Kommentare zum Zeitgeschehen
Koalitionsfreiheit unter Beschuss

von Detlef Hensche

12-2014

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Der Entwurf für ein Tarifeinheitsgesetz soll aufmüpfige Berufsverbände bändigen und bedeutet im Kern die Beschneidung verfassungsmäßig verbriefter Rechte von Arbeitern. Den Unternehmen reicht das trotzdem nicht.

Man muss kein Freund der GDL und anderer Berufsverbände sein, um die Reaktion auf die Streiks der Piloten und der Lokführer mit Sorge zu verfolgen. Seitdem einige dieser Organisationen gewerkschaftliches Selbstbewusstsein an den Tag legen, lässt sich die notorisch wirtschaftsfriedliche Gesellschaft in eine öffentliche Hysterie treiben, als drohe der Untergang des Abendlandes. So wird der Boden für staatliche Eingriffe in die Koalitionsfreiheit bereitet – also das Recht abhängig Beschäftigter, sich zur Vertretung ihrer Interessen zusammenzuschließen. Genau dies steht derzeit auf der Tagesordnung der großen Koalition. Durch das geplante Tarifeinheitsgesetz sollen im Falle konkurrierender Tarifverträge die Mitglieder der Gewerkschaft, die im Betrieb in der Minderheit sind, um die Früchte ihrer Tarifverhandlungen und ihres gewerkschaftlichen Engagements gebracht werden. Allein der Mehrheitstarifvertrag soll gelten, der der Minderheit soll ohne Wirkung bleiben.

Zur Erinnerung: Ursprünglich hatten die Arbeitsgerichte, wenn für dieselbe Gruppe von Beschäftigten unterschiedliche Tarifverträge abgeschlossen worden waren, nur den Tarifvertrag gelten lassen, der nach seinem Inhalt den Verhältnissen des Betriebes am nächsten kam (Spezialitätsgrundsatz). Das Streikrecht blieb davon unberührt und wurde nicht beschränkt. Für Jahrzehnte spiegelte die Tarifeinheit die gewerkschaftliche Realität und war deshalb kein Problem. Die DGB-Gewerkschaften dominierten, andere Gewerkschaften, vor allem Berufsverbände, fuhren im Geleitzug von Tarifgemeinschaften mit. Erst als sich vor ca. 15 Jahren einige Berufsverbände lösten und eigene Tarifverträge forderten, kam es hier und da zu verschiedenen, sich überschneidenden Tarifverträgen. Spätestens seit dieser Zeit war die Rechtsprechung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Schon immer war sie heftig kritisiert worden, da sie der Gewerkschaft, deren Tarifvertrag nicht der speziellere war, die Tarifautonomie beschnitt. Folgerichtig hat dann das Bundesarbeitsgericht nach vorangegangener Ankündigung 2010 seine bisherige Rechtsprechung aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgegeben. Seitdem gelten im Falle von Tarifüberschneidungen beide Tarifverträge für die jeweiligen Mitglieder der vertragschließenden Gewerkschaften – wie Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie dies gebieten.

Seit dieser Zeit verlangen die Unternehmer eine gesetzlich angeordnete Tarifeinheit, allerdings vornehmlich deshalb, um auf diesem Wege das Streikrecht aufmüpfiger Berufsgewerkschaften einzuschränken. Die große Koalition zeigte sich willfährig, nachdem das Vorhaben in der letzten Legislaturperiode an der FDP gescheitert war. Doch auf die SPD ist offenkundig Verlass.

Der nunmehr von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vorgelegte Gesetzentwurf gibt nicht wie die frühere Rechtsprechung dem spezielleren Tarifvertrag den Zuschlag, sondern dem Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb. Das Gesetz soll, so Nahles, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern, die durch Gewerkschaftskonkurrenz gefährdet sei. Hier flunkert die Ministerin. Gewerkschaftliche Spaltung und gegenläufige Tarifverträge gibt es seit Jahrzehnten. Schon immer haben sich Organisationen dazu missbrauchen lassen, bestehende Tarifverträge durch Dumpingtarife zu unterlaufen. Vor allem die Verbände des Christlichen Gewerkschaftsbundes haben sich hier hervorgetan. Diese und andere gelbe Gewerkschaften werden immer wieder von Unternehmern gefördert und von der Politik toleriert. Doch gegen diese Unterbietungskonkurrenz richtet sich der Gesetzentwurf gerade nicht. Im Gegenteil, Firmen, die sich zwecks Lohndrückerei gelbe Gewerkschaften ins Haus holen, wie lange Zeit einige Arbeitgeberverbände der Zeitarbeit oder die PIN AG, werden bei gesetzlich angeordneter Tarifeinheit leichtes Spiel haben, der Dumpinggewerkschaft zur Mehrheit zu verhelfen und so den Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften den Tarifschutz zu entziehen. Wer auch immer im DGB meint, sich mit dem Gesetz arrangieren zu können, dürfte ein böses Erwachen erleben.

Spaltung der Belegschaft

Entgegen der offiziellen Erklärung geht es auch nicht um einheitliche Arbeitsbedingungen im Betrieb. Die Einheit haben die Arbeitgeber längst aufgekündigt. Wann immer es der Kostensenkung dient, ist den Unternehmern keine Betriebsspaltung, keine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitsverträge, Tarife und betrieblicher Regelungen zu kompliziert. Da werden Unternehmen und Betriebe gespalten, die Trennlinien verlaufen oft mitten durch den Produktionsprozess, um Teile der Belegschaft einem schlechteren Tarif zu unterwerfen oder die Tarifbindung gänzlich abzuschütteln. Mitglieder der Stammbelegschaft arbeiten Seite an Seite mit Leiharbeitern oder solchen auf Werkvertragsbasis, die jeweils unterschiedliche Arbeits- und Tarifverträge mitbringen.

Wenn der Funktionsfähigkeit der Tarifordnung Gefahr droht, so durch Tarifflucht des Unternehmers und durch das geplante Chaos betrieblicher Arbeitsbeziehungen. Doch dies war bisher kein Anlass für gesetzliche Reformen. Wenn dagegen streikfähige und streikbereite Spartengewerkschaften auf den Plan treten und gegen den Trend der Lohndrückerei ausscheren, erwachsen angeblich Gefahren für das Tarifsystem, die den Gesetzgeber veranlassen, zum größtmöglichen Schlag auszuholen und den aufmüpfigen Verbänden den Weg zu verbindlichen Tarifverträgen zu versperren.

Die Rolle des Schurken im Spiel weist die Begründung des Gesetzentwurfs den »Arbeitnehmern in besonderer Schlüsselposition« zu. Andere sprechen von »Funktionseliten«. Diese Arbeitnehmergruppen verhinderten, so die Arbeitsministerin, Lohngerechtigkeit. Ihre Arbeit werde nicht nach Leistung, sondern »nach der Stellung oder Streikmacht im Betrieb« entlohnt. So entsteht das Bild einer ohnehin gut bezahlten Elite, die sich mit starken Ellenbogen angeblich auf Kosten der anderen bereichert. Wohlgemerkt, die Ministerin denkt dabei nicht an Banker, Finanzmarktakteure oder an Unternehmen, die es mit der Steuerzahlung nicht so genau nehmen. Nein, der Gesetzentwurf hat Arbeitnehmergruppen und Berufe im Visier, die allenfalls durch Qualifikation, Berufsstolz und Sozialprestige hervorstechen, sich jedoch in ihrer fremdbestimmten, abhängigen Arbeit in nichts vom Industriearbeiter oder der Verwaltungsangestellten unterscheiden.

Um nicht missverstanden zu werden: Berufsorganisationen sind gewerkschaftspolitisch nicht der richtige Weg. Nicht weil sie sich auf Kosten der übrigen Beschäftigten bereichern, sondern weil sie sich der Aufgabe entziehen, ihre Stärke zugleich für andere einzusetzen. Da Konfliktfähigkeit und Organisationsgrad ungleich verteilt sind, ist es gewerkschaftliche Grundaufgabe, Erfolge und Durchsetzungsvermögen der Starken so zu nutzen, dass auch die Schwachen mitgezogen werden. Dafür bieten Gewerkschaften mit umfassender Branchenzuständigkeit zwar keine Gewähr, doch die größten Chancen. Soweit Berufsverbände bestehen, waren und sind Tarifgemeinschaften der Ort, um die notwendige Solidarität zu leisten und Konkurrenz zu verhindern. Nur so können zwischengewerkschaftliche Konkurrenzen und Konflikte ausgeglichen werden, nicht aber mit Hilfe des Staates.

Dass in den letzten Jahren einige Berufsverbände, darunter die Lokführer, die Krankenhausärzte, die Piloten und Fluglotsen, ausgeschert sind und eigene Wege gehen, ist daher ärgerlich, aber kein Zufall. Die Verselbständigung fällt in eine Zeit verbreiteter und langanhaltender Lohnzurückhaltung mit insgesamt negativer Verteilungsbilanz. Wundert es, dass in solcher Lage durchsetzungsstarke Berufsgruppen zu Alleingängen neigen, um jedenfalls für sich den Verteilungsspielraum auszuschöpfen? Das alles ist misslich, doch keinesfalls durch gesetzlichen Eingriff in die Tarifautonomie zu lösen.

Einschränkung des Streikrechts

Wie unter einem Brennglas zeigt sich die Tragweite des geplanten Gesetzes an den jüngst erfolgten Streiks der Lokführer. Politik und Medien unternehmen derzeit alles, um einen trüben gesellschaftlichen Bodensatz an Illiberalität und Untertanenmoral aufzuspülen. Der Arbeiter hat brav und fügsam seinen Dienst zu tun, ohne Murren und Knurren. Wehe, er lehnt sich auf und kündigt gar vorübergehend den betrieblichen Gehorsam! So hören wir, der Streik sei wegen seiner Fernwirkungen unverhältnismäßig. Mit Recht sind die Gerichte dem nicht gefolgt. Jeder Streik trifft zugleich Dritte. Das ist nicht neu. Schon im Mittelalter gab es, wenn die Bäcker streikten, keine Brötchen in der Stadt. Als das Grundgesetz nach langer konfliktreicher Vorgeschichte, an deren Anfang die Unterdrückung der Gewerkschaften stand, die Koalitionsfreiheit samt Streikrecht als Grundrecht anerkannte, hatte man nicht anders als heute Arbeitsniederlegungen in einer vielfach vernetzten Wirtschaft vor Augen. Mit Bedacht garantiert Artikel 9 Absatz 3 der Verfassung die Koalitionsfreiheit »für jedermann und für alle Berufe«. Wer fremdbestimmte Arbeit leistet, hat das unveräußerliche Recht, sich gemeinsam mit seinen Kollegen zu wehren, gleich ob er im Handwerk, in der Industrie, oder in Betrieben der privaten und öffentlichen Dienstleistung beschäftigt ist. Die Verfassung duldet kein Zwangsregime der Arbeit oder öffentliche Dienstverpflichtungen, auch nicht wenn die Arbeit der sogenannten Daseinsvorsorge dient. Die mit jedem Streik verbundenen mittelbaren Folgen sind in einer freiheitlichen Gesellschaft hinzunehmen. Die Rechtsordnung kennt nur eine Ausnahme: wenn Grundrechte Dritter, wie Leben und Gesundheit, gefährdet sind. Deshalb gibt es z. B. bei Streiks in Krankenhäusern, bei Rettungsdiensten oder Feuerwehr einvernehmlich geschlossene Notdienstvereinbarungen.

Im Lokführerstreik verhält sich der Bahn-Vorstand so, als gäbe es das Gesetz bereits und verschärft auf diese Weise den Konflikt. Streitpunkt ist die Forderung der GDL, auch die Zugbegleiter in den Tarifvertrag einzubeziehen. Die Gewerkschaft missbrauche damit die Streikfreiheit für tariffremde Machtinteressen. Der Vorwurf ist absurd. Natürlich ist es unschön, wenn die Gewerkschaftskonkurrenz auf die Zugbegleiter ausgedehnt wird. Für alle Gewerkschaften, übrigens auch im DGB gilt: Landnahme im bisher fremden Terrain tut nicht gut. Jede Konkurrenz und ihre Ausdehnung schaden. Nur werden durch die Expansion der GDL weder Tarifforderung noch Streik illegitim. Ja, im Vorfeld der gesetzlich dekretierten Tarifeinheit handelt die GDL aus ihrer Sicht durchaus rational. Wenn die Politik der Minderheitsgewerkschaft Tarifverträge und Existenz streitig macht, liegt es nahe, dass die so bedrängte Organisation ihre Zuständigkeit ausdehnt, um die betriebliche Mehrheit zu erlangen. Nach demselben Muster will sich derzeit die der Flugbegleiter (UFO) zu Lasten von ver.di in eine Branchengewerkschaft wandeln und Bodenpersonal aufnehmen. Auch sie will morgen nicht als Minderheitsgewerkschaft am Strick der gesetzlich verordneten Tarifeinheit hängen. So stiftet das Gesetz schon als Entwurf nicht Frieden, sondern tritt neue Konflikte los.

Das macht auch vor DGB-Gewerkschaften nicht halt: Seit geraumer Zeit ufern Grenzstreitigkeiten unter ihnen aus. Zur Beilegung solcher Konflikte sieht der DGB ein Schiedsverfahren mit verbindlichen Entscheidungen vor. Dieses Prozedere dürfte an Attraktivität verlieren, wenn sich die wildernde Gewerkschaft ausrechnen kann, – vielleicht sogar mit Hilfe des Arbeitgebers – die Mehrheit im umkämpften Betrieb zu erlangen und damit die Konkurrentin zu verdrängen. Warum sollte sich die siegreiche Gewerkschaft dann auf ein Schiedsverfahren einlassen?

Kein Missbrauch

Zurück zum Missbrauchsvorwurf. Es tut gut, sich hin und wieder auf die Wurzeln der Koalitionsfreiheit zu besinnen. Das Grundrecht ist zuallererst ein individuelles Freiheitsrecht der Arbeitnehmer, sich mit anderen zusammenzuschließen, sich gemeinsam zu wehren, notfalls durch Verweigerung des Tag für Tag eingeübten betrieblichen Gehorsams. Wenn sich die Zugbegleiter der GDL anschließen, wenn sie sich gar von der EVG abwenden, ist das jeweils ihre freie, von der Verfassung geschützte Entscheidung. Auch die Gewerkschaft selbst ist geschützt und genießt kollektive Rechte. Das aber ändert nichts daran, dass zuvörderst jeder Arbeitnehmer die Freiheit hat, einer Gewerkschaft beizutreten, gewerkschaftliche Forderungen zu unterstützen und zu diesem Zweck zu streiken. Wer von dieser Freiheit Gebrauch macht, treibt weder Missbrauch noch dunkle Machtspiele. Auch die Aufforderung an Kollegen, gleichfalls beizutreten und sich der Arbeitsniederlegung anzuschließen, um die Gewerkschaft zu stärken, gehört zum Kern der Koalitionsfreiheit und ist kein Missbrauch. Von Missbrauch kann nur reden, wer sich in der Rolle des selbsternannten Zensors grundrechtlich geschützter Freiheitsausübung gefällt.

Behält man die Arbeitnehmer im Blick, erschließt sich auch die Schwere des von der großen Koalition geplanten Eingriffs. Bestehen kollidierende Tarifverträge, verlieren die Mitglieder der Gewerkschaft, die im Betrieb in der Minderheit sind, ihren Tarifschutz. Dem von ihnen vorbereiteten, verhandelten und durchgesetzten Tarifvertrag entzieht das Gesetz die rechtliche Geltung. Zum Kern der Koalitionsfreiheit gehört jedoch die gemeinsame Aushandlung und die rechtsverbindliche Vereinbarung der Arbeitsbedingungen. Zu diesem Zwecke haben sich die Mitglieder zusammengeschlossen, ihre Gewerkschaft unterstützt und gestärkt. Der Gesetzgeber, der ihnen dieses Recht auf autonome Aushandlung der »Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen« nimmt, macht die Mitgliedschaft sinnlos. Für Liederabende braucht man keine Gewerkschaft.

Die von der Regierung angebotenen Trostpflaster gehören in die Kategorie Volksverdummung. Zum einen erhält die unterlegene Gewerkschaft das Recht, ihre Forderungen »mündlich vorzutragen«. Doch das verpflichtet den Unternehmer zu nichts, noch nicht einmal zu Verhandlungen. Zum anderen kann die Minderheitsgewerkschaft, deren Tarifvertrag der gesetzlich angeordneten Verdrängung zum Opfer fällt, die »Nachzeichnung« des Mehrheitstarifvertrages verlangen, damit ihre Mitglieder nicht gänzlich tariflos gestellt werden. Doch das ist eben nicht ihr, sondern ein fremder Tarifvertrag, den sie ja gerade nicht gewollt haben. Zudem gilt das Nachzeichnungsrecht laut Regierungsentwurf nur dann, wenn zuvor zwei konkurrierende Tarifverträge abgeschlossen wurden. Lässt der Arbeitgeber dagegen mit Unterstützung des Gesetzes die ungeliebte Gewerkschaft ins Leere laufen und verweigert ihr jeglichen Abschluss – weil er ja ohnehin nicht gelten würde – entfällt auch das Nachzeichnungsrecht; die Mitglieder der kleineren Gewerkschaft blieben ohne Tarifschutz.

Stärkung der Unternehmer

Die Tarifkollision will der Gesetzentwurf nach dem Mehrheitsprinzip lösen. Den Zuschlag erhält der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Die Ministerin feiert dies als Ausgeburt der Demokratie. So? Schaut man genauer hin, erhält der Arbeitgeber eine Schlüsselrolle. Maßgebend sind die Mehrheitsverhältnisse »im Betrieb«. Welche Arbeitseinheiten und welche Unternehmensteile als solcher gelten, entscheidet allein der Arbeitgeber. Sicher kann das Gefälle zwischen den Gewerkschaften so groß sein, dass es schwerfällt, die womöglich willfährige kleinere Gewerkschaft durch Betriebsmanipulation zur Mehrheitsgewerkschaft zu machen. Doch sobald sich die Größenverhältnisse annähern, hat es der Unternehmer in der Hand, die betrieblichen Grenzen durch Teilung oder Zusammenlegung so zu ziehen, dass die von ihm favorisierte Gewerkschaft und deren Tarifverträge die Mehrheitsvoraussetzung erfüllen. Insbesondere, wenn Verbände beteiligt sind, die der Gesetzentwurf im Visier hat, wird es den Unternehmern ein leichtes sein, die Domäne der jeweiligen Berufstätigen – Cockpit, Lokomotive, Krankenhaus – so in größere Einheiten einzubetten, dass die Mitglieder der Berufsgewerkschaft in der Minderheit bleiben. Gelenkte Demokratie nennt man das. So werden solche Gewerkschaften und die Tarifverträge prämiert, die dem Arbeitgeber genehm sind. Zufall?

Die Initiatoren des Gesetzes, die Arbeitgeberverbände, sind dennoch nicht zufrieden. Der Entwurf enthält nämlich kein Streikverbot. Dies war das eigentliche Ziel der Initiative. Die Ministerin spendet Trost. Sie erwarte gerichtliche Untersagungen, da der Streik für einen letztlich unwirksamen Tarifvertrag nicht verhältnismäßig sei. Auch wenn solche Hinweise womöglich die Eiferer in der CDU/CSU-Fraktion besänftigen und von einem ausdrücklichen Streikverbot abhalten sollen. Diese Erklärung ist ein Skandal: Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ausgerechnet eine sozialdemokratische Ministerin sich für ein Streikverbot ausspricht. Man kann nur hoffen, dass die Gerichte angesichts des zu erwartenden Beschlusses des »Tarifeinheitsgesetzes« souverän genug sind und an die frühere Rechtsprechung anknüpfen. Ob nämlich ein konkurrierender Tarifvertrag mangels betrieblicher Mehrheit unwirksam ist, kann erst beim Abschluss entschieden werden, nicht jedoch zum früheren Zeitpunkt eines Streiks. Richter sind keine Hellseher; niemand kann ausschließen, dass sich die Mehrheitsverhältnisse während des Streiks ändern.

Nein, der eigentliche Angriff auf das Streikrecht liegt auf einer anderen Ebene. In allen Fällen, in denen eine Gewerkschaft aus der Minderheitenposition antritt und ihre Tarifforderung droht, ins Leere zu laufen, werden die Mitglieder kaum bereit sein, das Opfer eines Ausstands auf sich zu nehmen. Wer streikt schon in der Voraussicht, um die Früchte seines Einsatzes gebracht zu werden? So zeigt sich auch beim Streikrecht das Ziel des Gesetzentwurfs: Spartengewerkschaften, namentlich die, die in letzter Zeit durch Widerständigkeit und demokratischen Ungehorsam aufgefallen sind, sollen um Funktion und Existenzberechtigung gebracht werden. Das aber ist nichts anderes als Verfassungsbruch.

Editorische Hinweise

Detlef Hensche war von 1992 bis 2001 Vorsitzender der Industriegewerkschaft Medien. Er ist Mitherausgeber der politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik.

"Kommentare zum Zeitgeschehen" geben nicht unbedingt die Meinung von Redaktion und Herausgeber wieder. Sie dienen der freien Meinungsäußerung und stehen in der Verantwortung des/der Verfasser/in.

Der Kommentar wurde in der Tageszeitung JUNGE WELT am 13. November 2014 erstveröffentlicht.


 

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