Stellungnahmen zu den Riots in Frankreich
Aufruf zur Bildung von Volksversammlungen
der Gelben Westen von Commercy

übersetzt und kommentiert von "Gelbe Westen Dortmund"

12/2018

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onlinezeitung

Seit über zwei Wochen haben die Gelben Westen hunderttausende von Menschen in ganz Frankreich auf die Straße gebracht, viele davon zum ersten mal in ihrem Leben. Die Erhöhung der Kraftstoffpreise war der Funken, der das Land in Brand gesetzt hat. Das Leiden, der Überdruss und die Ungerechtigkeit waren noch nie so verbreitet. Im Moment organisieren sich überall im Land hunderte lokaler Gruppen mit ganz unterschiedlichen Herangehensweisen.

Hier in Commercy an der Maas organisierten wir uns von Anfang an mit täglichen Volksversammlungen, in denen jeder und jede gleichberechtigt teilnimmt. Wir haben Blockaden in der Stadt, vor Tankstellen und auf Landstraßen organisiert. Inmitten einer Menschenmenge haben wir eine Hütte auf dem zentralen Platz errichtet. Wir finden uns hier tagtäglich ein, um uns zu organisieren, über kommende Aktionen zu entscheiden, mit Leuten zu diskutieren und diejenigen aufzunehmen, die sich der Bewegung anschließen. Wir organisieren auch „Soli-Küchen“, um schöne Momente zusammen zu erleben und damit zu beginnen, uns kennen zu lernen. Und das alles auf der Grundlage von Gleichheit.

Aber nun schlagen uns die Regierung und gewisse Fraktionen der Bewegung vor, Repräsentant*innen für jede Region zu ernennen! Soll heißen, Leute, die dann die einzigen „Ansprechpartner*innen“ der Behörden wären und die unsere Diversität verschwinden lassen würden.

Aber wir wollen keine „Repräsentant*innen“, die zwangsläufig damit enden, an unserer Stelle zu sprechen!

Wozu das eigentlich? In Commercy hat eine kurzfristig zusammengestellte Delegation den Unterpräfekten getroffen, in größeren Städten haben Delegationen direkt mit dem Präfekten geredet: Diese haben bereits unsere Wut und unsere Forderungen zum Ausdruck gebracht. Die Präfekten wissen bereits, dass wir entschlossen sind, diesem Präsidentenhai ein Ende zu bereiten, dieser hassenswerten Regierung und dem vergammelten System, das sie repräsentieren!

Es ist klar, dass das der Regierung Angst macht. Denn sie weiß, dass sie, wenn sie anfängt, bei den Steuern und den Treibstoffen klein bei zu geben, auch bei den Rentner*innen, den Arbeitslosen, dem Status der Beamt*innen und dem ganzen Rest Zugeständnisse machen müssen wird! Sie weiß auch SEHR GUT, dass sie es riskiert, EINE ALLGEMEINE BEWEGUNG GEGEN DAS SYSTEM zu intensivieren!

Die Regierung möchte keine „Repräsentant*innen“, um unsere Wut und unsere Forderungen besser zu verstehen: Sie möchte uns eingrenzen und beerdigen! Wie bei den Gewerkschaftsführungen, sucht sie nach Leuten, mit denen sie verhandeln kann. Auf die sie Druck ausüben kann, um den Ausbruch zu beruhigen. Leute, die sie sofort vereinnahmen und dazu drängen kann, die Bewegung zu spalten, um sie zu zerstören.

Aber dabei haben sie die Kraft und die Intelligenz unserer Bewegung nicht berücksichtigt. Sie haben nicht bedacht, dass wir sehr wohl in der Lage sind, zu reflektieren, uns zu organisieren, unsere Aktionen, die ihnen dermaßen Angst einjagen, weiterzuentwickeln und die Bewegung auszuweiten!

Und vor allem beachten sie dabei eine sehr wichtige Sache nicht, die die Bewegung der Gelben Westen überall in verschiedenen Formen eingefordert hat und die weit über die Kaufkraft hinaus geht! Diese Sache, das ist die Macht des Volkes, durch das Volk und für das Volk. Das ist ein neues System, in dem „diejenigen, die nichts sind“, wie sie mit Geringschätzung sagen, sich die Macht von denjenigen zurückholen, die sich mästen, von den Manager*innen und den Mächten des Geldes. Das ist die Gleichheit. Das ist die Gerechtigkeit. Das ist die Freiheit. Das ist es, was wir wollen! Und das geht von der Basis aus!

Wenn wir „Repräsentant*innen“ und „Sprecher*innen“ wählen, endet es damit, dass wir passiv gemacht werden. Schlimmer noch: Wir werden schnell dazu gebracht, das System zu reproduzieren und von vorn bis hinten so zu funktionieren wie die Schurken, die uns regieren. Diese so genannten „Volksvertreter*innen“, die sich die Taschen füllen, die Gesetze machen, die unser Leben verschlechtern und die den Interessen der Ultrareichen dienen!

Legen wir nicht unsere Finger in das Getriebe von Repräsentation und Vereinnahmung. Das ist nicht der Moment, um unsere Stimme an ein kleines Häuflein zu übertragen, auch wenn dieses ehrlich erscheint. Entweder, sie hören uns allen zu oder sie hören niemandem zu!

Wir rufen daher dazu auf, überall in Frankreich Volkskomitees wie in Commercy zu schaffen, die als regelmäßige Vollversammlungen funktionieren. Orte, an denen die Stimme sich befreit, wo wir es wagen, uns auszudrücken, einander mitzureißen und beizustehen. Wenn es dort, also auf der Ebene jedes lokalen Volkskomitees, Delegierte braucht, so höchstens in der Nähe der Stimme des Volkes. Mit imperativen, widerruflichen und rotierenden Mandaten, mit Transparenz und Vertrauen.

Wir rufen auch dazu auf, dass die hunderten von Gruppen der Gelben Westen sich eine Hütte wie in Commercy verschaffen, oder ein „Volkshaus“ wie in Saint-Nazaire, kurz: einen Ort, um sich zu versammeln und zu organisieren! Und dass sie sich auf lokaler wie auf regionaler Ebene untereinander in völliger Gleichheit koordinieren!

Auf diese Weise werden wir gewinnen, denn damit können die Oberen nicht umgehen! Und das macht ihnen sehr Angst.

Wir werden uns nicht regieren lassen. Wir werden uns nicht spalten und vereinnahmen lassen.

Nein zu Repräsentant*innen und selbsternannten Sprecher*innen! Holen wir uns die Macht über unser Leben zurück! Es leben die Gelben Westen in ihrer Vielseitigkeit!

ES LEBE DIE MACHT DES VOLKES, DURCH DAS VOLK UND FÜR DAS VOLK!

Wenn ihr euch in eurer lokalen Gruppe der Gelben Westen oder wem auch immer in den Grundsätzen dieses Aufrufs wiederfindet, kontaktiert uns unter giletsjaunescommercy@gmail.com. Koordinieren wir uns auf der Basis von egalitären Volksversammlungen!

Quelle des französsichen Originals: https://lundi.am/APPELDES-GILETS-JAUNES-DE-COMMERCY-A-DES-ASSEMBLEES-POPULAIRES-PARTOUT

Gelbe Westen Dortmund

HINWEIS: Diesen Sonntag treffen sich das erste mal die Gelben Westen Dortmund von links! Kommt am 9.12. ab 16.00 Uhr zur Haltestelle Stadtgarten - Kein Weihnachten für die Bourgeoisie - Kampf der Nation und der Autoindustrie! Bleibt auf dem laufendem auf Twitter unter: @gelbwestenDort2

KOMMENTAR ZUM AUFRUF AUS COMMMERCY

Die Bewegung der „Gelben Westen“
Soziale Revolte oder nationalistische Mobilisierung? 

Seit mehreren Wochen wird Frankreich von der Bewegung der „Gelben Westen“ in Atem gehalten, es kommt zu Straßenblockaden, Demonstrationen und Akten des Vandalismus. Stein das Anstoßes war zunächst eine geplante höhere Spritsteuer; daher die zum Erkennungszeichen gewordenen gelben Warnwesten, die in jedem PKW mitgeführt werden müssen. Bald richtete sich der Protest aber allgemein gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen für die breite Masse der Bevölkerung.

Die Bewegung ist widersprüchlich und schwer einzuschätzen: Es gibt dort Rechtsradikale, die sich durch nationalistische und rassistische Parolen hervortun, aber auch linksradikale Tendenzen und dazwischen sehr viele Leute, die sich keinem politischen Lager zuordnen und die einfach nur die Schnauze voll haben von steigenden Preisen, miserablen Arbeitsbedingungen, niedrigen Löhnen und dergleichen mehr. 

Bislang haben die „Gelben Westen“ keine klaren Führungsstrukturen herausgebildet. Die lokale Gruppe aus der nordwestfranzösischen Kleinstadt Commercy, deren Erklärung wir im Folgenden dokumentieren, sieht dies nicht als Schwäche, sondern im Gegenteil als Stärke der Bewegung. Sie spricht sich energisch gegen das Ansinnen aus, die Protestierenden mögen „Sprecher*innen“ bestimmen, damit die Politik mit diesen verhandeln kann. Die Leute aus Commercy rufen dazu auf, dass die „Gelben Westen“ sich auf der Basis lokaler Volksversammlungen konsequent selbstorganisieren sollen und erteilen allen Hierarchien eine Absage. Für sie ist diese radikaldemokratische Idee nicht nur eine momentane Organisationsform, sondern zugleich eine Vision für eine freiere und gerechtere Gesellschaft.

Der Aufruf aus Commercy spricht uns in mancher Hinsicht aus dem Herzen. Auch wir halten Selbstorganisation und Autonomie lokaler Bezugsgruppen für eine Grundvoraussetzung, damit soziale Kämpfe von den Betroffenen erfolgreich geführt werden können und nicht von irgend welchen Cliquen der herrschenden Mächte vereinnahmt werden. Aber das ist nicht genug! Wir haben in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern spontane und führerlose Bewegungen gesehen, die trotz anfänglichem Enthusiasmus bald wieder ohne nennenswerte Folgen von der Bildfläche verschwanden. Die Beteiligten hatten es nicht geschafft, ihre jeweiligen ökonomischen Rollen als Lohnarbeiter*innen, Studierende, Kleinladenbesitzer*innen, Konsument*innen, Mieter*innen, Autofahrer*innen usw., sowie die dahinter stehenden Eigentumsverhältnisse praktisch infrage zu stellen. Nur durch eine solche Herausforderung der kapitalistischen Ökonomie könnten wir wirklich damit beginnen, mit neuen Lebensformen zu experimentieren. 

Um erfolgreich zu sein, müsste eine solche Bewegung auch an der Überwindung aller Trennungen innerhalb der Ausgebeuteten und Unterdrückten arbeiten. Damit würde sie auch reaktionären Kräften den Boden entziehen, die ebendiese Spaltungen vertiefen, indem sie die Privilegien bestimmter Gruppen gegenüber anderen verteidigen (Einheimische gegen Migrant*innen, Männer gegen Frauen, Festangestellte gegen Zeitarbeiter*innen usw.). Welche Tendenzen sich schlussendlich durchsetzen, hängt auch davon ab, welche Leute sich in welcher Weise in die Auseinandersetzungen einbringen. Der Kampf innerhalb der Bewegung um deren gesellschaftspolitische Ausrichtung erweist sich so als mindestens genauso entscheidend wie der Kampf gegen die Regierung. Und dieser Kampf ist unter den französischen „Gelbwesten“ in vollem Gange! 

Die gesellschaftlichen Widersprüche, die von der französischen Bewegung thematisiert werden, existieren im Prinzip auch in Deutschland. Dennoch gab es hierzulande bislang nur einige weitgehend erfolglose Versuche, an die Bewegung der „Gelben Westen“ anzuknüpfen. Die Aufrufe kamen meist aus dem politisch rechten Lager und riefen anstatt zum Protest gegen die soziale Misere eher zum Schutz des Abendlandes vor vermeintlicher Überfremdung auf. Wir wollen uns damit jedoch nicht kampflos abfinden! Deshalb haben auch wir uns gelbe Warnwesten angezogen und mischen uns ein, um andere Akzente zu setzen. Wir rufen alle freiheitlich gesinnten Menschen auf, es uns gleich zu tun. Sorgen wir dafür, dass eine möglicherweise entstehende Bewegung eine antifaschistische und antiautoritäre Ausrichtung hat! Der Aufruf aus Commercy könnte dafür eine gute Diskussionsgrundlage sein.