Dialektik und Metaphysik
Antonio Gramsci über Bucharins "Lehrbuch" (1)

Leseauszug aus "Philosophie der Praxis"

12-2014

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Die Dialektik.

Im Lehrbuch fehlt jegliche Untersuchung der Dialektik. Die Dialektik wird sehr oberflächlich vorausgesetzt, nicht dargestellt. Das ist absurd bei einem Handbuch, das die wesentlichen Elemente der Lehre ent­halten müßte; dessen bibliographische Bezüge zum Lernen anregen und dazu dienen sollen, den Gegenstand zu vertiefen, aber nicht das Hand­buch selbst ersetzen können. Die fehlende Behandlung der Dialektik kann zwei Ursachen haben. Zunächst, daß vorausgesetzt wird, die Philosophie der Praxis sei in zwei Elemente aufgeteilt: einer als Soziologie konzipierten Theorie der Geschichte und der Politik, die analog den Methoden der Na­turwissenschaften zu entwickeln sei (experimentell im grob positivistischen Sinne), sowie einer Philosophie im eigentlichen Sinne. Sie wäre dann der philosophische oder metaphysische oder mechanische (vulgäre) Materialis­mus.

Auch nach der großen Diskussion gegen den Mechanizismus scheint der Ver­fasser des Lehrbuchs die philosophische Fragestellung nicht geändert zu haben. Wie aus seinem Beitrag zum Londoner Kongreß über die Geschichte der Wissenschaft hervorgeht, hält er [der Autor des Lehrbuchs] weiter an der Zweiteilung der Philosophie der Praxis fest: Doktrin der Geschichte und der Politik und Philosophie, die er jedoch als Dialektischen Materialis­mus bezeichnet und nicht mehr als den alten philosophischen Materialismus. Bei einer solchen Fragestellung ist die Wichtigkeit und Bedeutung der Dia­lektik nicht mehr zu verstehen, die von Erkenntnislehre und Kernsubstanz der Historiographie und der Wissenschaft der Politik zu einer Unterabtei­lung der formalen Logik und zu einer elementaren Scholastik degradiert wird. Funktion und Bedeutung der Dialektik können erst in ihrer Wesent­lichkeit erfaßt werden, wenn die Philosophie der Praxis(2) als integrale und neuartige Philosophie aufgefaßt wird, die eine neue Phase in der Geschichte und in der Weltentwicklung des Denkens einleitet, weil sie sowohl den tra­ditionellen Idealismus wie den traditionellen Materialismus als Ausdrucks­formen der alten Gesellschaft aufhebt (und in der Aufhebung deren leben­dige Elemente bewahrt). Wenn die Philosophie der Praxis nur als einer anderen Philosophie untergeordnet gedacht wird, so kann man die neue Dialektik nicht begreifen, in der gerade diese Aufhebung erfolgt. Der zweite Grund scheint psychologischen Charakters zu sein. Man fühlt, daß die Dialektik eine schwierige Sache ist, weil das dialektische Denken dem vulgären Alltagsverstand entgegensteht. Dieser ist dogmatisch, auf un­umstößliche Gewißheiten versessen, und sein Ausdruck ist die formale Lo­gik. Zum besseren Verständnis mag man sich ausdenken, was geschähe, wenn in den Grund- und Oberschulen die Naturwissenschaften auf der Grundlage des Einsteinschen Relativismus gelehrt würden, zugleich aber mit den traditionellen »naturgesetzlichen« Begriffen des statistischen Gesetzes und der großen Zahl. Die Schüler würden überhaupt nichts verstehen, und der Zusammenstoß zwischen Schulunterricht und Familien- und Volksleben wäre derart heftig, daß die Schule zum Gespött und zum Objekt eines kari­kierenden Skeptizismus würde.

Dieses Motiv scheint mir für den Verfasser des Lehrbuchs eine psychologi­sche Schranke zu sein. Er kapituliert tatsächlich vor dem Alltagsverstand und dem vulgären Denken, weil er sich das Problem nicht in den exakten theoretischen Termini gestellt hat. Er ist daher praktisch ohnmächtig. Das unaufgeklärte Milieu hat den Erzieher beherrscht, der vulgäre Alltagsver­stand hat sich gegenüber der Wissenschaft durchgesetzt und nicht umge­kehrt; wenn das Milieu Erzieher ist, so muß es ebenso wieder erzogen wer­den, aber die Theorie versteht diese revolutionäre Dialektik nicht. Die Wur­zel sämtlicher Irrtümer der Theorie und ihres Autors (dessen Position auch nach der großen Diskussion unverändert ist, in deren Folge er sich offenbar von seinem Buch distanziert hat, wie aus seinem Londoner Beitrag hervor­geht) liegt eben in diesem Anspruch, die Philosophie der Praxis in eine »Soziologie« und eine systematische Philosophie aufzuteilen. Von der Theo­rie der Geschichte und der Politik abgetrennt, kann die Philosophie nur Metaphysik sein, während die große Errungenschaft der Geschichte des mo­dernen Denkens, von der Philosophie der Praxis repräsentiert, gerade die konkrete Historisierung der Philosophie und ihr Identischsetzen mit der Geschichte ist.

Über Metaphysik.

Ist dem Gemeinverständlichen Lehrbuch eine Kritik der Metaphysik und der spekulativen Philosophie zu entnehmen? Man muß darauf hinweisen, weil der Autor den Begriff der Metaphysik übersieht, indem die Begriffe »geschichtliche Bewegung«, »Werden« und selbst »Dia­lektik« seiner Aufmerksamkeit entgehen. Es ist ein reichlich schwieriges Un­terfangen, eine philosophische Aussage für eine bestimmte geschichtliche Periode als wahr zu denken, d. h. als einen notwendigen, einer bestimmten geschichtlichen Aktion, einer bestimmten Praxis untrennbar verbundenen Ausdruck, sie aber für eine darauffolgende Periode als überwunden und »sinnentleert« zu betrachten, ohne daß man in Skeptizismus und ideologi­schen und moralischen Relativismus verfällt, d. h. es ist schwierig, die Philosophie als Geschichtlichkeit zu begreifen. Der Verfasser verfällt jedoch gänzlich in Dogmatismus und so in eine, wenn auch naive, Form der Meta­physik. Das ist von Anfang an klar, denn seine Problemstellung ist von dem Willen bestimmt, eine systematische »Soziologie« der Philosophie der Praxis zu konstruieren: Soziologie bedeutet aber in diesem Fall eben naive Meta­physik. Im Schlußparagraphen der Einleitung weiß der Verfasser nicht die Einwände einiger Kritiker zu beantworten, die behaupten, die Philosophie der Praxis könne nur in konkreten geschichtlichen Werken leben. Es gelingt ihm nicht, den Begriff der Philosophie der Praxis als »historische Metho­dologie« herauszuarbeiten und diese als »Philosophie«, als einzige konkre­te Philosophie. Es gelingt ihm nicht, vom Standpunkt der realen Dialektik aus, sich das Problem zu stellen und zu lösen, das sich Croce gestellt und vom spekulativen Standpunkt aus zu lösen versucht hat. Anstelle einer hi­storischen Methodologie entwickelt er eine Kasuistik besonderer Fragen, die dogmatisch aufgefaßt und gelöst werden, wenn sie nicht völlig verbal zu ebenso naiven wie prätentiösen Fehlschlüssen führen. Bei ihrem Namen genannt und ohne andere Vorwände, könnte die Kasuistik auch interessant sein, um für die unmittelbare Praxis nützliche, approximative empirische Modelle zu liefern. Im übrigen begreift man, daß dem so ist, weil nach dem Gemeinverständlichen Lehrbuch die Philosophie der Praxis keine autonome und originale Philosophie ist, sondern die »Soziologie« des metaphysischen Materialismus. Es versteht unter Metaphysik nur eine bestimmte spekula­tiv idealistische philosophische Formulierung und nicht bereits jede syste­matische Aussage, die sich als außergeschichtliche Wahrheit poniert, als ab­strakt Allgemeines außerhalb von Zeit und Raum.

Die dem Gemeinverständlichen Lehrbuch implizite Philosophie kann als po-sitivistischer Aristotelismus bezeichnet werden, als eine Anpassung der for­malen Logik an die Methoden der Physik und Naturwissenschaften. Die ge­schichtliche Dialektik wird durch Kausalitätsgesetz, Erforschung der Regel­mäßigkeit, Normalität, Gleichförmigkeit ersetzt. Aber wie kann bei dieser Auffassung die Aufhebung, die »Umwälzung« der Praxis abgeleitet wer­den? Mechanisch begriffen kann die Wirkung nie die Ursache oder das Sy­stem von Ursachen aufheben, es kann folglich keine andere Entwicklung als die platt-vulgäre des Evolutionismus geben.

Wenn der »spekulative Idealismus« die Wissenschaft von den Kategorien und der Synthesis a priori des Geistes ist, d. h. eine Form antihistoristischer Abstraktion, so ist die im Gemeinverständlichen Lehrbuch implizite Philo­sophie ein umgekehrter Idealismus, in dem Sinne, daß empirische Begriffe und Klassifikationen die spekulativen Kategorien ersetzen, die genauso ab­strakt und antihistorisch wie jene sind.

Eine der sichtbarsten Spuren der alten Metaphysik im Gemeinverständlichen Lehrbuch ist das Bemühen, alles auf eine Ursache zurückzuführen, auf die causa ultima. Man kann die Geschichte des Monokausalitätsproblems re­konstruieren und zeigen, daß sie eine der Manifestationen der »Gottes­suche« ist. Gegen diesen Dogmatismus ist nochmals an die beiden Briefe von Engels im Socialistischen Akademiker zu erinnern.

Redaktionelle Anmerkungen:

1) Nikolai Bucharin: Theorie des Historischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie. Deutsche Ausg.: Hamburg 1921. Franz. Ausg.: Paris 1927.

2) Unter den Bedingungen seines Gefängnisaufenthalts bediente sich Gramsci einer Tarnsprache. Sabine Kebir bemerkt dazu folgendes:

"Gramscis Tarnsprache führt nicht nur zur Auswechselung von Termini, sondern sie basiert oft auch notgedrungen zur Transponierung von geschichtlich Konkretem auf einer Stufe der Abstraktheit, deren Rückübersetzung in den historischen Kontext für das Verständts un­erläßlich ist. Diese Abstraktheit vieler Texte von Gramsci verleitete oft zum tendenziösen Überlesen wesentlicher Gedanken. Nur so ist die Fülle gegensätzlicher Interpretationen überhaupt erklärbar. Eine der ursprünglichen Sinngebung entsprechende Lektüre wird also nur möglich bei kontextuellem, historisierendem Lesen. Dem ungeübten Leser mag bereits die Entschlüsselung der Tarntermini Schwierigkeiten bereiten, für die hier die wichtigsten Beispiele auf­geführt werden:

  • La filosofia della prassi = Marxismus, historischer Materialismus
    (Die Philosophie der Praxis)
  • II caposcuola della filosofia della prassi = Marx
    (Das Haupt der Schule der Philosophie der Praxis)
  • II fondatore della filosofia della prassi = Marx
    (Der Begründer der Philosophie der Praxis)
  • L'autore della economia critica = Marx
    (Der Autor der kritischen Ökonomie) = Marx
  • II primo e il secondo dei fondatori della filosofia della prassi = Marx und Engels
    (Der erste und der zweite Begründer der Philosophie der Praxis) "

    Sabine Kebir: Die Kulturkonzeption Antonio Gramscis; Berlin 1980, S. 25

Der Gramsci-Text wurde entnommen aus: Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, hrg. v. Christian Riechers, o.J. o.O, S.218ff.

Sekundärliteratur zu Gramsci bei TREND: