Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Ausstieg aus dem Atomausstieg & Einstieg in neue gigantomanische Nuklearprojekte

12/2017

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Kaum erhielt die französische Atomindustrie jüngst - de facto - ihre Bestandsgarantie aus der Politik, scheint man in ihren Reihen dem Größenwahn zu verfallen.

30, 35 oder 40 neu Atomreaktoren vom Modell EPR“ (European Pressurized Reactor) will der Chef des französischen Energieversorgungsunternehmen EDF oder Electricité de France, Jean-Bernard Lévy, laut einer neuesten Erklärung „bis im Jahr 2050“ errichten lassen. // https://www.challenges.fr // Also mindestens einen neuen Atomreaktor pro Jahr. Diese vollmundige Forderung des Chefs von EDF, also der Betreiberfirma der kommerziell genutzten Atomanlagen in Frankreich – als Reaktorbauer firmiert das Unternehmen AREVA, das erst kürzlich durch die Lieferung defekter Nuklearbrennstäbe in die Schweiz // https://www.tdg.ch/// in ein paar Schlagzeilen geriet // http://www.maghrebemergent.info // - , wurde nur zehn Tage nach der Veröffentlichung eines Forscherberichts laut. Letzterem zufolge wäre es möglich, in Frankreich bis im Jahr 2050 sowohl auf Nuklearenergie als auch auf klimaschädliche fossile Kraftwerke zu verzichten und das Land ausschließlich aus erneuerbaren Energiequellen (kombiniert mit Energieeinsparungen) zu versorgen. // https://www.science-et-vie.com//

Der amtierende französische Umweltminister Nicolas Hulot hatte vor seiner Ernennung durch Emmanuel Macron im Mai 2017 als „Umweltaktivist“ gegolten. In Wirklichkeit war in der Vergangenheit erst als Dokumentarfilmer und danach vor allem als Unternehmer und Geschäftsmann – mit dem Verkauf als umweltverträglich angepriesener Produkte – in Erscheinung getreten. Zur Nuklearenergie stand er lange Zeit nicht besonders kritisch, obwohl er laut eigenen Angaben infolge des Fukushima-Unfalls im März 2011 seine Position zugunsten eines (schrittweisen) Atomausstiegs wandelte.

Anfang November d.J. verkündete derselbe Nicolas Hulot nun jedoch einen Ausstieg aus dem – zögerlichen – Ausstieg, den die Vorgängerregierung unter François Hollande ab 2012 beschlossen hatte. Der Sozialdemokrat Hollande, dessen Regierung die (später darüber gespaltenen) französischen Grünen mindestens im Zeitraum 2012 bis 2014 angehörten, verkündete bei seinem Regierungsantritt eine Begrenzung des Atomenergie-Anteils an der Stromerzeugung im Land von derzeit 75 Prozent auf künftig 50 Prozent ab dem Jahr 2025. Das wäre im internationalen Vergleich noch immer ein sehr hoher Wert. Doch auch dieses relativ bescheidene Ziel „knickte“ Hulot nun am 07. November, und dachte dabei laut über eine Verschiebung auf „2030 oder 2035“ nach. // https://actu.orange.fr/ // Dabei führte er die Priorität des Klimaschutzes, also des Abbaus der Verbrennung fossiler Energieträger, als Argument an und spielte dadurch zwei notwendige und legitime Ziele gegeneinander aus. Dies rief den Zorn von Umweltverbänden, jedenfalls den nuklearenergiekritischen unter ihnen, hervor // https://www.romandie.com //.

Sein Vorgesetzter, Premierminister Edouard Philippe, schaltete sich kurz darauf prompt hinzu, um auch noch die von Hulot in Erwägung gezogenen Jahreszahlen 2030 oder 2035 in Frage zu stellen: Er sei „kein Datenfetischist“, kommentierte Philippe dazu am 22. November // https://www.romandie.com/news///; obwohl der Mann in seinem Regierungshandeln natürlich Daten wie die (durch die EU festgesetzte) Defizitobergrenze in Höhe von 3 % eines Haushalts in seiner Regierungspraxis durchaus wie einen Fetisch behandelt.

Dem Herrn Umweltminister scheint insgesamt nicht völlig wohl bei der Sache gewesen zu sein. Jedenfalls beschwerte er sich kurzzeitig in relativ bitteren Worten darüber, wie er in die PR-Offensive der Regierung – also ihre faktische Bestandsgarantieerklärung für die Nuklearindustrie – eingebunden worden war. „Die Kommunikation“ sei wohl „nicht sehr angemessen gewesen“, meinte er mehr oder minder selbstkritisch, und fügte bezüglich seiner eigenen Position in der Regierung hinzu: „So kann es nicht weitergehen!“ // http://www.planet.fr// Allerdings scheint seine Wut, wenn nicht verraucht, so doch ohne längerfristige Konsequenzen geblieben zu sein. Jedenfalls wurde Nicolas Hulot bei der jüngsten Mini-Kabinettsumbildung, welche Präsident Emmanuel Macron am vorigen Freitag Abend nach mehrfacher Verschiebung verkündete // http://www.lepoint.fr //, im Amt bestätigt. Wie auch die meisten anderen bisherigen Minister.

Die jüngst ausgesprochene, faktische Bestandsgarantie über das Jahr 2025 hinaus bedeutet für die französische Atombranche, dass die geplante Laufzeitverlängerung für alternde Atomkraftwerke definitiv politisch durchsetzbar werden könnte. Allerdings hat da die Atomaufsichtsbehörde ASN, welche über die Reaktorsicherheit zu wachen hat, noch ein Wörtchen mitzureden. Diese ist nicht eben als nuklearenergiekritisch bekannt, hält sich mit ihrer Unterstützung für das Vorhaben der Laufzeitverlängerung derzeit jedoch erkennbar zurück. Eine angekündigte und seit längerem erwartete Stellungnahme der ASN wurde am 24. Oktober dieses Jahres erst einmal verschoben. // http://www.latribune.fr/// Was nicht sonderlich gut für das Image der französischen Atombranche ist.

Ein anderer Aspekt des Nicht-Ausstiegs ist jedoch der geplante Einstieg in die neue Reaktorgeneration vom Typ EPR. Eine Modellanlage des EPR ist derzeit in Flamanville in der Normandie im Bau, drei weitere Reaktoren werden in Finnland sowie in China errichtet. Während man aus dem diktatorisch regierten China dazu nicht allzu viel hört, bleiben die Baustellen in Finnland – wo es zu sehr erheblichen Verzögerungen im Zeitplan kam – und in der Normandie skandalumwittert. // https://blogs.mediapart.fr//

Die Fertigstellung des Reaktors in Flamanville war ursprünglich für 2013 vorgesehen und hat sich bis mindestens Ende 2018 verzögert. Nachdem im April 2015 // https://www.asn.fr/// gravierende Risse am Reaktordruckbehälter festgestellt worden waren (die Schuld trägt ein Kohlenstoffanteil im verwendeten Spezialstahl, der höher ausfällt als ursprünglich erwartet), ordnete die Aufsichtsbehörde ASN an, dass neue Tests vorgenommen werden müssten. Denn es hatte sich erwiesen, dass in 400 Fällen die Unterlagen von Stresstests für Bauteile des EPR gefälscht worden waren. Rund 10.000 Bauelemente waren in der Stahlfabrik von Le Creusot in Zentralfrankreich, die – nach einer Pleite 1984 und mehreren Eigentümerwechseln – seit 2006/07 durch den Atomkonzern AREVA übernommen worden war, auf ihre chemische, mechanische, thermische und sonstige Belastbarkeit hin überprüft worden. // https://www.challenges.fr/ // In rund vierhundert Fällen wurde jedoch festgestellt, dass die Tests wohl manipuliert worden waren, wenn die Ergebnisse nicht wie gewünscht ausfielen - als handele es sich etwa um die Abgaswerte von Dieselmotoren bei VW, aber mit potenziell noch weitaus gravierenderen Folgen. Im Oktober 2016 sprach die ASN davon, in manchen Fällen „ähnelten die festzustellen Anomalien (vorsätzlichen) Fälschungen“ // http://www.lefigaro.fr/ // In der französischen Atomindustrie brach daraufhin Panik aus.

Das Ende vom Lied? Schlussendlich genehmigte die Aufsichtsbehörde ASN den problembelasteten Reaktorbehälter in Flamanville am 28. Juni 2017 – unter der Auflage, er müsse bis im Jahr 2024 ausgetauscht werden. // http://www.lemonde.fr // Niemand hat wirklich verstanden, warum es zu diesem Kompromiss kam und das Risiko sieben Jahr lang tragbar sein soll, danach jedoch nicht mehr. Atomenergiekritische Verbände und Beobachtungsstellen sprachen von einer „Komplizenschaft“ der Aufsichtsbehörde mit dem Betreiber // http://www.sortirdunucleaire.org //.

Es ging aber natürlich auch darum, einen als Exportprodukt geplanten Reaktor und damit potenzielle außenwirtschaftliche Erfolge Frankreichs nicht zu gefährden. So soll Indien den EPR, im Zusammenhang mit einem Staatsbesuch Emmanuel Macrons dort zu Anfang 2018, in naher Zukunft erwerben. // https://www.romandie.com/// Im südwestlichen England wurde bereits mit dem Bau eines EPR – dem Projekt Hinkley Point C -, an dem der französische Atomanlagenbetreiber EDF nebst einem chinesischen Investor führend beteiligt ist, begonnen. Das dortige Projekt steht aber ebenfalls in der Kritik und wird heftig debattiert, auch seitens von britischen Abgeordneten. // http://www.latribune.fr// Unter anderem die horrenden Kosten dieses Projekts – finanziell derzeit das gigantischste Bauvorhaben auf der Welt – werden angeprangert, ebenso wie ihre befürchteten Auswirkungen für die britischen Konsumentinnen und Konsumenten. // https://www.romandie.com/ // Französische Atomkraftkritiker vermuten unterdessen, dass sich schlicht Geheimabkommen über eine militärische nukleare Zusammenarbeit – also bei der Entwicklung künftiger Atomwaffen – zwischen der französischen und der britischen Seite hinter dem megalomanen Projekt verbergen.

Auch der „klassische“ französische Atompark steht in der Kritik. // https://heuredupeuple.fr/ // Die Umweltorganisation Greenpeace veröffentlichte eine Karte zu atomaren Risiken in Frankreich // https://nukemap.greenpeace.fr/// und äußerte sich „alarmiert“ über den Zustand der Kühlbecken für Brennelemente bei französischen Atomkraftwerken // http://www.journaldelenvironnement.net/ // Andernorts wird der Rostfraß in französischen Atomanlagen // http://www.leparisien.fr/ //, der ausgesprochen lockere Umgang mit bei ihnen gelagerten radioaktiven Abfällen // http://www.sortirdunucleaire.org // oder der Zustand der Wasserleitungen in ihnen // https://www.challenges.fr/ // der Kritik unterzogt; im zuletzt zitierten Fall kommt selbige von der offiziellen Aufsichtsbehörde ASN. Im Frühherbst dieses Jahres lagen zeitweilig zwei Drittel des französischen Atomparks aufgrund von Störfällen, nötigen Reparatur- oder Wartungsarbeiten still; derzeit ist es eher ein Drittel. // https://reporterre.net/ //

Ungelöst ist derzeit – in Frankreich wie in anderen Ländern - auch noch die Frage der Endlagerung von Atomanfällen. Der französische Staat favorisiert dabei eine Lagerstätte im lothringischen Bure, wo es jedoch zu heftigen Widerständen von örtlichen Kräften wie von überregionalen Atomkraftgegner/inne/n kommt. // https://reporterre.net/ // Auch das Anfang November d.J. in Paris versammelte, internationake „Anti-AKW-Sozialforum“ stattete deswegen dort einen Besuch ab. // https://france3-regions.francetvinfo.fr // Umweltminister Nicolas Hulot hat seine Unbeliebtheit bei Umweltschützerinnen sowie Atomkraftkritikern nicht dadurch verringert, dass er im November diese Jahres das Endlagerprojekt in Bure als „geringstes Übel“ bezeichnete // https://www.goodplanet.info/ // und dadurch erneute Kritik auf sich vereinigte. // http://www.estrepublicain.fr //

Einziges Trostpflaster im Augenblick: Das Uralt-AKW im elsässischen Fessenheim, in geographischer Nähe zu den Städten Freiburg und Basel, soll nun Ende 2018 endlich, endlich stillgelegt werden. // https://reporterre.net // Dieser Beschluss ist nun „durch“ // https://www.lesechos.fr///; die Vorgängerregierung unter François Hollande hatte ihn angekündigt, aber nicht einmal das hatte sie in ihrer Amtszeit bewerkstelligt.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Artikel zur Zweitveröffentlichung. Erstveröffentlichung bei  telepolis am 28. November 17