Wovon Freunde der Sowjetunion absehen
Zur Erklärung des Stalinismus und zur Produktionsweise der Sowjetunion

von
Meinhard Creydt

12-2014

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Angesichts des Mangels an substanziellen Konzepten für eine nachkapitalistische Gesellschaft (vgl. Creydt 2014) greifen Gegner und Anhänger der Überwindung des Kapitalismus gern auf die Sowjetunion als Beispiel des „real existierenden Sozialismus“ zurück. Im Unterschied zur modellplatonischen Verwerfung oder Würdigung von „Staatseigentum“ und „Planwirtschaft“ konzentriert sich die folgende Skizze auf die historische Entwicklung und die gesellschaftliche Praxis, die sich in der SU hinter solch Substantiven verbirgt. Infragegestellt wird zudem die Auffassung, es habe sich bei der SU um die (wenn auch besonders brutale) Variante eines Regimes zur Modernisierung des Landes gehandelt.

Die russische Oktoberrevolution bekam ihre Schubkraft und kurzzeitige1 Akzeptanz in der Bevölkerung durch Forderungen nach „Land, Brot und Frieden“. Die politischen Kräfte der alten Ordnung waren durch den Weltkrieg gründlich in Misskredit geraten. In den Wirren der sozialen Auseinandersetzungen 1917 entstanden Formen der unmittelbaren politischen Aneignung und Selbstverwaltung („Räte“, Fabrikkomitees, Landenteignungen). Dabei handelte es sich eher um Verzweiflungstaten, die dazu dienen sollten, inmitten der Misere von Not und nicht mehr funktionierender Ordnung sowie angesichts von Sabotageakten der alten Gutsherren und Fabrikbesitzer (s. Rotermundt 1977, 82, 87f.) sich lokale Enklaven unmittelbarer Einflussnahme zu sichern. Die russische Bevölkerung war weit davon entfernt, Bewusstsein, Mentalitäten und Kompetenzen für eine gesamtgesellschaftliche Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder jenseits von kapitalistischen und staatlichen Formen auszubilden. Die engen Grenzen der Interessen und Forderungen von russischen Bauern und Arbeitern 1917-1920 vergegenwärtigt instruktiv Rotermundt 1977. Unter dieser Voraussetzung entsteht die von den Bolschewiki notgedrungen übernommene Aufgabe, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die gesellschaftliche Synthesis wie notdürftig auch immer zu sichern. Die Stellvertreterpolitik ist nicht in erster Linie Resultat einer Ideengeschichte, sondern Symptom einer realen Misere.

Die kleine Kaderpartei der Bolschewiki (zu Beginn von 1917 25.000 – 30.000 Mitglieder) nutzte die Gunst der Stunde (Legitimationsverlust der anderen politischen Kräfte) und verstand den Umsturz in Russland als Moment einer Entwicklung, die erst durch die Revolution in anderen Ländern (v. a. Deutschland) eine Perspektive in Richtung Sozialismus ermöglichen könne und Stabilisierung erhalte. Inwieweit diese Erwartung realistisch war und die räterepublikanischen Episoden in Deutschland (Bremen, München) sowie der Berliner Spartakusaufstand als Beleg für die Möglichkeit einer sozialistischen Perspektive in Deutschland gelten können, ist eine eigene Frage. Entgegen manchen hoffnungsvollen Erwartungen kam es jedenfalls außerhalb Russlands nicht zu dauerhaften revolutionären Umstürzen. Das hatte massive Folgen für die Entwicklung in der jungen Sowjetunion. Ihre Situation war dominiert durch den Bürgerkrieg und die bewaffneten Interventionen ausländischer Armeen. In deren Verlauf kam es zu einem großen Verlust an Menschenleben gerade unter den bewusstesten politischen Akteuren für die junge Sowjetrepublik und zu einer Gewöhnung an Gewalt und Gewaltmethoden.

Der Zeitzeuge Victor Serge schildert die Situation 1921 so: „Das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. … Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisationen, und hinter sich hatten sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen“ (Serge 1977, 147f.).

Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der das Bürgertum zu schwach ist, um das Land zu führen, aber auch die Akteure einer sozialistischen Entwicklung nicht stark genug sind, um sie zu gestalten. Das Proletariat war in Russland klein und wurde durch die Bürgerkriegswirren und durch die ausländische Intervention zersetzt. Der Stand der Industrieproduktion betrug 1920 13% des Niveaus von 1913 (Carlo 1972, 60). Die politisch bewussten und erfahrenen Arbeiter übernahmen Aufgaben im Staat und entfremdeten sich ihres vorherigen Milieus. Die Bauern bildeten eine heterogene und nicht über lokale Zusammenschlüsse hinauskommende Klasse. Die Stolypinschen Reformen nach 1906 zerstörten die Reste der russischen traditionellen Dorfgemeinschaft. Im ersten Weltkrieg verloren Millionen ihre Heimat und wurden ihrem sozialen Milieu entfremdet. In der SU „zogen Menschen millionenfach vom Lande in die Stadt und verwandelten sich innerhalb weniger Tage aus Bauern in ungelernte Arbeiter. Die dünne Schicht alteingesessener Arbeiter wurde von der Stalinschen Industrialisierungswoge einfach hingweggespült. ... Diese entwurzelte Gesellschaft, die weder Sozialbeziehungen noch Tradition und Kultur kannte, bedurfte unweigerlich der Leitung von außen. Eine allmächtige Bürokratie sorgte fortan … für das Überleben und die Reproduktion der Bevölkerung“ (Kagarlitzki 1992, 19). „Hätte dieser Staat … plötzlich aufgehört zu existieren, so wäre die Gesellschaft zum Untergang verurteilt gewesen: Die Menschen waren an Selbstbestimmung nicht gewöhnt. Sie wussten nichts voneinander“ (Ebd., 18).

Unter Bedingungen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Desintegration und angesichts gewaltsam abgewendeter Widerstände war der Stand der herrschenden Partei prekär und ihre Kraft wenig integrativ. „Umso mehr polarisiert und totalisiert sich ihre Sache, um so mehr ‚rabiatisiert‛ sich ihre Militanz, umso mehr ideologisiert sich ihre Bewusstseinsform“ (Fleischer 1993, 104). Ideologie bezweckt, „einen ‚schwächeren Logos’ zum stärkeren zu machen (Platon, Apologie des Sokrates), und dies nicht okkasionell, sondern konstitutionell. Ideologisches Bewusstsein ist zugleich ideativ überhöhtes und empirisch defizitäres Bewusstsein“ (Fleischer 1993, 249). Ideologische Begriffsbildung bewegt sich „diesseits oder jenseits distinkter, individuierter und raumzeitlich lokalisierter Personen-Aktivitäten-Verbünde. Ideologisches Gesellschaftsdenken hat eine Konkretionsschranke, die es vom intensiv historischen Situationsdenken trennt“ (Ebd., 249). Können die verschiedenen Interessen und Ambitionen nur mühsam auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden und kann man selbst nicht auf benennbare Kräfte für die eigenen politischen Vorhaben setzen, so zeigt das „Ideologisch-Werden des Gesellschaftsbewusstseins und der öffentlichen Rhetorik“ dann dem Betrachter die angespannte Lage eines solchen Akteurs wie der russischen KP an. „Die Rede wird dann zur ‚Ideo-Magie’, der Überredung, zur Rede im Übermaß“ (Fleischer 1989, 617f.).

1917 gelangten in Russland Sozialisten an die Regierung. Lenin war Realist genug zu sehen, dass diese Regierung bestenfalls eine Regierung für die Bevölkerung sein konnte.2 Die in Lenins Buch „Staat und Revolution“ artikulierten Vorstellung einer Selbstregierung und Selbstvergesellschaftung der Bevölkerung trafen in Russland 1917 auf nur wenige soziale Entsprechung. Die positiven Ansätze erwiesen sich als sozial nicht belastbar und verloren in Zeiten des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention an Bedeutung. Das Vorhaben, ausgehend von der Staatsspitze sich nach und nach die Grundlagen der eigenen Macht zu schaffen, sowohl durch eine Industrialisierung, die die wenig sozialismusnahen Bauern in Arbeiter umwandelt, als auch durch die politische Erziehung der Bevölkerung, war ein verwegenes und von seinen sozialen Realisierungschancen höchst störanfälliges und unwahrscheinliches Konzept.3 Der Kopf sollte sich seinen Körper erst schaffen. Viele die Kader der Revolution von 1917 waren noch durch Kontakt zu den wenigen radikalen Tendenzen in der russischen Arbeiterschaft bzw. durch Erfahrungen in Westeuropa „geerdet“. In den Jahren nach 1917 repräsentierten hingegen die immer inhaltsleerer und zu Hülsen eines schwindenden Inhalts werdenden Formeln der russischen Parteiideologie „die Macht und Ohnmacht der Politokratie, die Schranken ihrer organischen Durchsetzungskraft. Was nicht organisch funktioniert, muss man mechanisch auf zweierlei Art kompensieren: durch ein Mehr-Aufgebot an institutionellen und repressiven Machtmitteln, und durch ein Mehr-Aufgebot an rhetorischen Exerzitien“ (Fleischer 1993, 136). Die für die Ideologie typische „ideomagische“ Selbst- und Fremdsuggestion verweist auf massive Schwächen in der sozialen Wirklichkeitsgestaltung, die (über-)kompensatorische Aktivitäten in Gang setzen. Mythologie ist nicht nur vormodernen Gesellschaften eigen, sondern verlagert sich von der imaginären Bewältigung einer real unbewältigten Natur auf die einer ebensolchen Gesellschaft.4 Stalinismus ist insofern „nicht das Praktisch-werden einer Ideologie, sondern die Ideologisierung eines allzu prekären Praktischen“ (Ebd.).

Im Zuge der Auseinandersetzungen in der herrschenden Partei gewann jene Fraktion, die unter Stalin ab 1929 die Kollektivierung mit Gewaltmethoden gegenüber den Bauern durchzusetzen begann. Inwieweit die Industrialisierung auf anderem Wege hätte verwirklicht werden können und es eine reale historische Alternative gab, kann hier nicht diskutiert werden (vgl. dazu Schneider 1996, 193-211, Pietsch 1982). Selbst wenn es sie gegeben hätte, waren die Voraussetzungen für sie seitens der sozialen Kräfte im Umkreis der herrschenden Partei, des einzig handlungsfähigen politischen Akteurs, denkbar ungünstig. Diese Kräfte hatten im Zuge des Bürgerkriegs und während der ausländischen Interventionen eine negative Sozialisation erfahren. Der Kampf verhärtet den Kämpfer. Gewaltausübung geht mit Verrohung einher. Bei den sich Mitte der 1920er Jahre in der Sowjetunion durchsetzenden Spitzenfunktionären (Stalin, Molotov, Kaganovic, Vorosilov, Mikokjan, Ordzonikidze, Kirov u. a.) war eine Mentalität zentral, für die „die Gewalt das Lebenselixier“ bildete (Baberowski 2003, 53). Stalin hatte sich als Organisator von Banküberfällen im Kaukasus profiliert. Der Menschewist Martow sprach bereits früh von der Mentalität einer „Kamarilla“ und „Banditengang“ (zit. n. Abosch 1993, 78). „Ruhm und Ehre zeigten sich ihm in reicher Beute, in verwüsteteten Landschaften und in der Zahl der vernichteten Feinde. Dieser (Typ von – Verf.) Funktionär … hatte Jahre seines Lebens im Untergrund, in zaristischen Gefängnissen oder in der Verbannung zugebracht. Seine Stunde kam, als der Bürgerkrieg begann, als das Regime nach Vollstreckern, Gewalttätern und Terroristen rief, die von der Vernichtung der Feinde nicht nur sprachen, sondern sie auch ins Werk setzten. … Stalin … war ihr Idol. Er vereinigte alle Eigenschaften, die im Kreise dieser Funktionäre etwas galten: Schlichtheit, Entschlossenheit, Gewalttätigkeit“ (Baberowski 2003, 53). „Stalins Gefolgsleute kamen ... aus einem Milieu der Armut und der Gewalt“ (Ebd., 88).5

Die negative Sozialisation im Kampf gegen die Interventionsarmeen und im Bürgerkrieg revitalisiert die im vorrevolutionären Russland traditionell starke Gewaltmentalität (vgl. Baberowski 2003). Diese Sozialisation übte die Akteure nicht ein in die öffentliche Beratschlagung und Auseinandersetzung, Erwägung und Entscheidung über ein gemeinsam gestaltetes Entwicklungsprojekt. Die Praxis sozialer Assoziation oder die Verschränkung von Perspektiven der verschiedenen Bereiche der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sowie die Vergegenwärtigung, was die Arbeit der einen für die Existenz der anderen bedeutet – all dies war wenig entwickelt. Stattdessen standen Gewalt- und Kommandomethoden im Vordergrund. Ein politischen Voluntarismus wurde dominant, der die Welt als bloßes Objekt der Behandlung sieht (MEW 1, 250).6 „Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger, d.h. also, je unvollendeter der politische Verstand ist, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, um so blinder ist er gegen die natürlichen und geistigen Schranken des Willens, um so unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken.“ (MEW 1, 402)

Das Denken in sozialen Koordinaten der Selbstvergesellschaftung der Bauern und Arbeiter, die die Industrialisierung als ihr eigenes Projekt betrachten und betreiben, gehörte nicht zum Selbstverständnis von Stalin und seinen Anhängern. Faktisch handelt es sich beim Selbstverständnis der stalinistischen Partei erstens um das auch schon bei manchen Zaren vorhandene Projekt, die nationale Schmach zu beseitigen, die angesichts der russischen Rückständigkeit in der ökonomischen, politischen und kulturellen Konkurrenz der Nationen empfunden wurde. Zweitens schnurrten die Restbestände von Vorstellungen sozialer Befreiung sowohl auf den Stolz zusammen, die „alten Herren“ besiegt zu haben, auf die Verstaatlichung und auf die höhere soziale Mobilität. Drittens gewann ein Selbstverständnis immer mehr an Bedeutung, das die Ursachen von Mängeln Feinden, Saboteuren und Verschwörern zuschrieb.

Der geringen Fähigkeit zur Vergegenwärtigung der tatsächlichen Probleme sowie der wirklichen Kräfte, auf die man setzen kann, entspricht ein moralisches Selbstverständnis (der „gute Wille“). Statt Ursachen werden in dieser moralischen Perspektive Schuldige ausfindig gemacht und ihnen ein moralisch minderwertiges Handeln zugeschrieben. Schlechtes kann dann nur aus schlechten Motiven entstammen und diese wiederum nur aus schlechten Menschen. Wenn „das Gute“ „dem Schlechten“ gegenübersteht, wird das moralische zum edelmütigen Bewusstsein. „Wir haben gesehen, wie das edelmütige Bewusstsein Tatsachen umlügt oder zurechtlügt oder lächerlichen Hypothesen den Rang von ernsten Thesen anweist – alles um den Gegensatz gegen es selbst tatsächlich als das Unedle, das Niederträchtige zu konstatieren. Wir haben gesehen, wie daher seine ganze Tätigkeit ausschließlich in der Erfindung des Niederträchtigen besteht. Die umgekehrte Seite dieser Tätigkeit ist, dass es die tatsächlichen Verwickelungen, worin es selbst mit der Welt gerät, mögen sie noch so kompromittierend erscheinen, in tatsächliche Beweise des eigenen Edelmuts verwandelt. Dem Reinen ist alles rein, und der Gegner, der den Edelmut an seinen Taten misst, beweist eben dadurch, dass er der Unreine ist“ (MEW 9, 508, vgl. a. MEW 8, 145).

Um eine machiavellistische Selbstbehauptungstaktik handelte es sich bei dem stalinistischen Wüten gegen „Trotzkisten“, „Kosmopoliten“, „Zionisten“ und andere „Volksfeinde“ nur vordergründig. Verbunden mit dem Denken in militärischen Kommandoformen und mit den Gewaltmentalitäten entstand eine gleichsam durchdrehende Radikalisierung der Logik des Verdachts. Der Stalinismus war keine bloß besonders brutale und autoritäre Entwicklungsdiktatur und Variante nachholender Modernisierung. Bereits die Kollektivierung der Landwirtschaft bzw. der sog. Kampf gegen die Kulaken bildete weder eine effiziente noch moderne Landwirtschaftspolitik.7 In der „großen Säuberung“ der 30er Jahre zeigte sich, wie die Feindbegriffe immer vager wurden. Sie gerieten zu Passepartouts für Repression und Ausrottung als vorrangige Mittel der Politik. Die Vorstellung einer „Säuberung“ der Gesellschaft und einer „Reinigung“ der eigenen Partei von Feinden, Saboteuren und Verschwörern setzt eine Eigendynamik in Gang, die nicht Kriterien rationaler Selbsterhaltung eines wie auch immer inhaltlich definierten sozialen Projekts folgte. Als die Wehrmacht in den ersten Tagen die Rote Armee blitzkriegartig zurückdrängte,8 verblieb Stalin in seiner „Datscha“9 und erwartete, nun selbst inhaftiert zu werden. Die Singularität des Stalinismus bestand darin, nicht nur Fremdes auszurotten, sondern vor allem die eigene politische und militärische Elite. Von den 1827 Parteitagsdelegierten des 18. Parteitages (1939) waren nur 35 Delegierte des 17. Parteitages (1934). Von dessen 1966 Delegierten wurden 1108 „gegenrevolutionärer Verbrechen“ beschuldigt und verhaftet. 70% der auf dem 17. Parteitag zu Mitgliedern und Kandidaten des ZK Gewählten überlebten die Jahre 1937/38 nicht (Altrichter 1993, 86). Die Repression betraf vor allem die Partei selbst und die Armeeführung. „Der Krieg hätte wesentlich verkürzt, Millionen an Toten hätten vermieden werden können, wären die Massenrepressalien gegen die Rote Armee sowie andere unsinnige Maßnahmen vermieden worden, die eindeutig auf Stalins Konto gehen“ (Judick, Steinhaus 1989, 37).

Der 2. Weltkrieg wurde von der SU nicht wegen, sondern trotz Stalin gewonnen. Das Wüten der Wehrmacht und SS in den besetzten Gebieten gegen die „slawischen Untermenschen“ ließ die Bevölkerung enger mit der politischen Führung zusammenrücken und die Zurückdrängung der Wehrmacht zur primären Aufgabe werden und die Stalinisten als kleineres Übel erscheinen. Wie auch immer geartete linke Ideen spielten eine nachgeordnete Rolle. „Für die Heimat, für Stalin“ hieß die Losung im „vaterländischer Krieg“. Für die sowjetische Bevölkerung war der Überfall von Nazideutschland eine traumatische Katastrophe, für den Stalinismus ein Gottesgeschenk und ein Jungbrunnen. Gewonnen wurde der 2. Weltkrieg seitens der SU durch Mobilisierung von Patriotismus und entgegen aller Legenden nicht allein aus eigener Kraft.10

Die politische Form eines Projekts nachholender Modernisierung ist der Stalinismus nicht. Er verhält sich nicht wie die unschönen äußeren Mittel zum letztlich akzeptablen Gehalt. Gemessen am Zweck der Modernisierung und Stärkung der Nation war die stalinistische Politik alles andere als eindeutig effizient. Die Landwirtschaftspolitik und die Enthauptung der erfahrenen Armeeführung in Zeiten höchster Bedrohung bilden die deutlichsten Beispiele. Langfristig führten die Gewaltmethoden und der Voluntarismus im Gegensatz zu einem Modernisierungsprojekt zu einer beispiellosen Verödung, Erschöpfung und Verwahrlosung von Mensch und Umwelt. „Durch staatlichen Zwang konnten zwar mittelfristig hohe Leistungen erpresst werden, aber langfristig musste ein solche Gewaltregime in die Stagnation und in die passive Verweigerung statt ‚in den Sozialismus‛ führen. Die Hinterlassenschaft der Stalin-Ära war jene ‚Apathiemaschine‛ (Haug), gegen die die sowjetischen Reformer seit 1985 einen schier aussichtslosen Kampf führten“ (Schneider 1996, 204). Doping hat kurzfristige Erfolge und langfristige Erschöpfung zur Folge. Ein Schlaglicht auf die sozialmoralische Entwicklung der SU wirft die Zunahme des individuellen Wodkakonsum in einem Zeitraum von vierzig Jahren um das fünf- bis sechsfache (Zaslavsky 1982, 55). Es ist schon eine recht eigenartige Form von „Modernisierung“, die die Sowjetunion zum Land mit dem „höchsten Pro-Kopf-Verbrauch harter Alkoholika auf der ganzen Welt“ führt (Ebd.).

Im Unterschied zur „Nach­haltigkeits-Wirtschaft des Friedens“ (Weber 1972, 57) war die Wirtschaft der Stalinzeit im wesentlichen Kriegswirtschaft. Sie ist „an einem (im Prinzip) eindeutigen Zweck orientiert und in der Lage, Machtvollkommenheiten auszu­nutzen, wie sie der Friedenswirtschaft nur bei ‚Staatssklaverei‛11 der ‚Untertanen‛ zur Ver­fü­gung stehen. Sie ist ferner ‚Bankerotteurswirtschaft‛ ihrem innersten Wesen nach: der über­ra­gende Zweck lässt fast jede Rücksicht auf die kommende Friedenswirtschaft schwin­den. Die Rechnungen haben daher vorwiegend … gar nicht den Sinn, dauernde Rationalität der gewählten Auftei­lung von Arbeit und Beschaffungsmitteln zu garantieren“ (Ebd.). Wenn man den geringen Lebensstandard der Menschen berücksichtigt, lässt sich sagen, dass „die Sowjetunion unter Stalin den teuersten Weg zur Industriegesellschaft eingeschlagen“ hat, so der deutsche Sozialhistoriker Richard Lorenz (zit. n. Mettke 2007, 91).

Das Ende des Stalinismus fällt zusammen mit einer Situation, in der die quasi-militärische Kommandowirtschaft und der „Kasernensozialismus“ (Marx) an ihre Grenzen kommen. Zunehmend kam es weniger darauf an, schwerpunktförmig einzelne vergleichsweise leicht überschaubare und klar fixierbare Projekte zu realisieren. In dem Maße, wie die Arbeitsteilung wuchs, sich die Produktion ausdifferenzierte und sich die Aufgabe der Vernetzung der zunehmend interdependenten Wirtschaftsaktivitäten verschiedener Bereiche als vorrangige Aufgabe stellte, kam die Planwirtschaft von oben immanent ökonomisch an ihre Grenzen. Eine politische Grenze erreichte der Stalinismus zudem insofern, als die Sowjetunion ihrer Bevölkerung in Folge der politischen Veränderungen in den osteuropäischen Staaten und der chinesischen Revolution nicht mehr als umzingelte Nation erschien und auch deshalb nationale Bedrohungsgefühle zur Mobilisierung von Anstrengungen weniger nutzbar wurden.

In der stalinistischen SU existieren „im Inneren der ‚großen‛ Machtpyramide Tausende kleinerer und kleinster Leitungspyramiden, die die Struktur des ‚Monoliths‛ exakt widerspiegelten. Ganz oben thronte der ‚große Führer und Lehrer‛: Genosse Stalin, der über eine grenzenlose Macht verfügte. Unterhalb waren die höheren Parteifunktionäre, die Minister und Werkdirektoren angesiedelt. In ihrem jeweiligen Wirkungsbereich herrschten sie wie kleine Stalins. … Das Schicksal eines Werktätigen hing somit vom zuständigen Direktor ab. Er konnte seine Untergebenen wegen des geringsten Vergehens dem NKWD übergeben, er konnte aber auch gröbste Verstöße vertuschen. … Mit despotischer Macht ausgestattet, verfügten die örtlichen Natschalniks12 über eine vorzügliche Selbständigkeit. Das Zentrum gab die Direktiven und setzte die Kader ein. Für den Erfolg hafteten diese Personen mit ihrem Kopf. Niemandem kam jedoch in den Sinn, vom Zentrum aus jedes Detail zu planen. Dazu sah sich das damalige Regime nicht veranlasst. Man brauchte lediglich dafür zu sorgen, dass die Ressourcen auf die zentralen Bereiche konzentriert, das in kürzester Frist möglichst viele Betriebe der Schwerindustrie errichtet werden und dass die Leitung dieser Betriebe ‚treuen Söhnen der Partei‛ anvertraut war. Für andere Gedanken hatte man keine Zeit. Das System war primitiv, aber – vielleicht gerade deswegen – wirkungsvoll“ (Kagarlitzki 1992, 21f.).

Die teilweisen Wachstumserfolge der quasi-militärischen oder kriegskommunistischen Kommandowirtschaft in der Zeit des Stalinismus gelten manchen Linken als Beleg für die Überlegenheit von Planwirtschaft. Sie ignorieren die Schwierigkeiten einer Planwirtschaft von oben in einer arbeitsteilig hoch ausdifferenzierten Wirtschaft mit hohem Verflechtungsgrad.

Die Erklärung der Gesellschaften sowjetischen Typs aus der Herrschaft einer Klasse oder Kaste unterstellt ein souveränes und autokratisches Herrschaftssubjekt und setzt unwahrscheinliche Steuerungsmöglichkeiten und -zugriffe voraus. Ignoriert wird die Problematik des Verhältnisses zwischen Auftraggeber und Leistungserbringer, Repräsentanten des gesellschaftlichen Eigentums und einzelnen Betrieben. Die Komplexität13 moderner Gesellschaften erleichtert die Möglichkeit, gesellschaftlich leitende bzw. zentrale Stellen zu täuschen und deren Vorgaben umzudefinieren oder ins Leere laufen zu lassen: „Die Spitze vertraut den unteren Kreisen die Einsicht ins Einzelne zu, wogegen die unteren Kreise der Spitze die Einsicht in das Allgemeine zutrauen, und so täuschen sie sich wechselseitig“ (MEW 1, 249).

Die Gesellschaften sowjetischen Typs lieferten dafür reiches Anschauungsmaterial. Betriebe konnten sich bspw. mit Informationen über ihre zu gering angegebenen Kapazitäten die Planerfüllung erleichtern. Zu hohe Angaben in Bezug auf ihren Bedarf an Ressourcen und zu geringe Angaben über ihre realen Lagerbestände ermöglichten es Unternehmen, sich mit ‚Polstern’ auszustatten. Sowohl auf der Out- als auch der Inputseite verfügten dezentrale Wirtschaftsakteure (Betriebe und Organisationen) innerhalb ihrer Handlungsspielräume tendenziell über das Informationsmonopol. Von ihrer Informationspolitik waren zentrale(re) Stellen abhängig. Betriebe unterliefen das offizielle Organisations- und Planungsschema, demzufolge sie bloß nachgeordnete Organe darstellen.14 Quer zum offiziellen Schema von Zentrale und Betrieben etablierte sich eine Beziehungsökonomie, die über „Kontakte“ den Bezug gewünschter Güter regelte.

Die den zentralen Gremien entgegengesetzten Interessen der einzelnen Betriebe in RGW-Gesellschaften waren nicht nur eine Teilmenge der individuellen oder kollektiven Orientierung im Horizont partikularer Vorteilsnahme. Die Anhäufung von Polstern an materiellen Ressourcen und Reserven an Arbeitskräften fungierte auch als Strategie, mit Lieferausfällen umzugehen und als Mittel der Betriebe, mit denen sie auf informellen Märkten versuchten, die für die Leistungsanforderungen notwendigen Faktoren zu erhalten. Zugleich verstärkte solche Nothilfe in einer hoch störungsanfälligen Wirtschaft deren Friktionen und Disproportionen und vergrößerte soziale Unterschiede zwischen tauschstarken und tauschschwachen Betrieben.

Allgemeingesellschaftliche Interessen (bspw. an guter Qualität oder effizientem Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis) unterscheiden sich von den Interessen der einzelnen Betriebe in der SU-Wirtschaft. Ihnen ermöglicht die Produktion von Gütern mit niedriger Qualität, billigeren Materialien usw. eine leichtere Erfüllung von Planimperativen. Allerdings bringen Produkte mit niedriger Qualität (bspw. bei Maschinenteilen) die Produktion zum Stocken und erfordern hohe Kosten für Reparatur und Ersatzteile.15 Im Interesse der einzelnen Betriebe liegt es, die Produktionskapazitäten zu niedrig und den Bedarf an Ressourcen zu hoch anzugeben. Aus dieser im Interesse mittlerer Lenkungsinstanzen und der Betriebe liegenden Strategie der Informationsverschleierung folgen überdimensionierte betriebliche Lagerbestände und eine massive Senkung der Umsatzgeschwindigkeit der Produktionsfonds.16

Die bilateralen Beziehungen zwischen Planzentrale und einzelnem Betrieb dominieren im offiziellen planwirtschaftlichen Regime über horizontale und multilaterale Beziehungen der Betriebe untereinander bzw. der Betriebe zu den Konsumenten. Die planwirtschaftliche Abnahmegarantie und das zentralisierte materiell-technische Beschaffungssystem lassen die Betriebe desinteressiert sein am Nutzen der Güter für die Konsumenten. „Wenn von einem Produkt viel hergestellt und auch viel verbraucht wird, so gilt das als Indikator für großen Bedarf. Ob es in Wahrheit nur aus Mangel an Alternativen abgenommen wird, ob es in solchem Umfang nur abgenommen wird, weil es wegen Produktionsmängeln vorzeitig verschleißt oder ob es Folgekosten verursacht, weil die Abnehmer das für sie an sich ungeeignete Produkt erst nachbessern müssen, wird nicht beachtet“ (Bischoff, Menard 1990, 28).17

Der Gegensatz zwischen Einzelbetrieben und Zentrale führt auch zu einer im Vergleich zum Kapitalismus langsameren Einführung von Technologien. Der Einzelbetrieb hat kein Interesse an der Störung seiner gewohnten Verfahren durch neue Technologien, die in ihrer Anlaufphase manche Risiken und Fehlschläge mit sich bringen.

Die Bilanz der Sowjetwirtschaft ist insofern kompliziert, als es neben dem von Vergeudung und Ineffizienz charakterisierten zivilen Sektor einen militärisch-industriellen Sektor gab, der mit westlichen Standards durchaus konkurrenzfähig war. Im militärisch-industriellen Sektor herrschten nicht minder Vergeudung und Ineffizienz, es wurde ihm nur im Unterschied zum zivilen Sektor ungleich mehr Ressourcen pro Produktionseinheit zugewiesen. Die sowjetische Führung leistete sich eine Militärproduktion zu außerordentlich hohen Produktionskosten, die gesamtgesellschaftlich nicht verallgemeinerbar gewesen wären. Die Aufrüstungspolitik unter Reagan zielte darauf ab, die Sowjetunion noch stärker in einen Rüstungswettlauf zu verwickeln, der ihr verglichen mit den USA ein ungleich höheres Maß an Werttransfer aus dem zivilen Sektor abforderte und diesen schlussendlich überfordern musste.

Im Unterschied zu linker Sympathie für die Staaten sowjetischen Typs (wg. „Planung“) ist davon auszugehen, dass es sich um eine verwaltete Wirtschaft handelte, „deren größter Teil von niemand kontrolliert wird“ (Ticktin 1981, 15). Der in der Frühzeit der SU zentrale Ökonom Preoprazenskij hat die These vertreten, dass die SU die Vorteile des Sozialismus nie besessen, die Vorteile der kapitalistischen Ökonomie jedoch verloren habe. Von all dem müssen jene absehen, die es darauf abgesehen haben, die Sowjetunion sich als „realpolitische“ Gestalt der Realisierbarkeit ihrer Vorstellungen zu erhalten.18

Anmerkungen

1 Anweiler zufolge hätten „bei freien Wahlen in die Arbeiterdeputiertenräte die Menschewiki gegen Ende des Bürgerkriegs mehr Sitze gewonnen als die Bolschewiki“ (Anweiler 1958, 295). Das ist auch die Auffassung von Isaak Deutscher: „Hätten die Bolschewiki jetzt freie Wahlen zugelassen, so würden sie fast mit Sicherheit aus ihrer Machtstellung hinweggefegt worden sein” (Deutscher 1972, 472).

2 „Russland wurde nach der Revolution von 1905 von 130.000 Gutsbesitzern regiert, und zwar mittels endloser Vergewaltigung und Drangsalierung von 150 Millionen Menschen, deren ungeheure Mehrzahl zu Zuchthausarbeit und einem Hungerdasein gezwungen wurde. Und da sollen 240.000 Mitglieder der Partei der Bolschewiki nicht imstande sein, Russland zu regieren, es im Interesse der Armen und gegen die Reichen zu regieren“ (Lenin Werke 26, 95). Lenin war als junger Mensch beeindruckt von Tschernyschewskis Roman „Was tun?“ von 1862. In ihm werden die Revolutionäre als „neue Menschen“ dargestellt. „Es sind ihrer Wenige, aber durch sie erblüht das Leben Aller. Sie sind die Blüte der Besten, die Beweger der Beweger, das Salz der Erde.“

3 „Die Bolschewiki gaben sich den Auftrag, eine Avantgarde zu sein, „die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens“ (Lenin 1970, 24). Allerdings ist Lenin selbst nicht eindeutig: „Die Partei des Proletariats darf sich unter keinen Umständen das Ziel setzen, in einem Land der Kleinbauernschaft den Sozialismus ‚einzuführen’, bevor nicht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution erkannt hat“ (Lenin 1967a, 67). „Wir sind keine Blanquisten, keine Anhänger der Machtergreifung durch eine Minderheit“ (Lenin 1967b, 47). „Irgendwelche Umgestaltungen, die nicht sowohl in der ökonomischen Wirklichkeit als auch im Bewusstsein der erdrückenden Mehrheit des Volkes vollständig herangereift sind, werden von der Kommune, d.h. von den Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten keineswegs ‚eingeführt’, sie beabsichtigt nicht, sie ‚einzuführen’, und soll sie auch nicht einführen“ (Lenin 1967a, 63).

4 „Alle Mythologie überwindet und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben“ (Marx 1974, 30).

5 „In den ‚Moskau-News‛ letzten Jahres wurde ein damaliger NKWD-Mann porträtiert. 1914, als der Krieg ausbrach, war er sieben, im Bürgerkrieg 11 oder zwölf, er hat die Hungerleiden von 1921 und 1933 gesehen, Ströme von Blut waren selbstverständlich. 1938 wurde er abkommandiert zur NKWD. ... Überall hörte er von Feinden, und seine Einstellung war: es gibt kein Omelett ohne Zerschlagung der Eier“ (Arbeiterpolitik 1991, 35). NKWD ist die Abkürzung für das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, also das Innenministerium.

6Ein charakteristisches Statement eines Ökonomen aus der frühen Zeit des Stalinismus, das auch typisch ist für die Mentalität während des „großen Sprunges“ und der „Kulturrevolution“ in China, lautet: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Wirtschaft zu studieren, sondern sie zu verändern. Wir sind nicht durch Gesetze gebunden. Es gibt keine Festungen, die nicht von den Bolschewiki eingenommen werden könnten. Die Frage des Tempos wird von den Menschen entschieden“ (zit. n. Shapiro 1961, 386).

7 Die Bruttoproduktion der Landwirtschaft verringerte sich von 1928 bis 1933 um 20%, die der Viehwirtschaft um 50%. Vor dem Krieg erreichte die Agrarproduktion das Niveau von 1928 nie wieder – wenn man von den Jahren 1937 und 1940 absieht. „Die landwirtschaftliche Pro-Kopf-Produktion blieb die gesamte Stalin-Ära unter ihrem Vorkollektivierungsniveau. Die Hektarerträge der wichtigsten Produkte stagnierten oder sanken. … Die ab 1929 von der KPdSU verfolgte Agrarpolitik muss … daher vom wirtschaftlichen Standpunkt aus in jeder Hinsicht als ein Fiasko bezeichnete werden“ (Weißenburger 1982, 159f.). „Von den Folgen der terroristischen Kollektivierung hat sich die SU nie mehr erholt; muss sie doch seit Jahrzehnten Getreide aus den USA und Kanada importieren. Dabei war die Ukraine noch im 19. Jahrhundert die Kornkammer Russlands gewesen, die ganz Europa mit Getreide versorgt hatte“ (Schneider 1996, 204).

8 „Von 152 sowjetischen Divisionen wurden 30 in den ersten drei Wochen aufgerieben, 70 auf die Hälfte ihrer Truppenstärke reduziert, die Luftwaffe war nach wenigen Monaten zu 96% vernichtet; ganz zu schweigen von den Industriewerken der großen ukrainischen und weißrussischen Städte. (Entgegen einer verbreiteten Legende begann die Verlagerung hinter den Ural erst nach dem deutschen Angriff)“ (Posener 1993, 64).

9 „Was im sowjetischen Volksmund verniedlichend die ‚Stalin-Datscha‛ hieß …, erweist sich … als zweistöckige klassizistische Villa mit dorischem Säulenportal, 13 Veranden und mehr als 1100 Quadratmetern Wohnfläche pro Stockwerk“ (Mayr 2007, 106)

10 „Umfangreiche Materiallieferungen“ seitens der Westmächte versorgten die SU „bis 1945 mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln, Rohstoffen, Ausrüstungsgütern und fahrbarem Material; dazu gehörten, um nur eine Zahl zu nennen, über 350.000 LKWs und fast 50.000 Jeeps, mehr als die SU zur gleichen Zeit selbst produzierte“ (Altrichter 1993, 107).

11Anfang 1935 gab es 965.742 Lagerinsassen, Anfang 1941 1.929729, Anfang 1950 2.561.531, Anfang 1953 2.468524 (Applebaum 2003, 614). Die Zahl all jener, die in Gulag-Lagern waren, fällt schon aufgrund der hohen Sterberate weit höher aus. Zudem wurden 1943 „eine Million Gefangener aus den Lagern direkt zur Roten Armee geschickt – eine Tatsache, die die Gesamtstatistik kaum erfasst, weil in den Kriegsjahren so viel neue Häftlinge in die Lager kamen. Ein anderes Beispiel: Im Jahr 1947 gab es in den Lagern 1.490959 Neuzugänge und zugleich 1.012967 Abgänge“ (Applebaum 2003, 615). Die Gesamtzahl der Menschen, die in der Sowjetunion zwischen dem Ende der 1920er und der Mitte der 1950er Jahre in Lagern gefangengehalten wurden, wird in der jüngeren Forschung mit etwa 18 bis 20 Millionen angegeben (Ivanova 2000, 188). Hinzu kommen noch jene, die in der Sowjetunion zu Zwangsarbeit verrichten mussten, die aber nicht im Gulag stattfand. Zu dieser Gruppe der „Zwangsarbeiter mit Freiheitsentzug“ gehören „die Kriegsgefangenen, die Insassen der Filtrationslager der Nachkriegszeit, v. a. aber die ‚Sonderumsiedler‛, d.h. während der Kollektivierung verbannte Kulaken, nach 1939 deportierte Polen, Balten und andere sowie die während des Krieges umgesiedelten Kaukasier, Tataren, Wolgadeutschen und andere Völkerschaften“ (Applebaum 2003, 615f.). Im von Sabine Kebir und Anderas Wehr gelobten Band von Domenico Losurdo über Stalin werden die Gulag-Lager „nicht für mörderische Strafarbeitslager, sondern tendenziell für Erholungsheime“ gehalten, „die Zivilisation in abgelegene Regionen brachten. Bis 1937 seien die Insassen als potentielle ‚Genossen‛ behandelt worden. In Wirklichkeit waren sie zu ‚Volksfeinden‛ erklärt und als solche verurteilt worden. ‚Volksfeinde‛ aber galten den Funktionären des Gulag für schlimmer als die ‚sozial nahen‛ Kriminellen, die faktisch diese Lager beherrschten“ (Röhr 2012, 203f.).

12 Dieser russische Begriff bezeichnete den Chef oder Vorarbeiter.

13 Komplexität bezeichnet den Grad, in dem ein Ent­­scheidungsfeld sachlich, sozial und zeitlich (a) jeweils verschiedene Ebenen be­­in­hal­tet, (b) diese interagieren und es (c) aus der Vielschichtigkeit und den Inter­­dependenzen zu kontraintuitiven Wirkungen, Rückkopplungen und Eigendynamiken kommt.

14 „Ungeachtet zahlloser Beschlüsse, Resolutionen, Dekrete und Anweisungen, die Verbesserung der Produktqualität postulieren, vorschreiben und Kontrollen verschärfen, bleibt (in der Sowjetunion – Verf.) die negative Sanktionierung funktionsschwacher, defektanfälliger usw. Erzeugnisse für Direktoren und Arbeitskollektive wenig empfindlich. Eine Ausnahme davon war verbunden mit der bereichsweisen Einführung einer staatlichen Qualitätsabnahme Anfang 1987. Die daraus folgenden Lohneinbußen erzeugten aber in den Betrieben eine solche Unruhe, dass die Kontrollen abgeschwächt wurden“ (Conert 1990, 50).

15 „Nach Angaben des staatlichen Unionsinstituts für Traktoren wird für einen Traktor während seiner Lebensdauer von bis zu acht Jahren das Zweieinhalbfache seiner ursprünglichen Herstellungskosten zusätzlich ausgegeben“ – für Reparatur und Ersatzteile (Ticktin 1981, 9). „Eine Schätzung bestimmt die Häufigkeit von Maschinenschäden bei sowjetischen Produkten des Maschinenbaus, den Verteidigungssektor eingeschlossen, auf das 3-4fache der Maschinenschäden in den USA insgesamt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in der SU mehr Maschinen damit beschäftigt sind, Maschinen zu reparieren, als es Leute gibt, die Maschinen herstellen“ (Ebd., 6).

16 „Bei einem Nationaleinkommen von etwa 600 Mrd. Rubeln beträgt der Gesamtwert der bei den Betrieben und Organisationen eingelagerten Materialien über 460 Mrd Rubel, mindestens doppelt so viel, wie sinnvoll wäre“ (Aganbegjan 1989, 56).

17 Ein Beispiel bildet das „Tscheljabinsker Traktorenwerk“, „einer der Haupthersteller von Bulldozern“ (Aganbegjan 1989, 54). „Seine Arbeit wurde, wie übrigens auch bei allen anderen Betrieben, nach der Stückzahl der hergestellten Bulldozer und dem Volumen der Bruttoproduktion in Rubeln bewertet. Um auf eine höhere Stückzahl zu kommen, ging das Werk, anstatt Bulldozer als Spezialmaschinen für einen ganz bestimmten Verwendungszweck zu konstruieren und zu bauen, einen leichteren Weg: Es hängte praktisch dem Raupentraktor, den es produzierte, einen Schrapper an und deklarierte das Ganze als Bulldozer“ (Ebd.). Einige tausend Stück wurden pro Jahr in die nördlichen Gebiete der SU geliefert. „In seiner Standardausführung war der Tscheljabinsker Bulldozer für diese harte Arbeit im Norden ganz offensichtlich nicht geeignet. Darum richteten ihn die Betriebe im Norden, wenn sie wieder eine Lieferung bekommen hatten, zunächst für ihre Zwecke ein und schweißten an die zu schwachen Teile zusätzliche Stahlgerippe an. Doch selbst nach einer solchen Umrüstung überstand der Bulldozer nie auch nur eine Saison ohne Blessuren und brauchte jedes Jahr eine Generalüberholung, deren Kosten seinen Neuwert um ein Mehrfaches überstiegen. Darum wurden im Norden, wo es drei- bis fünfmal teurer als z. B. in Tscheljabinsk ist, Arbeitskräfte anzuwerben und zu bezahlen, acht ziemlich große Werke zur Umrüstung und Reparatur dieses untauglichen Fabrikats errichtet“ (Ebd., 54f.).

18 Eine besonders aufwändige Stalinrehabilitierung betreibt Domenico Losurdo. Zu ihr ist in den Rezensionen seines Stalin-Buch von Werner Röhr (2012) sowie von Philippe Kellermann (http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/Domenico-Losurdo-Stalin-Geschichte.html) bereits alles gesagt. Losurdos Verdrehungen entgegenzutreten erscheint angesichts der positiven Resonanz auf diesen Band bei Sabine Kebir, Andreas Wehr u. a. dringend notwendig.

Literatur

Abosch, Heinz 1993: Das Ende der großen Visionen. Plädoyer für eine skeptische Kultur. Hamburg

Aganbegjan, Abel 1989: Ökonomie und Perestroika. Hamburg

Applebaum, Anne 2003: Der Gulag. Berlin

Altrichter, Helmut 1993: Kleine Geschichte der Sowjetunion. München

Gruppe Arbeiterpolitik 1991: Weiße Flecken. Über die Geschichte der Sowjetunion. Bremen

Anweiler, Oskar 1958: Die Rätebewegung in Rußland 1905 – 1921. Leiden

Baberowski, Jörg 2003: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München

Bischoff, Joachim; Menard, Michael 1990: Marktwirtschaft und Sozialismus. Hamburg

Carlo, Antonio 1972: Politische und ökonomische Struktur der UdSSR. Berlin

Conert, Hansgeorg 1990: Die Ökonomie des unmöglichen Sozialismus. Münster

Creydt, Meinhard 2014: Wie der Kapitalismus unnötig werden kann. Kräfte und Perspektiven einer substanziellen Gesellschaftsveränderung. Münster (erscheint im November im Verlag Westfälisches Dampfboot)

Deutscher, Isaak 1972: Trotzki I: Der bewaffnete Prophet. Stuttgart

Fleischer, Helmut 1989: Zur Historisierung des Sowjetsozialismus. In: Universitas H.7

Fleischer, Helmut 1993: Epochenphänomen Marxismus. Hannover

Ivanova, Galina M. Ivanova: Labor Camp Socialism: The Gulag in the Soviet Totalitarian System. New York, London 2000

Judick, G.; Steinhaus, K. (Hg.) 1989: Stalin bewältigen. Sowjetische Dokumente der 50er, 60er und 80er Jahre. Düsseldorf
Kagarlitzki, Boris 1992: Der gespaltene Monolith. Berlin

Lenin, W. I. 1967a: Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution. In: Ausgewählte Werke in drei Bänden, Bd. 3. Ost-Berlin

Lenin, W. I. 1967b: Über die Doppelherrschaft. In: Ausgewählte Werke in drei Bänden, Bd. 3. Ost-Berlin

Lenin, W. I. 1970: Staat und Revolution. In: Lenin Studienausgabe (in 2 Bänden), Bd. 2. Hg. von Iring Fetscher. Frankf. M

Marx, Karl 1974: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin (DDR)

Mayr, Walter 2007: Schattenreich des Führers. In: Spiegel Special Geschichte, Nr. 4: Experiment Kommunismus

Mettke, Jorg R. 2007: Der große Terror. In: Spiegel Special Geschichte, Nr. 4: Experiment Kommunismus

Pietsch, Anna-Jutta 1982: Stalinismus als Phänomen der nichtkapitalistischen ursprünglichen Akkumulation. In: Gernot Erler, Walter Süß (Hg.): Stalinismus. Probleme der Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und Weltkrieg. Frankf. M.

Posener, Alan 1993: Stalin/Roosevelt. Hamburg

Röhr, Werner 2012: Rezension von Losurdos Stalinbuch. In: Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 92, 23. Jg.

Rotermundt, Rainer 1977: Oktoberrevolution und Sozialismus. In: Prokla, Nr. 27, Jg. 7

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Shapiro, Leonard 1961: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berlin

Ticktin, Hillel H. 1981: Zur politischen Ökonomie der UdSSR. In: Ders.; Holubenko, M.; Cox, M. u. a.: Planlose Wirtschaft. Zum Charakter der sowjetischen Gesellschaft. Hamburg (erschien zuerst in: Critique Nr. 1, Jg. 1. Glasgow 1973).

Weber, Max 1972: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen

Zaslavsky, Victor 1982: In geschlossener Gesellschaft. Gleichgewicht und Widerspruch im sowjetischen Alltag. Berlin


Editorische Hinweise

Wir erhielten den Aufsatz vom Autor zur Zweitveröffentlichung.

Erstveröffentlicht:
4.11.2014 in „Sozialistische Positionen“