Die bürgerliche
Gesellschaft hat in ihrer Geschichte enorme
Entwicklungen durchgemacht. Die
gesellschaftliche Arbeitsteilung hat sich
ausgeweitet, die Arbeitsarten haben
beträchtlich zugenommen. Dem Einzelnen steht
eine breitere Palette von Berufen offen, die
ihm über die verallgemeinerten Bildungschancen
prinzipiell zugänglich sind. Auch die
Berufsinhalte haben sich stark differenziert
und sind spezifischer geworden.
Gleich geblieben
ist demgegenüber die Struktur des
Arbeitsprozesses als Verwertungsprozeß. Die
lebendige Arbeitskraft bleibt weiterhin
subsumiert unter das Streben des Kapitals nach
größtmöglicher Verwertung; der Arbeiter bleibt
bloßes Anhängsel des Produktionsprozesses.
Der qualitative
Wandel in der Entwicklung des Kapitaüsmus hat
also nicht in der Arbeitssphäre stattgefunden.
Die eigentlichen Veränderungen werden vielmehr
bei Betrachtung der Nichtarbeitssphäre
deutlich. Durch die Verkürzung der Arbeitszeit
und die größeren Konsummöglichkeiten haben sich
dem Subjekt neue Lebensbereiche und
Lebenschancen eröffnet. Es ist heute mehr als
nur ein Arbeitstier—ja die Arbeit erscheint nun
zunehmend als ein zwar unabdingbares, aber doch
kalkulierbares Mittel zum eigentlichen Leben
außerhalb von ihr. Das Leben außerhalb der
Arbeit ist keineswegs mehr allein beschränkt
auf die Reproduktion der Arbeitskraft. Dem
Subjekt hat sich eine Vielfalt an
Betätigungsmögüchkeiten eröffnet — von den
verschiedensten Hobbytätigkeiten und
Vereinsaktivitäten, gewerkschaftlicher und
politischer Arbeit bis hin zum Verreisen und
Familienausflügen. Die kulturellen, geistigen
und ästhetischen Betätigungsspielräume haben
eine bisher unbekannte Breite erlangt. Bücher,
Zeitschriften und Fernsehen vermitteln
Eindrücke, die weit über die unmittelbare
praktische Erfahrung des Einzelnen hinausgehen.
Lebenswelt und Lebensniveau sind nicht mehr
unmittelbar determiniert durch das Dasein als
Lohnabhängiger. Dem Subjekt erscheint die
Teilnahme am gesellschaftlichen Reichtum
lediglich quantitativ begrenzt zu sein. Alle
grundsätzlichen, traditionellen etc.
Schranken der individuellen Aneignung sind
durchbrochen. Die individuelle Entscheidung
rückt in den Vordergrund. Die Lebenswelt ist
komplexer geworden und ermöglicht dadurch dem
Individuum einen breiteren Bewegungsspielraum
in der Gestaltung seines Lebens.
Die Komplexität
der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft
besteht für das einzelne Individuum nicht nur
in einem gewandelten Verhältnis von Arbeit und
Nichtarbeit, in einer zunehmenden Vielfalt an
Betätigungsmöglichkeiten, sie äußert sich auch
in einer qualitativ veränderten
Lebensbiographie.
Die Partizipation
der Lohnabhängigen an der gesellschaftlichen
Produktivitätsentwicklung — durch
gewerkschaftliche und politische Kämpfe
erreicht — hat zur Etablierung relativ
eigenständiger Lebenssphären geführt:
Kindheit, Jugend und Alter. Sowohl durch den
Ausbau von sozialen Finanzierungssystemen wie
Kindergeld, Bafög und vor allem der Rente, als
auch durch die Errichtung von
gesellschaftlichen Einrichtungen für Erziehung
und Bildung wie Kindergärten, Schulen und
Universitäten, konnte die materielle Basis
gelegt werden für qualitativ unterschiedliche
und eigenständige Entwicklungsräume
im individuellen Lebensweg. So kann "Jugend"
einfacn als
Lebensabschnitt gekennzeichnet werden, der mehr
oder weniger nur Vorbereitung aufs spätere
Erwachsenendasein ist, ein langsames
Hineinwachsen in die Anforderungen des
späteren Lohnabhängigendaseins. Kindheit und
Jugend sind—zumal für die Kinder der
Arbeiterklasse—heute weitaus mehr, umfassen
neuartige und vielfältige Lebensmöglichkeiten,
gewinnen an Eigenständigkeit gegenüber den
anderen Lebensphasen. Die Spielräume der
Ausgestaltung jugendlicher und kindlicher
Lebenswelt haben enorm zugenommen und eröffnen
breitere Einflußmöglichkeiten des einzelnen
Subjekts in diesem Prozeß. »Es gibt
(tendenziell) kein selbstverständliches und
unproblematisches Hineinwachsen oder
Hineinrutschen mehr in die Normalexistenz des
Erwachsenen. In jedem Falle werden
Weggabelungen sichtbar, müssen
auseinanderweisende Hinweisschilder entziffert
werden, liegen Entscheidungen und bewußte
biographische Wahlen auf dem Weg. Alternative
Wege und Bewegungsformen sind immer präsent.«(128)
Jugend als
Vorbereitungszeit zum Erwachsenendasein »wird
überlagert und durchsetzt von Formen,
mindestens: Möglichkeiten eines Lebens aus
eigener Verantwortung und eigenem Recht. Der
Lebensabschnitt, der der Herausbildung der
Individualität dient, enthält zunehmend
Handlungsräume und Handlungsaufforderungen, die
Individualität voraussetzen. Das Lebensalter,
das der Vorbereitung auf individuelle
Lebensführung dient, wird selbst
individualisiert.«(129)
Ähnliches läßt
sich für das A her formulieren. Altsein
ist heute nicht mehr gleichzusetzen mit einer
kurzen Spanne zwischen Arbeitsende und Tod,
verbunden mit Formen der persönlichen
Abhängigkeit bzw. einem Gnadenverhältnis. Das
Alter ist sowohl von seinem zeitlichen Rahmen
her als auch von den materiellen Möglichkeiten
(wie bescheiden auch immer) zu einem relativ
eigenständigen Lebensabschnitt geworden mit
neuen Anforderungen und Handlungsmöglichkeiten.
Gruppen wie die Grauen Panter sind nur der
exponierteste Ausdruck der Tatsache, daß
Altsein vereinbar ist mit aktiver Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben, mit Einflußnahme der
Betroffenen und mit Eigenständigkeit an
Lebensführung und Betätigungsmöglichkeiten.
Die bürgerliche
Lebenswelt im Spätkapitalismus zeichnet sich
also durch ihre große Komplexität aus. Das
Individuum findet eine Vielfalt von
praktischen und geistigen
Aneignungsmöglichkeiten vor, die ihm nicht
schon durch sein Lohnabhängigendasein bzw.
seine Stellung in der Gesellschaft automatisch
zufallen. Zwar sind die verschiedenen Bereiche
unserer Gesellschaft durchaus einer
strukturierten Betrachtung zugänglich und
weisen einen inneren Zusammenhang auf. Jedoch
reicht auch ein noch so differenziertes
Verständnis objektiver gesellschaftlicher
Strukturzusammenhänge nicht aus, das Subjekt in
seinen Handlungsweisen und Vorstellungen
theoretisch zu erfassen.
Die Individuen
stehen vor einer Vielzahl von
Entscheidungsmöglichkeiten und
Handlungsalternativen in ihrem Alltag, so daß
nicht einfach die gesellschaftlichen
Strukturen im Sinne einer Determinationskette
bis auf die individuelle Ebene hinab
verlängert werden können.
Der
Aneignungsprozeß der äußeren Welt durch das
Subjekt unterstellt ein aktives, selbstbewußtes
Handeln des Einzelnen. Die persönliche
Lebensführung ist nur Teil,
sozusagen als Rahmenbedingung, vorgegeben durch
die Existenz als Klassensubjekt; sie
wird individualisiert. Allerdings kann
man erst sehr spät innerhalb der bürgerlichen
Gesellschaft für breitere Teile der
Bevölkerung von einem individuellen
Lebensweg sprechen. »Immer mehr Lebenswege
von Erwachsenen reichern sich an durch
Unterbrechungen, Krisen und Wendungen.
Zunehmend mehr Erwachsene bilanzieren ihr Leben
nicht erst auf dem Sterbebett, sondern von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt, anläßlich von
Umstellungen und Neuentscheidungen, ziehen
Zwischensummen und kalkulieren neu.«(130)
So ist heute mit der Geschlechtszugehörigkeit
nicht mehr automatisch der persönliche
Lebensweg vorgegeben. Die individuelle
Entscheidung hat auch für die Frauen an Raum
gewonnen. Die Entscheidung für Berufstätigkeit
z. B. liegt nicht mehr außerhalb der normalen
Frauenrolle.
Diese gewachsenen
Entscheidungsspielräume des Einzelnen sind
Ausdruck einer reicheren
Persönlichkeitsstruktur des Subjekts. Die
Ansprüche an die Lebensführung haben sich
erweitert und sind differenzierter geworden.
Die Bewußtheit über die Lebenszusammenhänge und
die Möglichkeiten ihrer Veränderung und
Gestaltung durch eigenverantwortliches Handeln
hat sich verbreitert. Zudem gibt es kein
einfaches und einheitliches Normen- und
Wertesystem, das zur Anleitung der
individuellen Lebensführung im Alltag
ausreicht. Auch hier findet ein relativ
rascher Wechsel statt. Konkurrierende
Wertsysteme stehen sich gegenüber. Das
Individuum ist gezwungen abzuwägen, zu wählen
und zu entscheiden. Es erlebt sich damit selbst
auch mit mehr Eigenverantwortlichkeit. Das
bedeutet aber auf der anderen Seite zugleich,
daß mit der Öffnung neuer
Handlungsmöglichkeiten und
Entscheidungsspielräume neue Unsicherheiten,
Konflikte und Zwänge entstehen. Die
Persönlichkeit des Einzelnen ist heute so
entwickelt wie nie zuvor. »Auf der anderen
Seite ist die Frustration und Beschneidung der
Individualität nie so groß gewesen wie heute.«(131)
Die Ansprüche des Individuums stoßen an die
Grenzen ihrer Realisierbarkeit, die durch die
Struktur der bürgerlichen Gesellschaft
vorgegeben sind. Die Potenzen und Bedürfnisse
des Subjekts sind im gegebenen Rahmen des
Kapitalismus nicht mehr zu befriedigen. Die
Stellung und die Möglichkeiten des Subjekts in
der Gesellschaft verbieten es also, es als
Abbild gegebener Strukturen erfassen zu
wollen. Die gesellschaftliche Totalität und die
individuelle Totalität sind nicht identisch.
Das Individuum ist nicht einfach ein
Stempelabdruck der objektiv fixierbaren,
äußeren Realität. Es bewegt sich innerhalb der
existierenden Aneignungsfelder mit einem
bestimmten Grad an Eigenständigkeit, stellt
eine Besonderheit innerhalb der Vielfalt der
äußeren Realität dar.
Das Individuum
kann also einerseits als strukturierte
Struktur, als Ausdruck existierender
kapitalistischer Verhältnisse gefaßt werden;
andererseits als strukturierende
Struktur, als aktives Element, das in die
gesellschaftlichen Verhältnisse eingreift und
dadurch auch verändert.
Jeder
marxistische Versuch, das Subjekt
differenzierter zu erfassen, muß diesem
theoretischen Zusammenhang Rechnung tragen. Die
subjektive Eigenständigkeit muß
herausgearbeitet werden, ohne daß ein
subjektivistischer, die Gesellschaftlichkeit
des Individuums negierender Ansatz entsteht.
Für eine präzisere Fassung individueller
Totalität müssen folgende Problemstellungen
auseinandergehalten werden:
1)
»Unser
Organismus, mit dem wir auf die Welt kommen,
beinhaltet als >Information< — durch den
genetischen Code — lediglich die
Vorbedingungen der Aneignung der
gattungsmäßig-menschlichen Existenz... Dieser
Organismus ist zugleich ein autonomes System...
das sich als autonomes System an die Welt
wendet, an die Welt, die der Organismus
ausschließlich von sich selbst ausgehend
und
sich selbst nie transzendierend'
sich >einbauen< kann. Ferner gilt aber: alles,
was den Menschen de facto zum Menschen macht,
also die Informationen, die unser
gattungsmäßiges Leben konstituieren, befinden
sich zum Zeitpunkt unserer Geburt außerhalb
des Organismus; sie sind nämlich in den
menschlichen Beziehungen aufzufinden, in
die wir hineingeboren werden.«(132)
Der Mensch »beginnt also von Geburt an, sich
die Welt ausgehend von seinem eigenen
Organismus anzueignen. Die Welt stellt die
anzueignenden Aufgaben. Alles, was ich mir
aneigne (in mich >einbaue<), wird zum Ich.«(133)
Der psychische
Gesamtapparat des Menschen weist auf
biologischer Ebene die Fähigkeit auf, äußere
Reize, die den Menschen umgeben, über
besondere Rezeptoren aufzunehmen, in einem
komplizierten, bis heute noch nicht genau
erklärten Prozeß (elektrischer und
biochemischer Natur) umzuwandeln und zu
speichern (wir abstrahieren hier von
angeborenen Merkmalen und sog. inneren Reizen
der eigenen Körperorgane). Dieser Prozeß der
Speicherung findet im Wesentlichen in den
höheren Zentren des Nervensystems statt
(Gehirn, Rückenmark). Nun wäre es falsch, dies
einfach als einen Vorgang der Sammlung
und Aufhäufung von einzelnen Reizen —
Daten vergleichbar — zu begreifen, die dann
eine entsprechende Reaktion des Organismus
hervorrufen. Das Nervensystem ist in der Lage,
im Verlauf der Habitua-tion, der Gewöhnung in
der Reizaufnahme und -Verarbeitung,
Verknüpfungen herzustellen, sozusagen
Assoziationsketten zu produzieren, die den
Prozeß der Reizverarbeitung vereinfachen.
Einzelne Reize können also genügen,
komplizierte Prozesse hervorzurufen, die quasi
über einen vergangenen Lern-und
Erfahrungsprozeß antizipiert werden. Fassen wir
bisher die Prozesse des psychischen
Gesamtapparats als Vorgang der Aufnahme,
Verarbeitung und Speicherung von Reizen, so
müssen wir weiter differenzieren.
Der
menschliche Lebensprozeß umfaßt weit mehr als
den Bewußtwer-dungsprozeßder Realität,
als die »synchrone parallele Realisierung der
konkreten Reize und Signale der Umwelt sowie
der verbalen Reize mit dem Charakter
abstrakter Gedanken in den höheren Zentren«(134)
des Gehirns.
Im Aneignungsprozeß seiner Umwelt verarbeitet
das Individuum eine Vielzahl von Ereignissen
(Reizen), stellt Verknüpfungen und Beziehungen
her, die von ihm selber nicht bewußt
wahrgenommen werden und trotzdem einen
dauernden Bestandteil des täglichen Lebens
bilden. Dies reicht von Körperbewegungen (also
nicht angeborenen, sondern erlernten Bewegungen
und Reaktionen des Skeletts und der Muskulatur)
über die Verknüpfung bestimmter Gegenstände zu
inhaltsreichen Begriffen (so assoziiere ich z.
B. bei einer bestimmten Form eines Stück Holzes
einen Stuhl, der gleichzeitig mit einem
bestimmten Gebrauchswert >belegt< wird, ohne
daß dieser Zusammenhang stets von Neuem
hergestellt werden müßte) bis hin zur Belegung
von Situationen mit einem Inhalt, der aus der
konkreten Situation selbst nicht hervorgeht,
sondern unbewußt aus vergangener Erfahrung
assoziiiert wird. »Je mehr sich die
menschliche Erkenntnis vertieft und erweitert,
um so mehr lagert sich... in der unbewußten
Sphäre der Psyche ab. Je nach den aktuellen
Aufgaben der Psyche gelangt etwas aus dem
Unbewußten ins Bewußtsein: das >Vergessen<
kann also genauso erforderlich sein wie die
>Erinnerung<. Die zwei Sphären stehen zwar im
Gegensatz zueinander, bilden dennoch eine
Einheit und befinden sich im Gleichgewicht. Ein
normales Seelenleben ist ohne dieses
Gleichgewicht unvorstellbar. Das Unbewußte
stellt für die menschliche Psyche eine
Entlastungs- und Reservekraft dar.
Je mehr wir wissen, desto eher erweitert sich
auch das Lager unseres Unbewußten.«(135)
Die Untersuchung des Gesamtkomplexes
psychischer Vorgänge darf jedoch nicht in das
herkömmliche Muster der Versubjektivierung
zurückfallen. » Kein psychischer Prozeß sei als
ein Funktionieren psychischer Mechanismen an
sich anzusehen. Immer ist er — direkt oder
indirekt — verbunden mit den Beziehungen der
Persönlichkeit zur jeweiligen sozialen
Lebenspraxis bzw. zum Aufbau eines inneren
Modells der Wirklichkeit, das für diese
Beziehung entscheidende Bedeutung hat.«(136)
Der alltägliche menschliche Aneignungsprozeß
ist lediglich in der theoretischen Abstraktion
als Denkprozeß zu begreifen. In Wirklichkeit
ist jeder Prozeß der Aktivität mehr oder
weniger von sehr vielfältigen Äußerungsformen
des Subjekts und emotionaler Beteiligung
durchdrungen. Wir können feststellen, daß
»Aneignung Handeln, Denken und Fühlen«
(137) als
Einheit umfaßt, daß also im konkreten Subjekt,
in seinen Äußerungsformen »kein
Gedanke ohne Gefühl und
Gefühlsanordnung, keine Handlung ohne Denken
und Fühlen existiert.«(138)
Aber genauso wie klar ist, daß Bewußtsein und
Denken des Subjekts nicht aus sich heraus
erklärbar ist, sondern sinnvoll nur vor dem
Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen
verständlich wird, können Gefühle, Emotionen
etc. nicht als genuin dem Subjekt anhaftende,
rein individuelle Momente betrachtet werden.
»Die Menschen stehen — immer — Aufgaben
gegenüber... Welche Gefühle sich in einem
Zeitalter mit welcher Intensität entfalten,
welche Gefühle zu dominierenden Gefühlen
werden, hängt in erster Linie von diesen
Aufgaben ab.«(139)
»Je fester, je konstanter die Aufgabe einer
Gesellschaftsstruktur, Klasse, Schicht oder
eines Geschlechtes ist, umso konstanter bleibt
ihre Gefühlswelt; je dynamischer die
Gesellschaft ist, umso dynamischer wird auch
ihre Gefühlswelt; und darüber hinaus: der
konstantere oder dynamischere Charakter einer
Gesellschaft beeinflußt immer die Möglichkeit
der Herausarbeitung der individuellen
Gefühlswelt.«(140)
2)
Der
Aneignungsprozeß durch das Individuum ist ein
lebenslanger Prozeß. Von Kindesbeinen an »prägt
sich die Eigenschaft (verschiedener Dinge)...
ihrem Hirn ein.«(141)
Das, »was wiederholte Bestätigung zur Erfahrung
gemacht hat« (142)
wird zum Bestandteil der individuellen
Persönlichkeit. Die Komplexität des
Lebensprozesses, die unterschiedlich
verlaufenden Lebensbiographien nehmen in der
sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft
weiter zu.
Mit dem
wachsenden Reichtum der Gesellschaft, der
Dynamik in der Entwicklung seiner Teilbereiche
nimmt auch der Erfahrungsreichtum, das Wissen
der Menschen zu. Es findet aber nicht nur eine
quantitative Erweiterung statt. Vor allem die
Vielfalt an persönlichen
Erfahrungshintergründen, die
Unterschiedlichkeit
zwischen
den Individuen erreicht eine bisher nicht
erreichte Breite. Erst mit dieser tendenziellen
Individualisierung des Lebensprozesses,
seiner
Loslösung von mit der Geburt feststehenden
relativ fixen und unabänderlichen
Lebensabläufen, läßt sich von einer
eigenständigen Lebenswelt sprechen.
Jedes
Individuum verarbeitet, speichert und
assoziiert in seinem aktuellen Lebensprozeß die
gegebenen gesellschaftlichen Strukturen, in
denen es sich aufhält und die es sich
potentiell aneignen kann, immer vor dem
Hintergrund der eigenen individuellen
Erfahrung. Das Subjekt nimmt also die objektive
Realität auf der Basis seines individuellen
Lebensweges wahr. Wie wir gesehen haben, ist
jedoch die Herausbildung von Individualität und
relativer Eigenständigkeit im Lebensprozeß ein
spätes Resultat der bürgerlichen Gesellschaft.
Erst von dem Zeitpunkt an, wo gesellschaftliche
und individuelle Totalität auseinanderfallen
bzw. wo die Erfahrung einer Klasse an
Gleichförmigkeit verliert und individualisiert
wird, bekommt die individuelle Vergangenheit
des Subjekts besondere Bedeutung, kann die
Wahrnehmung aktueller Strukturen so weit
auseinanderfallen.
So hängt die
Beurteilung der momentanen Arbeitssituation,
ihre Erträglichkeit u. ä. von den spezifischen
Lebenserfahrungen ab, die das Subjekt gemacht
hat, die selbst noch sehr unterschiedlich sein
können aufgrund der Dynamik der Gesellschaft.
Möglicherweise erscheint ihm selbst dann die
augenblickliche Situation als Verbesserung,
wenn sie weit hinter dem historisch
durchschnittlich Erreichten zurückbleibt.
Die
Individualisierung des Lebens ist jedoch nicht
nur ein Prozeß, der die Betrachtung des
Subjekts im Spannungsfeld von Vergangenheit und
Gegenwart nötig macht. Die Möglichkeit
subjektiver Lebensplanung, die Eröffnung von
spezifischen Aussichten oder auch illusionären
Hoffnungen für die zukünftige Lebensgestaltung
führen ebenso dazu, daß die gegebene Realität
unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und
verarbeitet werden kann. Die Beeinflußbarkeit
der Zukunft—wie realistisch dies im Einzelfall
auch sein mag— gewinnt an Bedeutung für das
subjektive Dasein.
3)
Wie schon
dargelegt, hat eine gesellschaftliche
Entwicklung eingesetzt, die die Ausprägung mehr
oder minder eigenständiger Lebensabschnitte
ermöglicht: Jugend und Alter.
Der
Zusammenhang etwa der Jugend mit den Strukturen
der bürgerlichen Gesellschaft ist nur als
vermittelter erkennbar. Ohne jetzt auf die
gesellschaftlichen Hintergründe
differenzierter einzugehen (Verlängerung und
inhaltliche Veränderung der Ausbildung,
veränderte Familienverhältnisse etc.;
insgesamt eine Pluralisierung der kindlichen
undjugendlichen Lebenswelt) kann als
Faktum konstatiert werden, daß für den
Jugendlichen tendenziell die Führung eines
relativ eigenständigen Lebens möglich geworden
ist. Das Individuum bewegt sich in einer
Sphäre, in der Wertvorstellungen,
Handlungsalternativen und differenzierte
Aneignungsprozesse stattfinden können, die
qualitativ anderer Art sind als die der
früheren Generationen, aber auch die der
Erwachsenen. Das Auseinanderfallen der
verschiedenen Lebensabschnitte, die
Unterschiede in der Lebensgestaltung zwischen
diesen Sphären waren noch nie so groß wie
heute.
Das bedeutet aber auch, daß das Subjekt beim
Übergang in einen neuen Lebensabschnitt mit
neuen Anforderungen konfrontiert ist. Konnte
man früher von einem langsamen Hineinwachsen in
die >Normalexistenz< sprechen, dem bereits
frühkindlichen Einüben in die Notwendigkeiten
und Begrenzungen des Lohnabhängigen- bzw.
Hausfrauendaseins, so wird dieser Übergang
heute von einem relativ entwickelten Subjekt
vollzogen, das bereits eine eigenständige
Persönlichkeit darstellt. Neuere
Jugenduntersuchungen belegen dies
augenscheinlich. So wird festgestellt, »daß
materielle Werte nicht mehr eindeutig die
Prioritätenliste beruflicher Erwartungen
anführen, zumal kommunikative und
>atmosphärische< Werte wie z. B. >gutes
Betriebsklimas >anre-gende, abwechslungsreiche
Tätigkeit, >gutes Verhältnis zu den Kollegen<,
>gesunder Arbeitsplatz< und >gute Teamarbeit
von jeweils mehr als einem Drittel der
Befragten als wichtig angesehen werden.«(143)
Ohne jetzt der Frage nachzugehen, wie dies
genauer zu interpretieren ist und welche
Veränderungen sich im Laufe der Zeit bei den
Befragten einstellen, lassen diese »und eine
Reihe anderer Ergebnisse... darauf schließen,
daß sich in der jungen Generation auf Grund
unterschiedlicher Bildungserfahrungen
unterschiedliche Arbeits- und
Berufsorientierungen entwickeln.«(144)
Ähnliche Prozesse, die eigenständiger
Untersuchung bedürfen, ergeben sich einerseits
auf dem Gebiet der Kleinkindentwicklung, da
auch die Anerkennung und materiellen
Bedingungen der Kindheitsentwicklung als
eigenständiger Phase erst relativ neueren
Datums sind, andererseits beim Übergang in den
>Ruhestand<.
4)
Wir sind im Alltagsleben der Subjekte mit dem
Phänomen konfrontiert, daß derselbe
Lebensbereich von ein- und demselben Individuum
verschiedenartig wahrgenommen, ja sogar mit
gegensätzlichen Bedeutungen belegt werden kann.
Darüber ist sich die industriesoziologische
Forschung zum Bewußtsein der Lohnarbeiter seit
langem klar. Auch jüngere empirische
Untersuchungen im Bereich der Jugend- und
Frauenforschung belegen dies.
Für die
heutige Jugendgeneration ist z. B. festgestellt
worden: »Wertewandel vollzieht sich in der
Praxis außerordentlich widersprüchlich. In sich
>stimmige< Konzepte (z. B.
>Postmaterialismus<) gibt es >in den Köpfen der
Menschern kaum. Wertewandel stellt sich in
erster Linie als Veränderung der Rangordnung
von Werten dar; >Alte< und >neue< Werte bilden
bei einer Mehrheit der Bundesbürger — auch der
15 bis 30jährigen — eine Art widersprüchliche
Werteharmonie. Es wird versucht, zentrale Werte
sowohl >alter< als auch >neuer< Art im
individuellen Einstellungs-System zu
konfundieren.
Scheinbare oder
tatsächliche Widersprüche werden entweder gar
nicht wahrgenommen oder harmonisierend
verdrängt... nach der Theorie gegensätzliche
Lebensentwürfe... (können) in der Realität aber
mehr oder minder harmonisch nebeneinander
existieren — konkret von ein und derselben
Person vertreten und gelebt werden.«(145)
Ähnliche
Ergebnisse kommen aus der Frauenforschung. So
ist der Arbeitsprozeß in seiner
kapitalistischen Ausprägung für befragte
Akkordarbeiterinnen sowohl» Ursache für Unmut,
Zorn, Unwillen, Resignation oder erzeugter
Gleichgültigkeit, aber gleichzeitig — in ein-
und derselben Person — auch Bezugspunkt für
Selbstbewußtsein, Selbstbewertung und
Selbstbestätigung.«(146)
Auf der einen Seite wird die Arbeit erfahren in
ihrer » Einförmigkeit, Inhaltslosigkeit und
Unterordnung unter die Maschine.«(147),
auf der anderen Seite »erfordert der konkrete
Vollzug doch immer noch den Einsatz und den
Nachweis eines Bündels von Fähigkeiten und
Fertigkeiten. Als Teilmoment des gesamten
Produktionsprozesses ist die konkrete
Einzeltätigkeit immer noch individuell zu
bewältigende Tätigkeit, und als solche bleibt
sie auch Moment des af-fektiven Selbstbezugs.«(148)
Das Individuum
ist also zu einer spezifischen Gewichtung der
verschiedenen Momente seines Lebensprozesses
in der Lage. Es kann ausgehend von seiner
Besonderheit strukturierend die Wirklichkeit
vermitteln und in eine, für es dann spezifische
Ordnung bringen.
Die Theorie muß
auf der Ebene des Subj ekts dieses »
Vorhandensein widersprüchlicher Erfahrungen,
die gleichzeitige Bejahung und Verneinung, die
Simultanität von positiven und negativen
Besetzungen eines Objektbereichs« 149 und die
Möglichkeit des Individuums, eigenständig
darauf Einfluß zu nehmen, berücksichtigen. Dies
darf nicht als Unvermögen, die Realität
eindeutig wahrnehmen zu können, interpretiert
werden.
Es reicht also
nicht aus, das Bewußtsein auf der Ebene der
subjektiven Betrachtung als widersprüchlich zu
kennzeichnen. Der Tatsache der individuellen
Strukturierbarkeit und veränderbaren
Hierarchisierung im subjektiven Wahrnehmen, dem
Nebeneinander verschiedener Werthaltungen und
gegensätzlicher Einschätzungen muß Rechnung
getragen werden, indem die Ebene des
einerseits/andererseits überschritten wird
und diese Ambivalenz bzw. Polyvalenz
im Bewußtsein der Individuen als eigenständiger
Teil der Bewußtseinsanalyse anerkannt wird.
Damit ist ein weiteres notwendiges
Vermittlungsglied zwischen objektiven
gesellschaftlichen Strukturen und
individuellem Handel benannt.
Die
widersprüchliche Bestimmtheit des
Bewußtseins kennzeichnet in der Analyse der
Bewußtseinsformen also die Ebene, die abstrakt
als Sphäre der ökonomischen Formbestimmtheiten
gekennzeichnet ist; es bedeutet die objektive
Strukturierung des Bewußtseins durch eine sich
wesentlich antagonistisch entwickelnde
Produktionsweise. Die ambivalenten,
inkonsistenten und auch polyvalenten
Bewußtseinsformen kennzeichnen in der Analyse
die Ebene des Alltagslebens; es ist
die Art und Weise, in der die Individuen die
Phänomene an der Oberfläche der bürgerlichen
Gesellschaft in ihrer sozialen Dimension
erfassen und ideell strukturieren bzw.
gestalten.
Anmerkungen
128) W. Fuchs
in: Soziale Welt Heft 3/83, S. 369
129) ebd, S. 341
130) ebd, S. 366
131) Carola Pust/Petra
Reichert/Anne Wenzel u.a., Frauen in der
BRD, a.a.O., 1983, S. 200
132) Agnes Heller,
Theorie der Gefühle, a.a.O., 1980, S. 33
133) ebd, S. 35
134 )GyörgyAdam,
Empfindung Bewußtsein Gedächtnis... mit den
Augen des Biologen S. 156
135) ebd., S. 159
136) Autorenkollektiv,
Persönlichkeit, Kunst, Lebensweise, Berlin
(DDR) 1983, S. 185
137) A. Heller,
a.a.O. S. 36
138) ebd
139) ebd, S. 245
140) ebd, S. 247
141) Marx, MEW Bd.
19, S. 363
142) ebd
143) Sinus Studie,
Die verunsicherte Generation, Jugend und
Wertewandel, Opladen, 1983, S.84
144) ebd, S. 86
145) ebd, S. 28f.
146) Becker-Schmidt,
in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie Jg. 32,1980
147) MEGA, a.a.O.,
S. 2021
148) Becker-Schmidt,
a.a.O.
149) ebd
Quelle:
Sebastian Herkommer, Joachim Bischoff,
Karlheinz Maldaner, Alltag, Bewußtsein,
Klassen, Aufsätze zur marxistischen Theorie,
Hamburg 1984, S.211-218
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