Allenthalben ist von Werten
zu reden. Von Werten, die wir haben, oder welchen, die wir
brauchen, von Wertewandel und Werteverfall und vor allem
und unablässig von der Wertegemeinschaft. Denn die
benötigen wir, unbedingt. Auch allen Asylwerbern würde sie
artig bekommen. „Integration ist Pflicht – beim
Spracherwerb, bei unseren Werten“, sagt der neue
ÖVP-Generalsekretär Peter McDonald. Sein Parteikollege, der
österreichische Außenminister Sebastian Kurz hat jetzt
einen „50 Punkte – Plan zur Integration von
Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten in
Österreich“ vorgelegt. „Werte sollen erleb- und erlernbar
werden“, heißt es dort. In achtstündigen Crashkursen will
man die Immigranten auf ihre Pflichten festlegen. Bei
fehlender Integrationsbereitschaft sollen bestimmte
Sozialleistungen gekürzt werden. „Wo hinein gilt es sich zu
integrieren?“, fragt der Integrationsplan. Das fragen wir
uns auch.
Werte der Verwertung
Es war Günther Anders, der
einst die „Werte“ auf eine schwarze Liste setzte: „In der
Tat ist der barbarische Begriff, der aus der
Finanzwirtschaft stammt, erst nach 1850 in die Philosophie
und erst in den Zwanziger Jahren in die Trivialsprache
eingedrungen“. Der Westen spricht von der Verteidigung der
Werte und der Philosoph spricht von Barbarei.
Wahrscheinlich haben beide recht. „Denn ebenso gehört es
zum Totalitarismus (und zwar zum geheimen der sogenannten
,freien Welt‘ nicht weniger als zum offen politischen),
dass er versucht, den zu verwertenden Menschen auf
dasjenige festzulegen und zu ,beschränken‘, was an ihm
verwertbar ist; dessen Totalität zu zerstören; denjenigen
Menschteil, der evidentermaßen in der Leistung nicht
aufgeht, ihm aber trotzdem anhängt, zu entkräften.“
Tatsächlich legt der Singular
offen, was der Plural verschweigt. Der Begriff des Werts
hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor in alle
gesellschaftlichen Bereiche gebohrt. Wert ist zu einem
substanziellen Terminus geworden. Wenn etwas etwas wert
ist, ist etwas etwas wert. Wert gilt als das
Positivum sui generis. Wert ist dem gesunden
Menschenverstand eine zu bejahende Assoziation, keine
kritische Größe. Hinter den Werten verbirgt sich die
Verwertungspflicht. Es geht, so das Papier des
Außenministers um „die rasche Selbstherhaltungsfähigkeit“.
Der Wert setzt die Werte. Er
ist auch die zentrale Instanz des Selbstwerts. Bürgerliches
Selbstbewusstsein verläuft auf einer Skala der Ab- und
Aufwertung am Markt. Das jeweilige
Einkommen
regelt die Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten, die auch
über Integration und Desintegration entscheiden: Was haben?
Wo dabei sein? Wie viel dürfen? Was darstellen? Die Achtung
der Menschen erfolgt nicht direkt, sondern über die
jeweiligen Wertigkeiten am Markt. Akzeptiert wird, wer sich
verwertet. Jeder Wer ein Was! Wer kein Was, ein Nichts!
Dieses Selbstwertgefühl sinkt rapide, wird der Einzelne vom
Kapital nicht anerkannt. Nicht nur Arbeitslose und
Immigranten spüren das, die aber ganz besonders. Dass zu
Wert immer Mehrwert und Minderwert(igkeit) gehören,
versteht sich von selbst, muss aber eigens erwähnt werden.
Und natürlich geht es um In-Wert-Setzung, dem neoliberalen
Subjekt ist die Selbstoptimierung seines Humankapitals
oberste Pflicht und stete Aufgabe.
Im Wert steckt auch alles
drin, was uns so gespenstisch vertraut ist: die Konkurrenz,
das Wachstum, das Ranking, der Preisvergleich und natürlich
der Preis selbst. Mit dem Wert und seinen geprägten Worten
wird das Vokabular ökonomifiziert und unsere
Vorstellungskraft kanalisiert. Beides lassen wir nicht nur
zu, es fällt gar nicht als Besonderheit auf. So zu sprechen
erscheint uns als selbstverständlich. Wir haben keine
andere Sprache. Man denke bloß an all die infizierten (und
oft kaum substituierbaren) Begriffe wie
Wertschätzung,
Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll.
Und der Werteworte werden mehr: Werteschulungen,
Wertekatalog, Werteerziehung, Wertevermittlung,
Werte-Patenschaften, vielleicht könnte man noch einen
Wertekataster anlegen, wo Wertebüros mit Werteschablonen
den Werteindex (Selbstverwertungskoeffizienten) von
Flüchtlingen und allen anderen Subalternen ermitteln.
In Werten zu denken, ist Form
gewordener Inhalt, wo nur taugt, was ihnen entspricht. Dass
Menschen arbeitslos und obdachlos, mittellos und hilflos
werden dürfen, passt zu diesen Werten, das freie
Niederlassungsrecht hingegen nicht. Dafür dürfen im Namen
der Werte Länder bombardiert und missliebige Regimes zu
Fall gebracht werden. Auch an den unfreiwillig in Moskau
und in der ecuadorianischen Botschaft in London sitzenden
„Dissidenten“ entpuppen und entzaubern sich diese Werte
ganz fulminant.
Mission wie Emission der
Werte sind geradezu das Grundproblem dieses Planeten, die
Verwertung von Mensch und Natur ebenso wie die Entwertung
ganzer Gruppen und Regionen. Die reine Gewalt, die sich an
ihren auswegslosen Enden offenbart, ist in erster Linie
Folge virulenter Wertexplosionen, die immer ihren Ausgang
im Westen hatten. D.h jetzt nicht, dass wir hier in den
Metropolen a priori bösartiger sind als die anderen,
sondern bloß, dass unser Zerstörungspotenzial größer, weil
entwickelter ist.
Wollen sollen
Das Eingeforderte wird
fixiert und formatiert im Wert und seinen Werten. Darin
verpackt die gemeine Verwertungspflicht. Es ist zwar übel,
wenn Menschen nichts wert sind, aber schlimmer noch ist,
dass Menschen überhaupt etwas wert zu sein haben. Dass eine
ökonomische Abstraktion – der Wert – diese Gesellschaft
beherrscht, Status und Rang der Mitglieder vorgibt und via
Werte verfügen möchte, was wir wollen sollen.
Wer sich den Werten
überlässt, gerät in die kapitalistischen Klapsmühle. Das
Bekenntnis ist zu dechiffrieren als Bekenntnis zur
westlichen Herrschaft. Wir agieren in diesem
Betriebssystem, nicht immer freiwillig, aber doch willig.
Wir sind auf Betriebstemperatur, obwohl wir nicht einmal
wissen, was uns betreibt. Viele kochen über. Und hurtig
diskutieren wir dann nicht mehr die Unverträglichkeit der
globalen Zustände, sondern welche Flüchtlinge nützlich
sind, was sie kosten, was sie dürfen, wie sie zu
funktionieren haben und wie sie zu sanktionieren sind. Wert
und Werte produzieren solche Debatten. Sie sind nicht frei.
Gerade das wäre zu erkennen und zu hinterfragen. Warum
sollen wir das wollen und warum möchten wir das allen
anderen aufdrängen? Dass man wollen soll, was man wollen
muss, ist eine Zumutung, egal ob für Ausländer oder
Inländer.
Stattdessen sollten wir aber
darüber sprechen, woran es fehlt und was es braucht: Gibt
es genügend Deutschkurse um die Sprache zu erlernen? Gibt
es genug Unterkünfte, damit niemand im Freien schlafen
muss? Gibt es genug Verpflegung und Medikamente, um die
Vertriebenen zu versorgen? Die Liste ist unendlich und sie
hilft wohl um einiges mehr als das Gelaber von der nun
Wertegemeinschaft genannte Leitkultur. Denn da wurde
lediglich das dumpfe Wort gegen die abgefeimte Kategorie
ausgetauscht.
Wir hier sind im Vergleich zu
den Flüchtlingen keineswegs das geringere Problem. Das
schiere Gegenteil ist richtig. Schon alleine davon
auszugehen, dass wir die Geber und sie die Nehmer sind, ist
absolut abwegig, Herrschaftsvergessenheit par excellence.
Dass im zusehends globalen Ausnahmezustand die
Aufnahmeländer großzügige Stifter sind, die Gegenleistungen
einzufordern haben, ist dezidiert zu bestreiten.
Bestenfalls verteilen Räuber Beutestücke an die Beraubten.
Es besteht kein Grund zu dieser sittlichen Selbstadelung.
Von einer freundlicheren
Seite zeigten sich einige europäische Länder, als sie für
Momente ihre staatliche Autorität außer Kraft setzten und
die Flüchtenden einfach passieren ließen. Menschlichkeit
ging vor Grenzsicherung. Das ist doch was, aber den Werten
wurde dabei nicht entsprochen, sie wurden sistiert. Daran
gilt es anzuschließen. Merkel und Faymann ist zugute zu
halten, dass sie vorerst nicht den Orban machten. Mit den
diskutierten Obergrenzen drohen Law and Order ja wieder
zurück zu kehren.
Das Papier des
österreichischen Außenministeriums indes behauptet ganz
starrsinnig: „Österreich hat einen etablierten Wertekanon,
der nicht verhandelbar ist“. Die Wahrheit ist, dass dieser
sich stets in Bewegung befindet und permanent auch
verhandelt wird. Heute wird da ein anderer Kanon als 1965
oder gar 1915 Jahren gesungen. Hier soll eingefroren
werden, was aufzutauen ist. Dass selbst die Werte sich
wandeln, sollte als Binsenweisheit gelten.
Frauen sind nicht deshalb
nicht zu vergewaltigen, weil es verboten ist. Um Kinder
nicht zu schlagen, braucht man keine Werte; Menschlichkeit
und Respekt, Anerkennung und Empathie reichen völlig. Werte
und Bürgerliches Recht sind nur Krücken, die Freundschaft,
Sorge, Nächsten- und Übernächstenliebe nicht ersetzen
können. Übrigens ist es keine zwei Generationen her, dass
Kinder nicht mehr körperlich gezüchtigt werden dürfen, und
dass Frauen in der Ehe von der Vormundschaft ihrer
männlichen Partner juristisch befreit worden sind. Das ist
ein historischer Wimpernschlag. Führende christliche
Politiker wie der ehemalige ÖVP-Generalsekretär Michael
Graff gingen davon aus, dass es Vergewaltigung in der Ehe
gar nicht geben könne. Auch in Deutschland war
sexualisierte Gewalt bis 1997 als außerehelich definiert.
Heirat wurde somit als Auslieferungsvertrag interpretiert.
Politiker wie Horst Seehofer wollten das auch beibehalten.
Man soll den Mund also nicht so voll nehmen. Mehr Demut
statt Demütigung wäre angesagt.
Bei der unheimlichen
Offensive der Werte geht es darum, die Reihen dicht zu
schließen („Wir“) und die Anderen nicht als Handelnde
sondern als zu Behandelnde („Ihr“) zu konstruieren, die man
dann entweder erziehen oder ausschließen muss.
Aufnahmekapazitäten sind jedoch keine Frage des Könnens,
sondern des Wollens, das Miteinander eine Frage der
gegenseitigen Zuneigung, nicht einer
Secondhand-Staatsbürgerkunde. Da fadisieren sich Ausländer
nicht weniger als Inländer. Flüchtlinge werden sich die
verordneten Werteschulungen reinziehen, den Crash-Kurs über
sich ergehen lassen, und das wird es dann auch gewesen
sein.
Man kann ja auch nicht
darüber abstimmen, ob das aktuell jetzt eine
Völkerwanderung ist oder nicht. Hier entfaltet sich
allerdings das Enorme und wie der Begriff schon
sagt, setzt es Norm und Normalität außer Kraft. Das gilt es
in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Was wir allesamt
bitter benötigen, ist, dass die Menschen sich und die
anderen leiden können, also Freude und Freundschaft,
Bewusstsein und Reflexion, Kooperation und Verantwortung,
Lust und Liebe. Aber in der ideologisch aufgeladenen, ja
rassistisch vergifteten Atmosphäre ist das schwer zu
begreifen. Außerdem lässt sich damit kein Krieg führen. Vom
Werteritter zum Wertekrieger ist der Weg ja nicht weit.
Die Frage hingegen, welche
Werte wir brauchen, ist einfach zu beantworten: Keine!
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir
vom Autor für diese Ausgabe. Erstveröffentlicht am
3.12.15 bei
|