Turkmenische Minderheit im Irak und Syrien

von Attila Steinberger

12/2015

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Als Turkmenen (türkische Syrer, türkische Iraker im Arabischen) werden im Irak und Syrien werden die turkmenischen, azerischen, tscherkessischen und türkischen Minderheiten bezeichnet. Historisch sind sie über die Türkeneinfälle des Mittelalters in die beiden Länder gekommen und im 18. und 19 Jahrhundert als Flüchtlinge aus dem Kaukasus, der heutigen Ukraine, Krim und Südrussland, nach dem das osmanische Reich sukzessive Territorien an das Habsburger und das Russische Reich verloren hatte. Nach dem Ende des Osmanischen Reichs 1918 kam es jedoch nicht zur erhofften Unabhängigkeit dieser Staaten, stattdessen gerierten sie unter französische und englische Diktatur. In der Unabhängigkeitsbewegung beteiligten sich auch Turkmenen, so z.B. im großen irakischen Aufstand von 1920 oder im syrisch-französischen Krieg. Der syrische Verteidigungsminister Yusuf al Azma war Türke, fiel aber in der Schlacht von Maysalum gegen die französischen Invasoren.

In Syrien wird die turkmenische Minderheit zwischen 100.00 und 200.000 geschätzt. Der turkmenische Nationalrat schätzt dagegen eine Zahl von 3,5 Millionen (12,5% der syrischen Bevölkerung). Die hohen Schwankungen der Angaben sind vor allem politischer Natur. Die türkische Regierung will Einfluss nehmen und rechnet dadurch die Zahlen nach oben. So geht sie von mindestens 2 Millionen assimilierten Türken aus.(1) Für den Irak gehen die Zahlen ähnlich auseinander und reichen auch hier von 500.000 bis 3 Millionen (8% der irakischen Bevölkerung). Auch hier wird nicht zwischen Tscherkessen, Turkmenen, Türken und Azeris unterschieden.

Gerade diese nationalistische Zahlenmystik verweist auf die chauvinistischen Programme. Syrien heißt offiziell „arabische Republik Syrien“ und hat ethnische Minderheiten strukturell benachteiligt und diskriminiert, Kurden unterdrückt und Juden komplett vertrieben. Arabisch ist immer noch die einzige Verwaltungs- und Lehrsprache des Landes. Ab den 70er Jahren wurde in Nordsyrien eine gezielte Ansiedlungspolitik von Arabern auf dem enteigneten Land von Großgrundbesitzern durchgeführt um die Position gegenüber den Kurden zu festigen. Schon 1962 hatte die syrische Regierung über 100.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit entzogen. Im Irak hat sich seit dem Ende des Regimes Saddam Husseins die Politik deutlich verbessert. Die ethnischen Konflikte sollten im Irak auch nicht nur auf Saddam Hussein beschränkt betrachtet werden, sondern reichen weiter in die Vergangenheit (Völkermord an den Armeniern und assyrischen Christen, Massaker an Schiiten 1920, Simele Massaker an assyrischen Christen, Pogrome an Juden / Farhud, Massaker an Turkmen). Eine Altlast der saddamistischen ethnischen Säuberungen sind der Umgang mit den Provinzen Kirkuk und Ninive. In beiden sollen Referenden stattfinden, ob sie sich dem kurdischen Autonomiegebiet anschließen. Die derzeitige kurdische Regierung fordert aber, dass nur die Personen, die vor der ethnischen Vertreibung dort lebten, das Stimmrecht ausüben dürften. Damit schließen sie alle Personen aus, die Saddam Hussein in seiner Siedlungspolitik des „Arabischen Gürtels“ dorthin umgesiedelt hatte. Natürlich sind auch Flüchtlinge aus anderen Landesteilen ausgeschlossen. Anstatt also eine integrative Politik für alle Einwohner zu verfolgen, werden auch hier wieder nur Minderheiten verfolgt und ausgeschlossen. Gleichwohl hat sich nach dem Ende Saddam Husseins die Situation zwar verbessert, aber wie dargestellt, wurden die Konflikte nicht gelöst. Das Wählerverhalten zeigt sich in extrem ethnisch, u.a. für kurdische, schiitische, turkmenische, sunnitische oder assyrische Parteien. Überkonfessionelle, überethnische Parteien sind eher klein. Die letzte große gesamtirakische Partei, al Irakiya, holte zwar 2010 die meisten Stimmen, gewann aber nicht die Wahl. Die Partei zerbrach im Anschluss in Splitterparteien und ethnische Parteien. Insbesondere die US-Besetzung hat nicht zur Lösung beigetragen, sondern nur die ehemaligen Opfer zu neuen Tätern gemacht. So wurde der Terrorist James Steele angeheuert um schiitische Spezialeinheiten auszubilden, die vor allem nächtens den als sunnitisch-baathistisch verbrämten Aufstand zu bekämpfen hatten. Steele zog bereits als in den 80er Jahren Ausbilder von Contras – eine Hauptaufgabe der US Special Forces besteht ja in der Ausbildung einheimischer Kräfte für terroristische Aktivitäten – eine blutige Spur durch Mittelamerika, v.a. Nicaragua. Während sich also für die arabischen Sunniten die Situation zunächst verschlechterte, verbesserte sie sich massiv für die Kurden. Die kurdische Autonomie wurde mit ihren Sprachrechten anerkannt. Probleme gibt es aber mit den Minderheiten in den „arabischen“ Provinzen des Restlandes. Dort werden die Sprachen nicht in den Schulen und der Verwaltung berücksichtigt. Die türkische Regierung fordert deshalb vehement die Besserstellung für die türkische Sprache ein, u.a. auch für Azeris und Tscherkessen. Dass diese gar kein Türkisch sprechen, ist ihnen herzlich egal und knüpft natürlich wunderbar an den Chauvinismus im eigenen Land an. Selbst die kurdische Autonomieregierung im Nordirak, die aus eigener Erfahrung besser wissen möchte, denkt nicht daran Minderheiten gleichzustellen. Bestenfalls werden ihnen ein paar Sitze im Parlament gewährt. Besonders leiden die Araber und Turkmenen darunter.

Turkmenische Organisationen im Irak

Schon nach Ende des Osmanischen Reichs und der relativ kurzen Unabhängigkeit des Iraks bis 1920 waren turkmenische Organisationen aktiv. Es gingen ihnen aber nicht darum irakische Politik zu betreiben, sondern über die Frage, zu welchem Staat das Vilyet Mosul gehören sollte, sich der osmanischen Politik anzuschließen. Diese Politik wurde nach der Machtübernahme Mustafa Kemals (Atatürk) in der Türkei weiterverfolgt. Gleichwohl galten sie im Irak als anerkannte Minderheit, neben den Kurden. Ein Anspruch, der aber nicht für Juden, Yeziden oder assyrische Christen galt. Jafar al Askari war sogar in den 20er Jahren Premierminister, später Verteidigungsminister bis zum Putsch 1936. Auf ihn folgte Hikmet Suleyman, ebenfalls ein Turkmene. Das war auch der letzte turkmenische Minister / Premierminister bis zum Ende Saddam Husseins. Für verschiedene Staatschefs galten die Turkmenen, besonders nach 1945, als Agenten der Türkei und wurden verfolgt. Auch hier fand der Terror seinen Höhepunkt unter Saddam Hussein. Dabei verfolgte er eine doppelte Strategie. Einerseits wurden sie Opfer seiner Arabisierungskampagne – genau wie auch Kurden: sie wurden sprachlich diskriminiert, aus der Provinz Kirkuk deportiert und durch den „arabischen Gürtel“ minorisiert. Andererseits wurden sie verstärkt in das Militär und Verwaltung integriert und stiegen innerhalb der Baath-Partei auf. Als Altlast aus dieser Zeit sind einige höhere Kader des Islamischen Staats Turkmenen aus dem Reihen der Baath-Partei. Abu Al Alfri, ein Turkmene aus der Nähe Mosuls, ist Verteidigungsminister des IS. Nach seiner Militärzeit (u.a. Massaker an Kurden), wurde er Lehrer.

Nach dem Ende Saddam Husseins haben sich turkmenische Parteien gegründet bzw. konnten aus der Illegalität kommen: die „irakische Turkmenenfront“, eine Dachorganisationen aus 6 Kleinparteien, hat momentan 3 Abgeordnete im irakischen Parlament. Ihre Hauptwahlgebiete liegen in den Provinzen Kirkuk und Ninive (Tal Afar, Mosul) sowie Saladin (Tuz Kormatu). Abgesehen von den ethnischen Parteien gibt es natürlich in der PUK, einer kurdischen Partei, und der Iraqiya Vertreter und sogar Parlamentsabgeordnete. Unter Maliki war Jasim Jaafar (Irakische Turkmenenfront) Jugend- und Sportminister.

Da etwa die Hälfte der Turkmenen Schiiten sind, wurden sie ab 2014 ebenfalls vom IS verfolgt. Als Tal Afar, auf halbem Wege zwischen Mosul und Sinjar, erobert wurde, flohen die schiitischen Turkmenen aus der Stadt in Richtung der kurdischen Autonomiegebiete oder der Türkei. Turkmenische Dorfbewohner in der Nähe Mosuls hatten weniger Glück. Die Männer wurden getötet und die Frauen und Kinder verschleppt. Im August 2015 wurden beim Massaker an den Gefangenen in Mosul mehr als 2.000 Menschen exekutiert, darunter nach Angaben turkmenischer Organisationen 700 Turkmenen. 2014 wurden die Städte Amerli und Tuz Khormato belagert, allerdings jeweils durch arabisch-schiitische Milizen und kurdische Peschmerga befreit. Im November 2015 kam es aber zu Auseinandersetzungen zwischen Peschmerga und Turkmenen in Tuz Khormato. Die schiitischen Milizen unterstützten dabei die Turkmenen. Der Auslöser ist unbekannt. Vermutlich steht es aber in Zusammenhang mit der Politik Masud Barzanis, des derzeitigen Präsidenten der kurdischen Autonomiegebiete, der im Juni 2014 die Provinz Kirkuk besetzen ließ. Dort ersetzte er alle arabischen und turkmenischen Beamten durch kurdische. Kirkuk ist wie Mosul Streitgegenstand zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Autonomieregierung über das oben angesprochene Referendum und die Stimmberechtigten. Diese Diskriminierung scheint auch der Auslöser den Konflikt in Tuz Khormato gewesen zu sein.

Nach eigenen Angaben sollen über 10.000 Turkmenen in den Volksmobilisierungseinheiten (Hash ash Shaabi) kämpfen. Die irakische Regierung erlaubt der türkischen Armee die Ausrüstung und Ausbildung einiger Einheiten und die Aufstellung rein turkmenischer Einheiten. Schiitische turkmenische Organisationen werfen allerdings der türkischen Regierung vor, nur Kleinigkeiten für die irakischen Turkmenen zu tun, während sie in Syrien den Islamischen Staat unterstützen.

Turkmenische Organisationen in Syrien

Anders als im Irak sind die großen turkmenischen Organisationen jüngeren Datums. Sie haben sich nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs in der Türkei gegründet, u.a. die syrische turkmenische Vereinigung. Sie ist Mitglied in der Syrischen Nationalversammlung(2), der u.a. auch der Syrische Nationalrat und die Freie Syrische Armee angehören. Ihr gehören auch im Norden Syriens verschiedene ethnische Milizen unter der Dachorganisation Syrischer Turkmenenbrigaden an, die zufällig nach türkischen Sultanen benannt sind: Imad Zengi Brigaden, Sultan Murad Brigaden, Sultan Abdulhamid Han Brigade, Sultan Mehmet der Eroberer Brigade, Yildirim Beyazit Brigade. Andere Gruppen sind noch unverhohlener türkisch chauvinistisch, wie die Alparslan Brigaden (nach Alparslan Türkes von den türkischen Faschisten). Die Enver ul Haqq Brigade soll in der Provinz Raqqa mit dem IS kooperieren.

Die türkische Regierung hat Spezialeinheiten nach Syrien entsandt um die Milizen auszubilden und zu unterstützen, damit sie vor allem im Norden des Landes gegen Assad und gegen die Kurden in Afrin und im Stadtteil Sheikh Maqsud in Aleppo kämpfen. Aus der Türkei haben sich ihnen zusätzlich hunderte Freiwillige angeschlossen.

Neo-Osmanismus der türkischen Regierung

Unter Sultan Erdogan wurde eine stärkere Hinwendung an die turkmenischen Minderheiten gepflegt, gleich, ob sich diese überhaupt als Türken verstehen oder nicht. Die syrischen Organisationen wurden sogar unter Veranlassung der türkischen Regierung in Istanbul gegründet. Im Gegenzug wurden Ausbilder, Ausrüstung und Freiwillige nach Syrien geschickt um gegen Assad und die Kurden zu kämpfen. Im Irak nutzt Sultan Erdogan die Turkmenen um Einfluss auf die kurdische Autonomieregierung und die irakische Zentralregierung zu nehmen. Insbesondere den Kurden droht er an zu intervenieren, falls sie Kirkuk oder die Provinz Ninive annektieren bzw. die Referenden einen Beitritt zu den Autonomiegebieten ergeben sollten.

Erst in den vergangenen Wochen haben die turkmenischen Milizen in Syrien den Islamischen Staat angegriffen mit der Zielrichtung Jarabulus. Dabei wurden immerhin 2 Dörfer erobert. Das türkische Militär hat im Gegenzug den Vormarsch der kurdischen YPG in Richtung Jarabulus durch Artillerieunterstützung für den IS verhindert. Ende November 2015 kam es zwischen den turkmenischen Milizen und der YPG zu Kämpfen um Dörfer in der Nähe von Azaz und im kurdisch verwalteten Teil Aleppos, Sheihk Maqsoud.

Anders verhält sich die Türkei gegenüber der turkmenischen Minderheit im Irak. Sie wird weitgehend ignoriert. Als Feigenblatt hat man ein paar Ausbilder entsandt um Milizen zu unterstützen. Allerdings sollte man deshalb nicht den Fehler machen, dass Erdogan die Turkmenen gleichgültig wären. Er braucht sie als nützliche Idioten um Politik in den kurdischen Autonomiegebieten und in der Provinz Kirkuk zu machen. Im Moment gibt es nur eine funktionierende Erdölpipeline im Irak. Sie führt nach Basra. Zwei weitere sind außer Betrieb, einmal von Haditha und von Baiji. Es ist geplant von Kirkuk eine Pipeline in die Türkei zu führen und an die Baku-Ceyhan-Pipeline anzuschließen. Eine kleinere Pipeline ist bereits über Dohuk in die Türkei in Betrieb. Das Kirkuk Ölfeld ist das viertgrößte des Irak und verfügt alleine über mehr Erdöl als die gesamte EU. Nach dem im Juli 2014 die kurdische Autonomieregierung die Provinz mit dem Ölfeld Kirkuk eingenommen hatte, hat die Türkei vor weiteren Aktionen gewarnt und gedroht, dass es eine Annexion an die Autonomiegebiete nicht zusehen werde.

Anmerkungen

1 Von assimilierten Arabern, Kurden, Azeris, Armeniern, Griechen, Pontusgriechen, Zaza, Lazen, etc. in der Türkei spricht sie dagegen nicht.

2 Der Präsident Ahmad Tumah ist zum Beispiel der Meinung, dass man keine kurdische Autonomie in Syrien dulden werde und sobald man mit Assad fertig sei, die Kurden die nächsten wären.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.