschafter*innen, ist diese Gewerkschaftsbürokratie, die die Arbeiter*innenbewegung, die Streiks, die Arbeiter*innen, die auf Streikposten sind, verrät“.

Wann wird es in Deutschland und im übrigen Europa Solidarität geben?

Nach einigen Wochen nahmen die Schüler*innen und Studierenden an der Bewegung teil: Hunderte Schulen und mehrere Universitäten wurden besetzt. Diese Sektoren haben eine lange Kampftradition und sind in höherem Grade organisiert als die Gelben Westen. Ihre Forderungen gehen jedoch Hand in Hand. Sie können daher eine Allianz schaffen, in der sie eine zentrale Rolle spielen können.

In Deutschland haben wir vielleicht halb so viel Arbeitslosigkeit wie in Frankreich, aber das liegt daran, dass wir, mit prekären Verträgen wie Minijobs, von denen 80 Prozent von Frauen besetzt sind, doppelt so prekär sind. Hier leben fast 13 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Wir haben eine Krise im Gesundheitswesen und der gesamte öffentliche Sektor steht unter Sparzwang, was zu einem riesigen Mangel an beispielsweise Kitaplätzen führt. Ganz zu schweigen von den Lebensbedingungen der Geflüchteten, der ökologischen Krise, der polizeilichen Repression und der imperialistischen und kriminellen Politik des deutschen Staates.

Als Studiernde haben wir auch genügend Gründe, um gemeinsam mit Arbeiter*innen zu kämpfen. Ist es nicht an der Zeit, dass sich Arbeiter*innen, Studierende, Frauen, LGBTI*Qs, und Migrant*innen in Solidarität mit den Gelben Westen erheben und endlich eine antikapitalistische Bewegung in Deutschland anstoßen?

Quelle: http://lowerclassmag.com  / 07. Dezember 2018 / Der Text erscheint demnächst in „Streik:Organ“ Nr.1/Dezember 2018, dem Magazin der Hochschulgruppe organize:strike.