Engels' Briefe aus den Jahren 1890-1895
Briefe zur materialistischen Geschichtsauffassung

von
Matthäus Klein u.a.

12/2017

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Eine bedeutende Bereicherung erfuhr die marxistische Weltanschau­ung in Engels' Briefen aus den Jahren 1890-95. Sein Briefwechsel mit den Führern und Theoretikern der internationalen Arbeiterbewe­gung sowie mit anderen an der marxistischen Theorie interessierten Personen widerspiegelt die weite Anwendung und Verbreitung sowie die Anerkennung, welche die marxistische Weltanschauung in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts gefunden hatte. Der Briefwechsel widerspiegelt aber auch Engels' großen Anteil an der Verbreitung des wissenschaftlichen Sozialismus und dessen Vereini­gung mit der Arbeiterbewegung. Die Skala der von Engels behandel­ten Fragen reicht von tagespolitischen und taktischen Fragen über Fragen der Geschichte und der politischen Ökonomie bis zu Proble­men der Literatur, der Geschichte der Philosophie, der Erkenntnis­theorie und der marxistischen Philosophie überhaupt. Besondere Auf­merksamkeit schenkte er den Problemen des ideologischen Klassen­kampfes und der ideologischen Festigung der Arbeiterparteien auf der Grundlage des Marxismus.

Das Prädikat Altersbriefe hat sich in der Literatur über die Ent­wicklung der marxistischen Theorie für die Bezeichnung derjenigen Briefe Engels' an Paul Ernst (5. 6. 90), Conrad Schmidt (5. 8. 90 und 27. 10. 90 und 1. 7. 91), Joseph Bloch (21./22. 9. 90), Franz Mehring (14. 7. 93), W. Borgius (25. 1. 94 - bisher als Brief an Starckenburg bekannt) und Werner Sombart (11.3. 95) eingebürgert, in denen er vor allem Grundfragen der materialistischen Geschichtsauffassung behandelte.

In diesen Briefen zur materialistischen Geschichtsauffassung setzt sich Engels direkt mit einigen Tendenzen der Verflachung und Vul­garisierung der marxistischen Philosophie auseinander, die bei bür­gerlichen Ideologen und Marxkritikern, aber auch bei jüngeren Partei­schriftstellern aufgetreten waren. Das Wesen dieser Verflachung und Verfälschung sah Engels darin, daß einerseits die materialistische Methode nicht als Leitfaden beim historischen Studium, sondern als 228 fertige Schablone behandelt wurde(573), und daß andererseits der Grundgedanke der materialistischen Geschichtsauffassung von der in letzter Instanz bestimmenden Rolle der Produktion und der Repro­duktion des wirklichen Lebens dahingehend verfälscht wurde, als sei das ökonomische Moment im gesellschaftlichen Leben das einzig be­stimmende. (574)

Engels machte darauf aufmerksam, daß gerade die dogmatische Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung durch jün­gere Parteischriftsteller bürgerlichen Ideologen Anlaß gab, dem Mar­xismus jene gebräuchliche, undialektische Auffassung zu unterstellen, wonach die ökonomische Lage allein Ursache und aktives Moment der gesellschaftlichen Entwicklung und alles andere nur passive Wir­kung sei. (575)
Darüber hinaus wies Engels aber auch das Unvermögen der bür­gerlichen Ideologen nach, von ihren theoretischen Positionen aus theoriegeschichtliche Zusammenhänge in der Entwicklung der mar­xistischen Philosophie zu erkennen. Engels schrieb dazu: „Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite ge­legt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst ver­schulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen."(576)

Damit betonte Engels nachdrücklich, daß bei der Herausbildung und Durchsetzung der marxistischen Philosophie, vor allem bei der materialistischen Erklärung des gesellschaftichen Lebens und seiner gesetzmäßigen geschichtlichen Entwicklung notwendig zunächst jene qualitativ neuen Grundgedanken über die primäre Rolle der ökono­mischen Verhältnisse in den Vordergrund gerückt werden mußten, in denen der Gegensatz zur idealistischen Gesellschaftsauffassung und utopischen und ethisch-idealistischen Begründung des Sozialismus ausgedrückt ist. Dieses notwendige Hervorheben der grundlegenden neuen Erkenntnisse kam darin zum Ausdruck, daß anfänglich die „Form über den Inhalt vernachlässigt"(577) wurde. Engels schrieb: „Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ablei­tung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachläs­sigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kom­men."(578) Engels schränkte diesen theoriegeschichtlichen Vorgang aber sowohl zeitlich als auch inhaltlich ein. Zunächst wies er darauf hin, daß dieses geschichtlich bedingte Hervortreten der neuen Grund­erkenntnisse über die bestimmende Rolle der ökonomischen Verhält­nisse nur jene Arbeiten von Marx und Engels betrifft, in denen die theoretischen Grundlagen der materialistischen Geschichtsauffassung dargestellt sind, nicht aber jene Werke, in denen die materialistische Geschichtsauffassung von ihnen angewandt wurde. „Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich."(579) Indem Engels z. B. Karl Marx' Werk Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte als ein ausgezeichnetes Beispiel einer solchen Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung cha­rakterisierte, bei der alle an der geschichtlichen Entwicklung beteilig­ten Seiten in ihrer tatsächlichen Wechselwirkung erfaßt und darge­stellt werden, zeigte er zugleich, daß weder Marx noch er jemals die ordinäre und undialektische Auffassung von der allein aktiven Rolle der ökonomischen Verhältnisse vertreten haben. Alle späteren Be­hauptungen der Revisionisten und Marxkritiker, Engels habe in den Altersbriefen die materialistische Geschichtsauffassung modifiziert, beruhen auf einer Verfälschung dieser Briefe und sind durch ihren Inhalt selbst widerlegt.

Engels wies selbst darauf hin - und schränkte damit das theorie-geschichtlich bedingte Hervortreten besonders der grundlegenden Seite der materialistischen Geschichtsauffassung zeitlich ein -, daß in seinen Werken Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft und Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie die Grundlagen der materialistischen Geschichtsauffas­sung ausführlich dargestellt sind, in denen alle an der Wechselwir­kung im gesellschaftlichen Leben beteiligten Momente berücksichtigt wurden.(580)

Des weiteren macht Engels auf entscheidende Bedingungen für die Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung aufmerksam.

"Es ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neue­ren ,Marxisten' nicht ersparen, und es ist da dann auch wunderbares Zeug geleistet worden."(581) Engels' Kritik richtet sich hier in erster Linie gegen jenes dogmatische und schablonenhafte Anwenden, bei dem „die materialistische Methode in ihr Gegenteil umschlägt"(582), das aus einem falschen Verständnis der materialistischen Geschichts­auffassung als Theorie und Methode resultiert. „Überhaupt dient das Wort .materialistisch' in Deutschland vielen jüngeren Schriftstellern als eine einfache Phrase, womit man alles und jedes ohne weiteres Studium etikettiert, d. h. diese Etikette aufklebt und dann die Sache abgetan zu haben glaubt. Unsere Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion ä la Hegelianertum."(583)

Gegen diese dogmatischen Erscheinungen arbeitete Engels grund­legende Bedingungen heraus, die bei der Anwendung der materiali­stischen Geschichtsauffassung und der Weiterentwicklung ihrer theo­retischen Grundlagen berücksichtigt werden müssen. Dabei konzen­trierte er sich vor allem auf solche Fragen, die mit einer wissenschaft­lichen Erforschung und Darstellung der Geschichte zusammenhängen. Da die ganze bisherige Geschichtsschreibung wesentlich idealistisch war, sah Engels eine Hauptaufgabe der marxistischen Wissenschaft darin, die ganze Geschichte neu zu studieren.(584) Das erforderte vor allem, die materiellen, ökonomischen Grundlagen des gesell­schaftlichen Lebens im einzelnen und in ihrer Entwicklung zu analy­sieren. Deshalb betrachtete es Engels als eine entscheidende Grund­bedingung für die Anwendung des historischen Materialismus auf die Geschichte, die „Daseinsbedingungen der verschiednen Gesellschafts­formationen" (585) zu studieren. Dazu war erforderlich, die Ökono­mie, die Geschichte der Ökonomie, die Geschichte des Handels, die Geschichte der Industrie, die Geschichte des Ackerbaus, die Ge­schichte der Gesellschaftsformationen auf der Grundlage des histo­rischen Materialismus auszuarbeiten.(586) Denn erst nachdem die „Daseinsbedingungen der verschiednen Gesellschaftsformationen" im einzelnen untersucht waren, konnte man dazu übergehen, „die politischen, privatrechtlichen, ästhetischen, philosophischen, religiö­sen etc. Anschauungsweisen, die ihnen entsprechen, aus ihnen abzu-leiten".(587)

In dieser Richtung deutete Engels an, wie die materialistische Geschichtsauffassung schöpferisch angewendet werden muß. „Das größte Hindernis zum richtigen Verständnis (der Geschichte - d. Verf.) ist in Deutschland die unverantwortliche Vernachlässigung in der Literatur der ökonomischen Geschichte."(588) Damit machte er zugleich deutlich, daß die Weiterentwicklung und Vertiefung der theoretischen und methodischen Prinzipien der materialistischen Ge­schichtsauffassung nur auf ihrer eigenen Grundlage und in Verallge­meinerung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammen­hänge möglich ist. Engels' Briefe sind selbst ein überzeugendes Bei­spiel dafür, wie er, gestützt auf seine umfangreichen und tiefgründigen polyhistorischen Kenntnisse, die methodologischen Prinzipien der marxistischen Philosophie, von der letztlich ökonomisch bestimmten dialektischen Wechselwirkung aller wesentlichen Seiten des gesell­schaftlichen Lebens ausgehend, entwickelte und nachwies, wie die Menschen ihre Geschichte machen.

„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter In­stanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens."(589) Indem die Menschen ihr wirkliches Leben produzieren und reproduzieren, machen sie ihre Ge­schichte selbst, aber „unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich ent-scheidenden."(590) Sie bilden die Basis der Geschichte der Gesell­schaft, „die Art und Weise, worin die Menschen einer bestimmten Gesellschaft ihren Lebensunterhalt produzieren und die Produkte untereinander austauschen (soweit Teilung der Arbeit besteht)"(591). Engels hob damit zunächst die sich innerhalb bestimmter gesellschaft­licher Formen und Verhältnisse vollziehende materielle Produktion oder Produktion der materiellen Lebensbedingungen als die ökono­mische Basis, als das bestimmende Moment der gesellschaftlichen Entwicklung hervor, als jene Seite, die die Richtung der geschichtlichen
Bewegung bestimmt und auf der in letzter Instanz alle anderen Seiten des gesellschaftlichen Lebens beruhen.

Es ist aber nicht „eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage"(592), die die Spezifik der gesellschaftlichen Bewegungsform ausmacht. „Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf der Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit."(593) Die Geschichte als das Werk der Menschen, als spezifische Bewegungsform der Ma­terie, kann daher nur verstanden werden, wenn ihre Untersuchung die anderen an der Wechselwirkung beteiligten Momente einbezieht und sie auf ihre ökonomischen Ursachen zurückführt.

Von diesen Prinzipien ausgehend, zerschlug Engels nicht nur die ordinäre und undialektische Auffassung, nach der die ökonomische Lage allein das aktive Moment der geschichtlichen Entwicklung ist, sondern wies auch auf ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln hin. „Was den Herren allen fehlt", schreibt er, „ist Dialektik. Sie sehen stets nur hier Ursache, dort Wirkung. Daß dies eine hohle Abstrak­tion ist, daß in der wirklichen Welt solche metaphysische polare Ge­gensätze nur in Krisen existieren, daß der ganze große Verlauf aber in der Form der Wechselwirkung - wenn auch sehr ungleicher Kräfte, wovon die ökonomische Bewegung weitaus die stärkste, ur­sprünglichste, entscheidendste - vor sich geht, daß hier nichts absolut und alles relativ ist, das sehn sie nun einmal nicht, für sie hat Hegel nicht existiert."(594)

Zugleich wandte Engels sich damit gegen jene zum Idealismus in der Geschichtsauffassung führende Ansicht, nach der die an der Wechselwirkung der geschichtlichen Bewegung beteiligten Momente gleichwertig seien. Er wies nach, daß die geschichtliche Bewegung durch die Wechselwirkung ungleicher Kräfte, der ökonomischen Be­wegung als der letztlich bestimmenden auf der einen Seite(595) und der politischen, ideologischen und sozialen u. a. Momente auf der an­deren Seite charakterisiert ist. Nur die Rückführung aller an der Wechselwirkung beteiligten Momente auf die ökonomischen Notwen­digkeiten führt zum wissenschaftlichen, materialistischen Verständnis der Geschichte, da die ökonomischen Verhältnisse „doch in letzter Instanz die entscheidenden sind und den durchgehenden, allein zum Verständnis führenden roten Faden bilden"(596).

Die dialektische materialistische Auffassung über die geschicht­liche Bewegung als Wechselwirkung ungleicher, jedoch geschichtlich aktiver Kräfte entwickelte Engels vor allem an zwei großen Fragen­komplexen. Einmal behandelte er die Frage, wie die Menschen ihre Geschichte als gesetzmäßig sich vollziehende Bewegung (in der bis­herigen Geschichte) selbst machen. Zum anderen wies er nach, in welcher Weise die anderen an der geschichtlichen Bewegung beteilig­ten Momente selbst aktiv wirken, auf die ökonomischen Verhältnisse zurückwirken und im Rahmen ihrer relativen Selbständigkeit einen bestimmenden Einfluß ausüben. Engels kennzeichnete als charakteri­stischen Zug der bisherigen Geschichte, daß die Menschen ihre Ge­schichte selbst machen. Aber da sie dabei nicht nach einem Gesamt­plan vorgehen und nicht mit einem Gesamtwillen handeln, durch­kreuzen sich ihre individuellen Ziele und Bestrebungen, und die geschichtliche Bewegung, die Durchsetzung der Notwendigkeit er­folgt spontan. Die Geschichte macht sich so, „daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem ge­macht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreu­zende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante - das geschichtliche Ergebnis - hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann"(597).

Solange die Gesellschaft nicht nach einem Gesamtplan geleitet werden kann, herrscht „die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist"(598). Die Erfassung der dia­lektischen Zusammenhänge zwischen Notwendigkeit und Zufall in der Geschichte betrachtete Engels als eine wichtige Voraussetzung für die wissenschaftliche Beantwortung der Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, aber auch für das Verständnis der­jenigen gesellschaftlichen Erscheinungen, die nicht direkt, unmittel­bar mit den ökonomischen Verhältnissen verbunden sind.(599)

Engels erbringt den Beweis, daß alle Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins letztlich durch die Entwicklung der ökonomischen Basis der Gesellschaft bestimmt werden, und demonstriert anhand der Phi­losophie und anderer ideologischer Bereiche das Primat der Ökono­mie. „Die schließliche Suprematie der ökonomischen Entwicklung auch über diese Gebiete steht mir fest, aber sie findet statt innerhalb der durch das einzelne Gebiet selbst vorgeschriebnen Bedingungen: in der Philosophie z. B. durch Einwirkung ökonomischer Einflüsse (die meist wieder erst in ihrer politischen usw. Verkleidung wirken) auf das vorhandne philosophische Material, das die Vorgänger ge­liefert haben. Die Ökonomie schafft hier nichts a novo, sie bestimmt aber die Art der Abändrung und Fortbildung des vorgefundnen Ge­dankenstoffs, und auch das meist indirekt, indem es die politischen, juristischen, moralischen Reflexe sind, die die größte direkte Wir­kung auf die Philosophie üben."(600)

Die Einwirkung der Ökonomie auf den Überbau erfolgt also nicht immer unmittelbar, sondern indirekt und vermittelt über Zwischen­glieder. Es gibt daher kein mechanisches Verhältnis der Entwicklung der Beziehung zwischen der Ökonomie und den verschiedenen Be­reichen des Überbaus. Engels begründet die These, daß jedes ideo­logische Gebiet eine relative Selbständigkeit besitzt, und geht in die­sem Zusammenhang auch auf die relative Selbständigkeit des gesell­schaftlichen Bewußtseins ein. Wie das gesellschaftliche Bewußtsein, so folgen alle gesellschaftlichen Erscheinungen, obwohl sie in letzter Instanz von der Bewegung und Entwicklung der Produktion be­stimmt werden, innerhalb der allgemeinen Abhängigkeit von der Ba­sis und der Wechselwirkung mit den anderen gesellschaftlichen Er­scheinungen einer eigenen Bewegung, die in der Natur dieser Er­scheinungen liegt.

Engels formulierte diesen Vorgang so: „Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen, sich vom Ökonomischen entfernt und sich dem reinen abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten aufweist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve. Zeichnen Sie aber die Durch­schnittsachse der Kurve, so werden Sie finden, daß, je länger die be­trachtete Periode und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung um so mehr annähernd parallel läuft."(601)

In diesem Zusammenhang präzisierte Engels die verschiedenen Aspekte der relativen Selbständigkeit des gesellschaftlichen Bewußt­seins. Am Beispiel der Religion und der Philosophie wies er nach, daß das gesellschaftliche Bewußtsein als Ganzes und jede seiner Formen an vorhandenes Gedankenmaterial anknüpfen muß und mit ihm in Zusammenhang steht, wobei seine Entwicklung ein Prozeß ist, in dem Kontinuität und Diskontinuität eine untrennbare Einheit bil­den, aber die gegebenen materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse dafür bestimmend sind, an welches Gedankengut angeknüpft und auf welche Art und Weise es fortgeführt wird.

Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Problematik der re­lativen Selbständigkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins entwik-kelte Engels auch die Lehre von der aktiven Rolle des Überbaus wei­ter. Er zeigte, daß die verschiedenen Momente des Überbaus aktiv auf den Verlauf der geschichtlichen Entwicklung einwirken. Er de­monstrierte die Rückwirkung der verschiedenen Elemente des Über­baus auf die Basis. Dabei charakterisierte er auch eingehend das Ver­hältnis zwischen der ökonomischen Entwicklung und dem Staat. Hier entwickelte er die bereits im Anti-Dühring aufgestellte These, daß die Rückwirkung der Staatsmacht auf die Ökonomie dreifacher Art sein kann. „Sie kann in derselben Richtung vorgehn, dann geht's rascher, sie kann dagegen angehn, dann geht sie heutzutage auf die Dauer in jedem großen Volk kaputt, oder sie kann der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen abschneiden und andre vor­schreiben - dieser Fall reduziert sich schließlich auf einen der beiden vorhergehenden. Es ist aber klar, daß in den Fällen II und III die politische Macht der ökonomischen Entwicklung großen Schaden tun und Kraft- und Stoffvergeudung in Massen erzeugen kann."(602)

Die Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Staat ist nach En­gels die Wechselwirkung zweier ungleicher Kräfte, wobei der Ökono­mie die dominierende Rolle zukommt. Fördert die betreffende Ge­sellschaftsordnung die Entwicklung der Produktivkräfte, so wirkt die Staatsmacht, die diese Ordnung unterstützt, im Sinne der ökonomi­schen Entwicklung. Wird die bestehende Gesellschaft jedoch zum Hemmnis für die ökonomische Entwicklung, wirkt die sie unterstüt­zende Staatsmacht der ökonomischen Entwicklung entgegen. Da die
Ökonomie der entscheidende Faktor in der Entwicklung der Gesell­schaft ist, gerät die Staatsmacht, wenn sie überlebte gesellschaftliche Verhältnisse unterstützt, in Widerspruch zur ökonomischen Entwick­lung. Dieser Konflikt endet stets mit der Niederlage der herrschen­den Klasse und ihres Staates.(603)

Neben den allgemeinen methodologischen Prinzipien der materia­listischen Geschichtsauffassung entwickelte Engels von ihrem Stand­punkt aus aber auch spezielle Prinzipien, die nur für einige oder einzelne historische Disziplinen Gültigkeit besitzen. Große Bedeu­tung für die wissenschaftliche Ausarbeitung der Geschichte der Phi­losophie hat dabei der von ihm erbrachte Nachweis, daß die einzel­nen Philosophen nach dem Bleibenden, Fortschrittlichen ihrer Tätig­keit und nicht nach dem notwendig Vergänglichen, Reaktionären, nach dem System beurteilt werden müssen. Eine Betrachtungsweise der Geschichte der Philosophie, so erklärte Engels, die die einzelnen Philosophen nur nach dem Vergänglichen und Reaktionären beurteilt, führt dazu, die ganze Geschichte der Philosophie nur als einen Trüm­merhaufen zusammengebrochener Systeme zu betrachten.(604)

Demgegenüber betonte er, unter Hinweis auf Hegel, daß es viel „... wichtiger ist, unter der unrichtigen Form und im erkünstelten Zusammenhang das Richtige und Geniale herauszufinden" (605).

Anmerkungen

573) Siehe Engels an Ernst, 5. Juni 1890 (Entwurf). In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 411.
574) Siehe Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In: Ebenda, S. 463.
575) Siehe Engels an Mehring, 14. Juli 1893. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 98. - Siehe Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In: Ebenda, S. 206.
576) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 465. - Siehe Engels an Mehring, 14. Juli 1893. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 96.
577) Engels an Mehring, 14. Juli 1893. In: Ebenda, S. 98.
578) Ebenda, S. 96.
579) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 465.
580) Siehe ebenda, S. 464. - Siehe Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In: Marx/ Engels: Werke, Bd. 39, S. 207.
581) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 465.
582) Engels an Ernst, 5. Juni 1890 (Entwurf). In: Ebenda, S. 411.
583) Engels an Schmidt, 5. August 1890. In: Ebenda, S. 436.
584) Siehe ebenda.
585) Ebenda, S. 437.
586) Siehe ebenda.
587) Ebenda.
588) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 207.
589) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 463.
590) Ebenda.
591) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 205.
592) Ebenda, S. 206.
593) Ebenda.
594) Engels an Schmidt, 27. Oktober 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 494.
595) Siehe ebenda, S. 490.
596) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 206.
597) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 464.
598) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 206.
599) Siehe ebenda, S. 206 f.
600) Engels an Schmidt, 27. Oktober 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 493.
601) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 207.
602) Engels an Schmidt, 27. Oktober 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 490/491.
603) Siehe ebenda.
604) Siehe Engels an Schmidt, 1. Juli 1891. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 38, S. 128.
605) Engels an Schmidt, 1. November 1891. In: Ebenda, S. 204.

Editorischer Hinweis

Dieser Text ist ein Leseauszug aus: Matthäus Klein, Erhard Lange, Friedich Richter, Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in Deutschland, Bad 1, 2. Halbband, Berlin 1969, S. 228-237