Eine bedeutende
Bereicherung erfuhr die marxistische
Weltanschauung in Engels' Briefen aus den Jahren
1890-95. Sein Briefwechsel mit den Führern und
Theoretikern der internationalen Arbeiterbewegung
sowie mit anderen an der marxistischen Theorie
interessierten Personen widerspiegelt die weite
Anwendung und Verbreitung sowie die Anerkennung,
welche die marxistische Weltanschauung in den
letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts
gefunden hatte. Der Briefwechsel widerspiegelt aber
auch Engels' großen Anteil an der Verbreitung des
wissenschaftlichen Sozialismus und dessen
Vereinigung mit der Arbeiterbewegung. Die Skala
der von Engels behandelten Fragen reicht von
tagespolitischen und taktischen Fragen über Fragen
der Geschichte und der politischen Ökonomie bis zu
Problemen der Literatur, der Geschichte der
Philosophie, der Erkenntnistheorie und der
marxistischen Philosophie überhaupt. Besondere
Aufmerksamkeit schenkte er den Problemen des
ideologischen Klassenkampfes und der ideologischen
Festigung der Arbeiterparteien auf der Grundlage
des Marxismus.
Das Prädikat
Altersbriefe hat sich in der Literatur über die
Entwicklung der marxistischen Theorie für die
Bezeichnung derjenigen Briefe Engels' an Paul Ernst
(5. 6. 90), Conrad Schmidt (5. 8. 90 und 27. 10. 90
und 1. 7. 91), Joseph Bloch (21./22. 9. 90), Franz
Mehring (14. 7. 93), W. Borgius (25. 1. 94 - bisher
als Brief an Starckenburg bekannt) und Werner
Sombart (11.3. 95) eingebürgert, in denen er vor
allem Grundfragen der materialistischen
Geschichtsauffassung behandelte.
In diesen Briefen
zur materialistischen Geschichtsauffassung setzt
sich Engels direkt mit einigen Tendenzen der
Verflachung und Vulgarisierung der marxistischen
Philosophie auseinander, die bei bürgerlichen
Ideologen und Marxkritikern, aber auch bei jüngeren
Parteischriftstellern aufgetreten waren. Das Wesen
dieser Verflachung und Verfälschung sah Engels
darin, daß einerseits die materialistische Methode
nicht als Leitfaden beim historischen Studium,
sondern als 228 fertige
Schablone behandelt wurde(573), und daß
andererseits der Grundgedanke der materialistischen
Geschichtsauffassung von der in letzter Instanz
bestimmenden Rolle der Produktion und der
Reproduktion des wirklichen Lebens dahingehend
verfälscht wurde, als sei das ökonomische Moment im
gesellschaftlichen Leben das einzig bestimmende.
(574)
Engels machte
darauf aufmerksam, daß gerade die dogmatische
Anwendung der materialistischen
Geschichtsauffassung durch jüngere
Parteischriftsteller bürgerlichen Ideologen Anlaß
gab, dem Marxismus jene gebräuchliche,
undialektische Auffassung zu unterstellen, wonach
die ökonomische Lage allein Ursache und aktives
Moment der gesellschaftlichen Entwicklung und alles
andere nur passive Wirkung sei. (575)
Darüber hinaus wies Engels aber auch das Unvermögen
der bürgerlichen Ideologen nach, von ihren
theoretischen Positionen aus theoriegeschichtliche
Zusammenhänge in der Entwicklung der marxistischen
Philosophie zu erkennen. Engels schrieb dazu: „Daß
von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die
ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt,
haben Marx und ich teilweise selbst verschulden
müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von
diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da
war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die
übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente
zu ihrem Recht kommen zu lassen."(576)
Damit betonte
Engels nachdrücklich, daß bei der Herausbildung und
Durchsetzung der marxistischen Philosophie, vor
allem bei der materialistischen Erklärung des
gesellschaftichen Lebens und seiner gesetzmäßigen
geschichtlichen Entwicklung notwendig zunächst jene
qualitativ neuen Grundgedanken über die primäre
Rolle der ökonomischen Verhältnisse in den
Vordergrund gerückt werden mußten, in denen der
Gegensatz zur idealistischen
Gesellschaftsauffassung und utopischen und
ethisch-idealistischen Begründung des Sozialismus
ausgedrückt ist. Dieses notwendige Hervorheben der
grundlegenden neuen Erkenntnisse kam darin zum
Ausdruck, daß anfänglich die „Form über den Inhalt
vernachlässigt"(577) wurde. Engels schrieb:
„Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht
auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und
sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch
diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den
ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen
müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite
über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und
Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande
kommen."(578) Engels schränkte diesen
theoriegeschichtlichen Vorgang aber sowohl zeitlich
als auch inhaltlich ein. Zunächst wies er darauf
hin, daß dieses geschichtlich bedingte Hervortreten
der neuen Grunderkenntnisse über die bestimmende
Rolle der ökonomischen Verhältnisse nur jene
Arbeiten von Marx und Engels betrifft, in denen die
theoretischen Grundlagen der materialistischen
Geschichtsauffassung dargestellt sind, nicht aber
jene Werke, in denen die materialistische
Geschichtsauffassung von ihnen angewandt wurde.
„Aber sowie es zur Darstellung eines historischen
Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam,
änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum
möglich."(579) Indem Engels z. B. Karl Marx' Werk
Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte als ein
ausgezeichnetes Beispiel einer solchen Anwendung
der materialistischen Geschichtsauffassung
charakterisierte, bei der alle an der
geschichtlichen Entwicklung beteiligten Seiten in
ihrer tatsächlichen Wechselwirkung erfaßt und
dargestellt werden, zeigte er zugleich, daß weder
Marx noch er jemals die ordinäre und undialektische
Auffassung von der allein aktiven Rolle der
ökonomischen Verhältnisse vertreten haben. Alle
späteren Behauptungen der Revisionisten und
Marxkritiker, Engels habe in den Altersbriefen die
materialistische Geschichtsauffassung modifiziert,
beruhen auf einer Verfälschung dieser Briefe und
sind durch ihren Inhalt selbst widerlegt.
Engels wies selbst
darauf hin - und schränkte damit das
theorie-geschichtlich bedingte Hervortreten
besonders der grundlegenden Seite der
materialistischen Geschichtsauffassung zeitlich ein
-, daß in seinen Werken Herrn Eugen Dührings
Umwälzung der Wissenschaft und Ludwig Feuerbach und
der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie
die Grundlagen der materialistischen
Geschichtsauffassung ausführlich dargestellt sind,
in denen alle an der Wechselwirkung im
gesellschaftlichen Leben beteiligten Momente
berücksichtigt wurden.(580)
Des weiteren macht
Engels auf entscheidende Bedingungen für die
Anwendung der materialistischen
Geschichtsauffassung aufmerksam.
"Es
ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine
neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und
ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die
Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht
immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem
der neueren ,Marxisten' nicht ersparen, und es ist
da dann auch wunderbares Zeug geleistet
worden."(581) Engels' Kritik richtet sich hier in
erster Linie gegen jenes dogmatische und
schablonenhafte Anwenden, bei dem „die
materialistische Methode in ihr Gegenteil
umschlägt"(582), das aus einem falschen Verständnis
der materialistischen Geschichtsauffassung als
Theorie und Methode resultiert. „Überhaupt dient
das Wort .materialistisch' in Deutschland vielen
jüngeren Schriftstellern als eine einfache Phrase,
womit man alles und jedes ohne weiteres Studium
etikettiert, d. h. diese Etikette aufklebt und dann
die Sache abgetan zu haben glaubt. Unsere
Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine
Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion
ä la Hegelianertum."(583)
Gegen diese
dogmatischen Erscheinungen arbeitete Engels
grundlegende Bedingungen heraus, die bei der
Anwendung der materialistischen
Geschichtsauffassung und der Weiterentwicklung
ihrer theoretischen Grundlagen berücksichtigt
werden müssen. Dabei konzentrierte er sich vor
allem auf solche Fragen, die mit einer
wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung der
Geschichte zusammenhängen. Da die ganze bisherige
Geschichtsschreibung wesentlich idealistisch war,
sah Engels eine Hauptaufgabe der marxistischen
Wissenschaft darin, die ganze Geschichte neu zu
studieren.(584) Das erforderte vor allem, die
materiellen, ökonomischen Grundlagen des
gesellschaftlichen Lebens im einzelnen und in
ihrer Entwicklung zu analysieren. Deshalb
betrachtete es Engels als eine entscheidende
Grundbedingung für die Anwendung des historischen
Materialismus auf die Geschichte, die
„Daseinsbedingungen der verschiednen
Gesellschaftsformationen" (585) zu studieren. Dazu
war erforderlich, die Ökonomie, die Geschichte der
Ökonomie, die Geschichte des Handels, die
Geschichte der Industrie, die Geschichte des
Ackerbaus, die Geschichte der
Gesellschaftsformationen auf der Grundlage des
historischen Materialismus auszuarbeiten.(586)
Denn erst nachdem die
„Daseinsbedingungen der verschiednen
Gesellschaftsformationen" im einzelnen untersucht
waren, konnte man dazu übergehen, „die politischen,
privatrechtlichen, ästhetischen, philosophischen,
religiösen etc. Anschauungsweisen, die ihnen
entsprechen, aus ihnen abzu-leiten".(587)
In dieser Richtung
deutete Engels an, wie die materialistische
Geschichtsauffassung schöpferisch angewendet werden
muß. „Das größte Hindernis zum richtigen
Verständnis (der Geschichte - d. Verf.) ist in
Deutschland die unverantwortliche Vernachlässigung
in der Literatur der ökonomischen Geschichte."(588)
Damit machte er zugleich deutlich, daß die
Weiterentwicklung und Vertiefung der theoretischen
und methodischen Prinzipien der materialistischen
Geschichtsauffassung nur auf ihrer eigenen
Grundlage und in Verallgemeinerung der
geschichtlichen und gesellschaftlichen
Zusammenhänge möglich ist. Engels' Briefe sind
selbst ein überzeugendes Beispiel dafür, wie er,
gestützt auf seine umfangreichen und tiefgründigen
polyhistorischen Kenntnisse, die methodologischen
Prinzipien der marxistischen Philosophie, von der
letztlich ökonomisch bestimmten dialektischen
Wechselwirkung aller wesentlichen Seiten des
gesellschaftlichen Lebens ausgehend, entwickelte
und nachwies, wie die Menschen ihre Geschichte
machen.
„Nach
materialistischer Geschichtsauffassung ist das in
letzter Instanz bestimmende Moment in der
Geschichte die Produktion und Reproduktion des
wirklichen Lebens."(589) Indem die Menschen ihr
wirkliches Leben produzieren und reproduzieren,
machen sie ihre Geschichte selbst, aber „unter
sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen.
Darunter sind die ökonomischen die schließlich
ent-scheidenden."(590) Sie bilden die Basis der
Geschichte der Gesellschaft, „die Art und Weise,
worin die Menschen einer bestimmten Gesellschaft
ihren Lebensunterhalt produzieren und die Produkte
untereinander austauschen (soweit Teilung der
Arbeit besteht)"(591). Engels hob damit zunächst
die sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher
Formen und Verhältnisse vollziehende materielle
Produktion oder Produktion der materiellen
Lebensbedingungen als die ökonomische Basis, als
das bestimmende Moment der gesellschaftlichen
Entwicklung hervor, als jene Seite, die die
Richtung der geschichtlichen
Bewegung bestimmt und auf der in letzter Instanz
alle anderen Seiten des gesellschaftlichen Lebens
beruhen.
Es ist aber nicht
„eine automatische Wirkung der ökonomischen
Lage"(592), die die Spezifik der gesellschaftlichen
Bewegungsform ausmacht. „Es ist nicht, daß die
ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und
alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist
Wechselwirkung auf der Grundlage der in letzter
Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen
Notwendigkeit."(593) Die Geschichte als das Werk
der Menschen, als spezifische Bewegungsform der
Materie, kann daher nur verstanden werden, wenn
ihre Untersuchung die anderen an der Wechselwirkung
beteiligten Momente einbezieht und sie auf ihre
ökonomischen Ursachen zurückführt.
Von diesen
Prinzipien ausgehend, zerschlug Engels nicht nur
die ordinäre und undialektische Auffassung, nach
der die ökonomische Lage allein das aktive Moment
der geschichtlichen Entwicklung ist, sondern wies
auch auf ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln hin.
„Was den Herren allen fehlt", schreibt er, „ist
Dialektik. Sie sehen stets nur hier Ursache, dort
Wirkung. Daß dies eine hohle Abstraktion ist, daß
in der wirklichen Welt solche metaphysische polare
Gegensätze nur in Krisen existieren, daß der ganze
große Verlauf aber in der Form der Wechselwirkung -
wenn auch sehr ungleicher Kräfte, wovon die
ökonomische Bewegung weitaus die stärkste,
ursprünglichste, entscheidendste - vor sich geht,
daß hier nichts absolut und alles relativ ist, das
sehn sie nun einmal nicht, für sie hat Hegel nicht
existiert."(594)
Zugleich wandte
Engels sich damit gegen jene zum Idealismus in der
Geschichtsauffassung führende Ansicht, nach der die
an der Wechselwirkung der geschichtlichen Bewegung
beteiligten Momente gleichwertig seien. Er wies
nach, daß die geschichtliche Bewegung durch die
Wechselwirkung ungleicher Kräfte, der ökonomischen
Bewegung als der letztlich bestimmenden auf der
einen Seite(595) und der politischen, ideologischen
und sozialen u. a. Momente auf der anderen Seite
charakterisiert ist. Nur die Rückführung aller an
der Wechselwirkung beteiligten Momente auf die
ökonomischen Notwendigkeiten führt zum
wissenschaftlichen, materialistischen Verständnis
der Geschichte, da die ökonomischen Verhältnisse
„doch in letzter Instanz die
entscheidenden sind und den durchgehenden, allein
zum Verständnis führenden roten Faden bilden"(596).
Die dialektische
materialistische Auffassung über die
geschichtliche Bewegung als Wechselwirkung
ungleicher, jedoch geschichtlich aktiver Kräfte
entwickelte Engels vor allem an zwei großen
Fragenkomplexen. Einmal behandelte er die Frage,
wie die Menschen ihre Geschichte als gesetzmäßig
sich vollziehende Bewegung (in der bisherigen
Geschichte) selbst machen. Zum anderen wies er
nach, in welcher Weise die anderen an der
geschichtlichen Bewegung beteiligten Momente
selbst aktiv wirken, auf die ökonomischen
Verhältnisse zurückwirken und im Rahmen ihrer
relativen Selbständigkeit einen bestimmenden
Einfluß ausüben. Engels kennzeichnete als
charakteristischen Zug der bisherigen Geschichte,
daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen.
Aber da sie dabei nicht nach einem Gesamtplan
vorgehen und nicht mit einem Gesamtwillen handeln,
durchkreuzen sich ihre individuellen Ziele und
Bestrebungen, und die geschichtliche Bewegung, die
Durchsetzung der Notwendigkeit erfolgt spontan.
Die Geschichte macht sich so, „daß das Endresultat
stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen
hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge
besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird,
was er ist; es sind also unzählige einander
durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von
Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante -
das geschichtliche Ergebnis - hervorgeht, die
selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes,
bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen
werden kann"(597).
Solange die
Gesellschaft nicht nach einem Gesamtplan geleitet
werden kann, herrscht „die Notwendigkeit, deren
Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit
ist"(598). Die Erfassung der dialektischen
Zusammenhänge zwischen Notwendigkeit und Zufall in
der Geschichte betrachtete Engels als eine wichtige
Voraussetzung für die wissenschaftliche
Beantwortung der Frage nach der Rolle der
Persönlichkeit in der Geschichte, aber auch für das
Verständnis derjenigen gesellschaftlichen
Erscheinungen, die nicht direkt, unmittelbar mit
den ökonomischen Verhältnissen verbunden sind.(599)
Engels erbringt
den Beweis, daß alle Formen des gesellschaftlichen
Bewußtseins letztlich durch die Entwicklung der
ökonomischen Basis der Gesellschaft bestimmt
werden, und demonstriert anhand der Philosophie
und anderer ideologischer Bereiche das Primat der
Ökonomie. „Die schließliche Suprematie der
ökonomischen Entwicklung auch über diese Gebiete
steht mir fest, aber sie findet statt innerhalb der
durch das einzelne Gebiet selbst vorgeschriebnen
Bedingungen: in der Philosophie z. B. durch
Einwirkung ökonomischer Einflüsse (die meist wieder
erst in ihrer politischen usw. Verkleidung wirken)
auf das vorhandne philosophische Material, das die
Vorgänger geliefert haben. Die Ökonomie schafft
hier nichts a novo, sie bestimmt aber die Art der
Abändrung und Fortbildung des vorgefundnen
Gedankenstoffs, und auch das meist indirekt, indem
es die politischen, juristischen, moralischen
Reflexe sind, die die größte direkte Wirkung auf
die Philosophie üben."(600)
Die Einwirkung der
Ökonomie auf den Überbau erfolgt also nicht immer
unmittelbar, sondern indirekt und vermittelt über
Zwischenglieder. Es gibt daher kein mechanisches
Verhältnis der Entwicklung der Beziehung zwischen
der Ökonomie und den verschiedenen Bereichen des
Überbaus. Engels begründet die These, daß jedes
ideologische Gebiet eine relative Selbständigkeit
besitzt, und geht in diesem Zusammenhang auch auf
die relative Selbständigkeit des
gesellschaftlichen Bewußtseins ein. Wie das
gesellschaftliche Bewußtsein, so folgen alle
gesellschaftlichen Erscheinungen, obwohl sie in
letzter Instanz von der Bewegung und Entwicklung
der Produktion bestimmt werden, innerhalb der
allgemeinen Abhängigkeit von der Basis und der
Wechselwirkung mit den anderen gesellschaftlichen
Erscheinungen einer eigenen Bewegung, die in der
Natur dieser Erscheinungen liegt.
Engels formulierte
diesen Vorgang so: „Je weiter das Gebiet, das wir
grade untersuchen, sich vom Ökonomischen entfernt
und sich dem reinen abstrakt Ideologischen nähert,
desto mehr werden wir finden, daß es in seiner
Entwicklung Zufälligkeiten aufweist, desto mehr im
Zickzack verläuft seine Kurve. Zeichnen Sie aber
die Durchschnittsachse der Kurve, so werden Sie
finden, daß, je länger die betrachtete Periode und
je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese
Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung um so
mehr annähernd parallel läuft."(601)
In diesem
Zusammenhang präzisierte Engels die verschiedenen
Aspekte der relativen Selbständigkeit des
gesellschaftlichen Bewußtseins. Am Beispiel der
Religion und der Philosophie wies er nach, daß das
gesellschaftliche Bewußtsein als Ganzes und jede
seiner Formen an vorhandenes Gedankenmaterial
anknüpfen muß und mit ihm in Zusammenhang steht,
wobei seine Entwicklung ein Prozeß ist, in dem
Kontinuität und Diskontinuität eine untrennbare
Einheit bilden, aber die gegebenen materiellen
gesellschaftlichen Verhältnisse dafür bestimmend
sind, an welches Gedankengut angeknüpft und auf
welche Art und Weise es fortgeführt wird.
Im Zusammenhang
mit der Ausarbeitung der Problematik der relativen
Selbständigkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins
entwik-kelte Engels auch die Lehre von der aktiven
Rolle des Überbaus weiter. Er zeigte, daß die
verschiedenen Momente des Überbaus aktiv auf den
Verlauf der geschichtlichen Entwicklung einwirken.
Er demonstrierte die Rückwirkung der verschiedenen
Elemente des Überbaus auf die Basis. Dabei
charakterisierte er auch eingehend das Verhältnis
zwischen der ökonomischen Entwicklung und dem
Staat. Hier entwickelte er die bereits im
Anti-Dühring aufgestellte These, daß die
Rückwirkung der Staatsmacht auf die Ökonomie
dreifacher Art sein kann. „Sie kann in derselben
Richtung vorgehn, dann geht's rascher, sie kann
dagegen angehn, dann geht sie heutzutage auf die
Dauer in jedem großen Volk kaputt, oder sie kann
der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen
abschneiden und andre vorschreiben - dieser Fall
reduziert sich schließlich auf einen der beiden
vorhergehenden. Es ist aber klar, daß in den Fällen
II und III die politische Macht der ökonomischen
Entwicklung großen Schaden tun und Kraft- und
Stoffvergeudung in Massen erzeugen kann."(602)
Die Wechselwirkung
zwischen Ökonomie und Staat ist nach Engels die
Wechselwirkung zweier ungleicher Kräfte, wobei der
Ökonomie die dominierende Rolle zukommt. Fördert
die betreffende Gesellschaftsordnung die
Entwicklung der Produktivkräfte, so wirkt die
Staatsmacht, die diese Ordnung unterstützt, im
Sinne der ökonomischen Entwicklung. Wird die
bestehende Gesellschaft jedoch zum Hemmnis für die
ökonomische Entwicklung, wirkt die sie
unterstützende Staatsmacht der ökonomischen
Entwicklung entgegen. Da die
Ökonomie der entscheidende Faktor in der
Entwicklung der Gesellschaft ist, gerät die
Staatsmacht, wenn sie überlebte gesellschaftliche
Verhältnisse unterstützt, in Widerspruch zur
ökonomischen Entwicklung. Dieser Konflikt endet
stets mit der Niederlage der herrschenden Klasse
und ihres Staates.(603)
Neben den
allgemeinen methodologischen Prinzipien der
materialistischen Geschichtsauffassung entwickelte
Engels von ihrem Standpunkt aus aber auch
spezielle Prinzipien, die nur für einige oder
einzelne historische Disziplinen Gültigkeit
besitzen. Große Bedeutung für die
wissenschaftliche Ausarbeitung der Geschichte der
Philosophie hat dabei der von ihm erbrachte
Nachweis, daß die einzelnen Philosophen nach dem
Bleibenden, Fortschrittlichen ihrer Tätigkeit und
nicht nach dem notwendig Vergänglichen,
Reaktionären, nach dem System beurteilt werden
müssen. Eine Betrachtungsweise der Geschichte der
Philosophie, so erklärte Engels, die die einzelnen
Philosophen nur nach dem Vergänglichen und
Reaktionären beurteilt, führt dazu, die ganze
Geschichte der Philosophie nur als einen
Trümmerhaufen zusammengebrochener Systeme zu
betrachten.(604)
Demgegenüber
betonte er, unter Hinweis auf Hegel, daß es viel
„... wichtiger ist, unter der unrichtigen Form und
im erkünstelten Zusammenhang das Richtige und
Geniale herauszufinden" (605).
Anmerkungen
573) Siehe Engels an Ernst, 5. Juni 1890 (Entwurf).
In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 411.
574) Siehe Engels an Bloch, 21./22. September 1890.
In: Ebenda, S. 463.
575) Siehe Engels an Mehring, 14. Juli 1893. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 98. - Siehe Engels
an Borgius, 25. Januar 1894. In: Ebenda, S. 206.
576) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 465. - Siehe Engels
an Mehring, 14. Juli 1893. In: Marx/Engels: Werke,
Bd. 39, S. 96.
577) Engels an Mehring, 14. Juli 1893. In: Ebenda,
S. 98.
578) Ebenda, S. 96.
579) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 465.
580) Siehe ebenda, S. 464. - Siehe Engels an
Borgius, 25. Januar 1894. In: Marx/ Engels: Werke,
Bd. 39, S. 207.
581) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 465.
582) Engels an Ernst, 5. Juni 1890 (Entwurf). In:
Ebenda, S. 411.
583) Engels an Schmidt, 5. August 1890. In: Ebenda,
S. 436.
584) Siehe ebenda.
585) Ebenda, S. 437.
586) Siehe ebenda.
587) Ebenda.
588) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 207.
589) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 463.
590) Ebenda.
591) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 205.
592) Ebenda, S. 206.
593) Ebenda.
594) Engels an Schmidt, 27. Oktober 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 494.
595) Siehe ebenda, S. 490.
596) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 206.
597) Engels an Bloch, 21./22. September 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 464.
598) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 206.
599) Siehe ebenda, S. 206 f.
600) Engels an Schmidt, 27. Oktober 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 493.
601) Engels an Borgius, 25. Januar 1894. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 207.
602) Engels an Schmidt, 27. Oktober 1890. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 490/491.
603) Siehe ebenda.
604) Siehe Engels an Schmidt, 1. Juli 1891. In:
Marx/Engels: Werke, Bd. 38, S. 128.
605) Engels an Schmidt, 1. November 1891. In:
Ebenda, S. 204.
Editorischer
Hinweis
Dieser Text ist ein Leseauszug aus: Matthäus
Klein, Erhard Lange, Friedich Richter, Zur
Geschichte der marxistisch-leninistischen
Philosophie in Deutschland, Bad 1, 2. Halbband,
Berlin 1969, S. 228-237
|