Wachleute misshandeln und foltern Asylsuchende in einem
deutschen Flüchtlingsheim. Das belegen Bilder und Videos. Die
Täter haben die Dokumente bezeichnender Weise selbst
angefertigt. Nachdem diese nun einmal unwiderruflich
veröffentlicht sind und die Staatsanwaltschaft ermittelt, der
Sachverhalt also nicht länger bestreitbar ist, bemühen sich die
Verantwortlichen auf allen Ebenen um „Schadensbegrenzung“ –
selbstverständlich der Begrenzung ihres Schadens, für ihre
Presse, ihr Amt, ihr Geschäft und vor allem – ihr Land.
I
Der
Heimbetreiber „European Homecare“, die Polizei, die Regierung,
die Opposition, besonders die Innenminister von Bund und Ländern
– sie alle sind „geschockt“, „entsetzt“; wahlweise auch „empört“
und „beschämt“, manche auch vor Mikrophonen und Kameras laut
vernehmbar „sprachlos“. Mit ihrem demonstrativen Unverständnis
für die Vorkommnisse wollen die Verantwortlichen zu Protokoll
geben, dass der nun leider ziemlich unbestreitbare Fall von
Misshandlung in einer Einrichtung, die ihrer Hoheit untersteht,
nichts mit ihnen, nichts mit ihrer Politik und nichts mit ihren
Geschäftsinteressen zu tun hat. Die Frage bleibt, warum sie das
so penetrant betonen.
II
Wenngleich in der Folge rasch weitere Fälle von Misshandlungen
und Folter an anderen Orten – erst Essen und Bad Berleburg, dann
Hoyerswerda – bekannt werden, bemühen sich Bundes- und
Landesinnenminister weiter darum, den Skandal zum Einzelfall zu
erklären. Einmütig fordern sie, die Verantwortlichen müssten
„zur Rechenschaft“ gezogen werden (Bundesinnenminister Thomas de
Maizière). NRW-Innenminister Jäger fordert gar: „Wer Menschen in
Not bedroht und schikaniert, muss hart bestraft werden.“ Damit
meint er selbstverständlich die an der Misshandlung beteiligten
Wachleute...
III
Polizei und Presse lassen wissen, dass es sich bei den
Verdächtigen um Kriminelle, genauer um z.T. wegen
Körperverletzung und Drogendelikten polizeibekannte Täter
handelt – unqualifiziertes Wachpersonal also! Journalisten
„entdecken“ dazu passend die Stellenausschreibungen des
Heimbetreibers und finden heraus, dass für die Besetzung einer
Stelle als Flüchtlingsbetreuer Bildungsvoraussetzungen schlicht
„nicht relevant“ waren (und sind!) und die Bezahlung
„Verhandlungssache“ ist. Aus einer Verordnung des
Regierungspräsidenten von Arnsberg, Wachleuten künftig den
gesetzliche Mindestlohn zu zahlen, lässt sich folgern, wie es um
die Entlohnung des Personals (und die Durchsetzung des
Mindestlohnes) bestellt ist. Die Schuldfrage scheint zunächst
für die staatstragende Öffentlichkeit geklärt: Verantwortlich
sind schlecht qualifizierte, vielleicht sogar schlecht bezahlte,
in jedem Fall aber kriminelle Elemente. Die Polizei ermittelt!
IV
Vertreter von Flüchtlingsräten und –initiativen folgen der
Diagnose und fordern zusammen mit Polizei und Opposition die
öffentliche Überwachung privater Subunternehmer und die bessere
Qualifizierung der Mitarbeiter. Dass man ohne genaue Kontrolle
und ohne sozialpädagogische Ausbildung schutzsuchende
Flüchtlinge fesselt und ihnen vielleicht auch mal einen Stiefel
ins Genick stellt, das halten auch sie offenbar für nicht weiter
verwunderlich.
V
Zeitgleich werden Bilder und Berichte über die Zustände in den
Unterbringungen öffentlich, die das Bild vom Einzelfall weiter
dementieren. Lager und Heime mit bis zu 750 Personen – zum Teil
traumatisiert – ohne Privatsphäre; Pritschen dreifach
übereinander gestapelt in Hallen und Kasernen, in denen den
geflüchteten rechtlich weniger Raum zusteht als einem
Schäferhund. In den Unterkünften herrscht strikte Hausordnung
samt Rauch- und Alkoholverbot. Ein in Burbach an den
Misshandlungen beteiligter Wachmann berichtet dem Siegerland
Kurier (29.09.14), dass seine Kollegen regelrecht nach Verstößen
suchten, um gegen die Beteiligten vorzugehen. Es sei an der
Tagesordnung (!) gewesen, dass mehrere Wachleute die Räume
wörtlich „stürmten“, die Flüchtlinge schlugen, sie in
Handschellen legten oder in Räumen ohne sanitäre Anlagen
einsperrten. Der beteiligte Wachmann, gegen den selbst ermittelt
wird, teilt in einem Interview mit, dass die Beteiligten sich im
Jargon als „SS-Streifen“ bezeichneten. Der Bericht findet in den
überregionalen Medien wenig Aufmerksamkeit. Und die Polizei kann
bisher keinen Hinweis auf „fremdenfeindliche Motive“ erkennen,
kündigt aber an, die Beschuldigten auf einschlägige
Tätowierungen zu untersuchen...
VI
Indessen unterrichten öffentlich-rechtliche Medien und ihre
politischen Auftraggeber ihr Publikum über die tieferen
Zusammenhänge. Demnach sei der Skandal „vor dem Hintergrund“ zu
sehen, dass Bund, Länder und Kommunen schon länger mit einer
„rasant steigenden Zahl von Flüchtlingen“ konfrontiert seien. In
eifriger Verwendung bekannter Katastrophenmetaphorik überbieten
sich Medienschaffende in der Warnung vor „einer
Flüchtlingswelle“, „einem Flüchtlingsstrom“, „einer
Flüchtlingsflut“ oder gar mit einem „Ansturm“ (MDR), der über
„uns“ hereinbreche. Kontrafaktisch, aber wirkungsvoll, behauptet
man, Deutschland sei das Hauptziel der Flüchtenden weltweit.
Insbesondere die deutschen Städte seien „überlastet“,
Unterbringungsmöglichkeiten „hoffnungslos überfüllt“ und so
weiter. Zum Beleg zeigt man Bilder von Frauen mit Kopftuch und
mit vielen Kindern, Afrikaner in Stockbetten, überquellende
Mülleimer, Sperrmüll. Dass die BRD im letzten Jahr 98,9 Prozent
(!) aller Anträge abgelehnt hat, erwähnt man nicht. Die
Botschaft kommt also rüber: Der Staat, der sich wegen seiner
gewachsenen Verantwortung militärisch mehr in der Welt
engagieren will, wird durch die Asylsuchenden beinahe
handlungsunfähig, seine Gesellschaft ist hoffnungslos
überlastet.
VII
Von
einem Zusammenhang zwischen den vielen Flüchtlingen weltweit und
den globalen Machenschaften des Westens im Allgemeinen, in
Libyen, Syrien oder dem Irak im Besonderen ist in den Medien
ebenfalls keine Rede, von der Rolle Deutschlands in den
Jugoslawien-Kriegen und der Ruinierung der Ökonomien Rumäniens
und Bulgariens durch den EU Binnenmarkt auch nicht.
Stattdessen macht der Innenminister – selbstverständlich ganz um
die Akzeptanz gegenüber Flüchtlingen bemüht – in einer
Presseerklärung sein Volk wie bereits in den Vormonaten damit
vertraut, dass sie auch in der näheren Zukunft mit steigenden
Asylbewerberzahlen rechnen „müsse“ (!) und verspricht, „dem
Missbrauch des Asylrechts“ entschlossen entgegenzutreten. Er
wolle Schlepperbanden bekämpfen und mehr Solidarität in Europa
erreichen: „Es kann nicht sein, dass vier oder fünf Länder in
der Europäischen Union circa die Hälfte aller Flüchtlinge
aufnehmen.“ Auch Politiker anderer Parteien sorgen sich um das
Verständnis für die „wirklich Verfolgten“ in ihrer Bevölkerung.
VIII
Die
Bevölkerung versteht die Signale und empört sich einmal mehr
über Asylmissbrauch, Wirtschaftsflüchtlinge und explizit über –
man lernt dazu – „Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa“. Die
lohnabhängigen Bürger der BRD sind daran gewöhnt, dass ihre
persönlichen Interessen an besserer Bezahlung, an guten Arbeits-
und Lebensbedingungen, an Rente, Gesundheit und Freizeit vor dem
wesentlich höher angesiedelten Wohl der Nation (das dann
offenbar nicht das ihre ist), vor dem Wachstum der Unternehmen
(die dann offenbar nicht die ihren sind) und vor den
außenpolitischen Manövern der Regierung zurück zu stehen haben.
Als aufgeklärte Bürger „wissen“ sie, dass Hartz IV,
Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne, steigende Mieten, Energiekosten
und Steuern ebenso alternativlos sind wie wachsende Gewinne,
Bankenrettung, Handelskriege. Dass es nichts bringt, sich
dagegen zu wehren, dass haben sie auch irgendwie „gelernt“.
Eine
Mehrheit der braven Bürger akzeptiert inzwischen sogar, dass man
qualifizierte Ausländer in einer führenden Wirtschaftsnation
tolerieren muss, sofern Kapital und Staat deren Anwerbung als
Hochbegabte oder Erntehelfer, als Soldaten oder Forscher für
nutzbringend erachten. Eines aber – so finden Viele, die sich
ihren Gürtel bereitwillig immer enger schnallen lassen – müsse
man sich dann aber doch nicht bieten lassen: Dass schutzsuchende
Ausländer, also Menschen, die weder zur Nation gehören noch ihr
irgendwie dienen, vom Staat bis zur Entscheidung, d.h. meist
Ablehnung ihres Asylverfahrens in Heimen gehalten und
alimentiert werden. Wenn sie sich die Missachtung ihrer eigenen
Anliegen im Namen der Nation schon gefallen lassen, also recht
betrachtet für Deutschland Opfer erbringen, dann glauben sie
zumindest das Recht auf Genugtuung durch Schlechterbehandlung
all jener erworben zu haben, die der Nation nicht (so) dienen.
Alte, Arbeitslose und vor allem arme Ausländer...
IV
Den
nationalistischen Neid der Gedeckelten nutzen Politiker gerne
aus, um damit weitere Einsparungen im Sozialbereich und
schärfere Abschreckung gegen unerwünschte Not zu begründen.
Manchen Bürgern – insbesondere jenen, die die kapitalistische
Logik der Nation nach der Wiedervereinigung fraglos akzeptiert
haben und dadurch selbst in schweren Nöten sind – geht das noch
nicht weit genug.
X
Wenn
Politiker dann zwecks weiterer Kostensenkung und erhoffter
Steuereinnahmen ihre Flüchtlingsheime privatisieren, die
Ausführung ihres auf Abschreckung berechneten
Asylbewerberleistungsgesetzes in die Hände privater
Geschäftsinteressen legen – wie Rot-Grün in NRW – und damit die
Verantwortung für die entsprechenden Folgen wegdelegieren, wenn
diese Unternehmen dann zwecks weiterer Kosteneinsparung
Subunternehmen engagieren und damit die Verantwortung für die
entsprechenden Folgen wegdelegieren, und wenn dann die
Subunternehmen unqualifizierte Flüchtlingsbetreuer und Wachleute
im Schichtsystem, befristet und schlecht bezahlt beschäftigen
und die Verantwortung nochmals wegdelegieren, dann sieht manch
einer dieser braven Wachknechte seine Stunde gekommen: Wenn er
schon nichts an seiner eigenen Lage verbessern kann, und wenn
die Politik doch allem Vernehmen nach überfordert ist, so kann
er wenigstens zu seiner moralischen Genugtuung das Leben der
Flüchtlinge noch etwas verschlechtern und davon ein erbauliches
Filmchen fürs eigene Handy drehen...
Damit fügen die eifrigen Wachleute dem Gemeinwesen – ungewollt –
einen Schaden zu. Denn die Nation besteht bei aller
flüchtlingspolitischen Härte auf einem Unterscheidungsmerkmal
zum Rechtsvorgänger,_ auf ihrem Selbstbild als Hüterin der
Menschenrechte, als hilfreich, edel und gut. Die Repräsentanten
ihrer höheren Werte beherrschen deshalb die Kunst des Schämens,
wenn aus Kasernen, Polizeiwachen, Geheimdiensten,
Flüchtlingslagern, Kinderheimen, Gefängnissen und
Kriegseinsätzen etwas in die Öffentlichkeit gerät, was da so
nicht hingehört. Mit einer Sorge um die Opfer der Misshandlungen
hat das ebenso wenig zu tun wie mit der Auseinandersetzung mit
den Ursachen. Es wird also auch nicht der letzte Skandal dieser
Art bleiben...
Fazit
Die
schlimmen Misshandlungen sind weder die Folge kaum zu
bewältigender „Flüchtlingsströme“ – wie dies der
Meinungsmainstream in rassistischer Manier glauben macht. Sie
sind auch nicht die Konsequenz der unkontrollierten
Privatisierung „sozialer Dienstleistungen“ im „schlanken Staat“
– wie dies die linke Opposition und Flüchtlingsverbände
konstruktiv kritisch anmahnen. Die Misshandlungen sind erst
recht keine unglückliche Verkettung krimineller Einzelfälle, die
mit diesem Staat und seiner Flüchtlingspolitik nichts weiter zu
schaffen haben.
Die
skandalisierten Misshandlungen von Flüchtlingen durch private
Wachleute sind vielmehr die perverse, unautorisierte und
unerwünschte Fortsetzung des allgemein anerkannten Erfolgswegs
der Nation. Einer Nation nämlich,
-
deren Unternehmer auf Grundlage der erzwungen Billigkeit und
Produktivität ihres deutschen Arbeitsvolks die Ökonomien
anderer Länder kaputt konkurrieren und den Menschen dort ihre
Lebensgrundlage nehmen,
-
deren Außenpolitik im Bündnis mit USA und NATO global an der
Ruinierung ganzer Staaten und Regionen mitwirkt,
-
die als Führungsmacht in Europa eine Abschottungspolitik gegen
die unerwünschten Opfer ihrer globalen Interessen aufrecht
erhält, die in den letzten zwei Jahrzehnten schon über 25.000
Flüchtlingen das Leben kostete,
-
die innerhalb Europas alles dafür tut, um „die Überflüssigen“
anderen, von ihr abhängigen EU-Staaten aufzubürden,
-
die angesichts des wachsenden Flüchtlingselends
gebetsmühlenartig wiederholt „Wir können nicht!“ wenn ihre
Politiker beschließen „Wir wollen nicht!“
-
die die Ideologie von der nationalen Gemeinschaft, die ihren
Mitgliedern nutzt, zwar im Alltag praktisch dementiert, dafür
aber den Geist der Gemeinschaft durch das Ressentiment gegen
das feindliche Ausland und schädliche Ausländer zu pflegen
sucht,
-
die deshalb schließlich auch noch weiß, dass man mit
Programmen gegen „Rechtsextremismus“ auf die braven
patriotischen Bürger aufpassen muss, damit die in Sachen
Ausländer nicht wieder übers Ziel hinaus schießen...
Bei
den bekannt gewordenen Fällen unautorisierter Misshandlungen von
Flüchtlingen in deutschen Heimen durch private Wachleute handelt
es sich also um eine bizarre Sumpfblüte der Nation. Vor lauter
Empörung über die skandalöse Blüte übersieht die staatstragende
Öffentlichkeit mal wieder – den Sumpf.
Nachtrag:
Zeitgleich feiert man „25 Jahre Freiheit“ und erinnert an eine
unmenschliche Diktatur, die Menschen davon abgehalten hat, über
die Grenze zu fliehen.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom
Autor zur Zweitveröffentlichung in dieser Ausgabe.
Erstveröffentlicht wurde er am 29.10.2014 in der Wochenzeitung
"der Freitag".
Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie ist Lehrer für Migrations- und
Sozialpolitik am Fachbereich Soziale Arbeit der Evangelischen
Fachhochschule in Bochum und steht für Vorträge und Diskussionen
gerne zur Verfügung. Aktuelle Schwerpunkte: Armut, Rassismus,
Flüchtlingspolitik.
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