Amazonien
von Matze Schmidt

12-2013

trend
onlinezeitung

Es ist kein erstaunlich sonniges Wetter in Bad Hersfeld am heutigen  Mittwoch (18.12.13 - red. trend), sowohl meteorologisch als auch gewerkschaftlich. In Osthessen, wo Zuse seinen Firmensitz hatte (später wurde an Brown,  Boveri & Cie. verkauft, noch später an Siemens), hält in drei Minuten die örtliche so genannte Dienstleistungsgewerkschaft ihre Kundgebung  ab, am Brunnen unter der Statue des Abts und Erzbischofs Lullus. Die Arbeiterinnen dort und in Leipzig und in Graben, also an drei von acht  Standorten, fordern von Amazon einen Tarifvertrag, der den Lohn über das Niveau der Logistikbranche bringt, auf das des Einzelhandels. Denn Amazon zentralisiert nicht nur zig Einzelhändler, sondern stellt  selbst einen gigantischen Einzelhändler dar. Eine soziologische Theorie, die Firma sei eine Art Netz im Netz und vermittle nur bereits a priori vorhandene Einzelinteressen, sei ähnlich wie Facebook oder  Google lediglich Vernetzter mit nur lockeren eigenen Konturen, kann leicht widerlegt werden. Für Forscher des sozialen Verhaltens ist eine Firma nur eine Ansammlung von Tätigkeiten und Interessen. Die  Akkumulation von Kapital zeigt, dass der "Strom" des Reichtums aber dort landet, wo das Produktionsverhältnis zu Ungunsten derjenigen ausfällt, die es "erwirtschaften", wie es der Arbeiter aus  Bad Hersfeld dem Hessischen Rundfunk gegenüber ausdrückte.

"[...] das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen  Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis, das  sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen gesellschaftlichen Charakter gibt." ("Das Kapital", Bd. II, Die trinitarische Formel)

Auch wenn diese Firma als Händler zur Zirkulation gehört, lässt sie  mit E-Book-Readern doch Produktserien anfertigen, inklusive Überwachung des Konsumverhaltens, und ist somit Hersteller, in Konkurrenz zu beispielsweise Apple, und sein eigener Händler.

Arbeitkäufer und -verkäufer, neue Tarifeinheit/en, Kuchen

Dass sich das Kapital als Geld beim studierten Elektrotechniker und  Informatiker Jeff Bezos in Form eines riesigen Vermögens anhäufte und er etwas abgeben solle, wie der der Arbeiter noch meinte, ergäbe dann den altbekannten Kuchen, um den es momentan nur geht, gehen kann. Ein  ganzes Verhältnis zur Produktion und ihre Infragestellung ist nicht Thema. In Leipzig, wo vor genau 150 Jahren der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) als Arbeiterpartei gegründet wurde, ist es der  bereits 11. Streiktag. Es dreht sich um Bezahlung, Arbeitszeit- und Pausenregelung und Weihnachts- und Urlaubsgeld, die üblichen Topics des Tarifvertrags -- sowie die Arbeitsbedingungen und die  Lohndrückerei. Es ist nicht das disruptive Geschäft, das als Neuheit ein bestehendes Geschäft verdrängt und ein Wert-Netzwerk schafft, wie es Unternehmersprech gerne möchte. Es ist eine Form des  Versandgeschäfts via Internet, ein beschleunigtes und ausgelagertes, ein erweitertes (?), mit neuen entstandenen Orten, den  Distributionszentren, und fallengelassenen Läden im tradierten  Sortimenthandel. Hier kann im Saisongeschäft die Niedriglohnarbeit blühen. Zu schnell jedoch werden Phrasen vom Respekt vor der Leistung und "die behandeln uns wie billige Roboter" aufgebracht.

Dabei sieht die im ('verniedlichenden' Bildzeitungsvolksmund)  Nazijargon als "GroKo" bezeichnete Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Christlichen in der BRD einen Angriff auf das
Streikrecht vor. "Ihnen [den Gewerkschaften] soll die Möglichkeit  genommen werden, Beschäftigte zu Arbeitsniederlegungen aufzurufen, wenn sie innerhalb der Belegschaft in einer Minderheitenposition
sind. Es soll nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den  meisten Mitgliedern im Betrieb gelten." (Daniel Behruzi, junge Welt 19.11.2013) So spaltet man Einheiten in eine in Blöcke geschnittene
"Tarifeinheit", indem zahlenmäßig größere und damit bedenklich  opportunere bevorzugt werden und unterbindet kritische Aktivität.  Die Einheit des Tarifs wird vom DGB unterstützt. Wird ein  entsprechender Passus ins Betriebsverfassungsgesetz aufgenommen, bedeutet dies das faktische Streikverbot für kleinere Gewerkschaften, die ohnehin Schwierigkeiten habe, von Arbeitgebern -- denen die Arbeit  kaufen, also nehmen -- als "Tarifpartei" anerkannt zu werden. Denn Streik ist einer der Tarifparteien vorbehalten, der Arbeitenden, die ihre Arbeit geben, also verkaufen.

Das wäre dann die Festschreibung dessen, was das Spezialitätsprinzip für die Rechtssprechung im Tarifstreit besagt. Nämlich, dass Gewerkschaften sich in ihrer Tarifforderung speziell den betrieblichen  Anforderungen anzupassen haben, sie also regional und fachspezifisch gebunden sind und somit in Fragen der Reproduktionskosten ihrer Mitglieder, genannt Lohn, immer der "Servomechanismus" (McLuhan nach
Marx) des Betriebs sind. Der Tarifzwang wäre dann die neue Tarifeinheit, die das Prinzip,  "dass in einem Betrieb, in dem ein Tarifvertrag existiert, kein weiterer Tarifvertrag abgeschlossen werden kann" vom bisher Fachlich-Betrieblichen ins Quantitative[1] rückt und damit den  Arbeitkäufern das Verfahren abkürzt und ihnen eine "Tarifpartei" schafft, die am Tisch gegenüber sitzt, als geschehe das auf Augenhöhe gleicher Parteien und nicht im Widerspruch von Arbeit versus Kapital.  Bestimmte 'Arbeitnehmer'interessen würden so verdrängt, von wildcat strikes abgesehen aber auch im Hinblick auf die psychisch-ideologische Zurichtung durch das neue Mehrheitsprinzip.

Marketing-Drohnen bombardieren den Streik

Wo Google z.B. Boston Dynamics und damit Robotertechnik kauft und den  Verkehr für sich und kleine Fluggeräte geregelt wissen will, wirft Amazon Drohnen in die Luft, wo keine Zusteller mehr sein sollen. Die 3 bis 5 Tonnen am Tag, die eine Arbeiterin etwa bei DHL trägt, beim  weltweit umsatzstärksten Logistikunternehmen mit dem Logo auf den Trikots von Manchester United, sind die Masse, die dem Medienzuschauer bedeutet, hier kann entlastet werden. Und warum sollte Zustellung  nicht (halb)automatisiert werden? Die industrielle Reservearmee, aus der sich Amazon vor Weihnachten, dem Fest der Nächstenliebe rekrutiert kann durch einen anderen Überschusszusetzer bzw. Mehrwerterzeuger ersetzt werden. Das war die Ansage, ob Drohnen kommen oder nicht. Ob  Pepsi-Cola, Pharmageschäft, oder Fernsehen, oder Kindles. Stimmung kann gemacht werden. Pakete kommen nicht mehr bis Weihnachten an, wird (auf Sat.1) gedroh(n)t. Warum denn streiken, bei dem guten Lohn  von -- angeblich -- 10,70/Stunde?, wird arschgekrochen (im Hessischen Rundfunk). Die TV-Partei glaubt den Spaltprozessen. Die 'Betroffenen' selbst sagen, dass sie unmenschlich behandelt werden -- übersetzt: nicht wie menschliche Wesen.

Wir sind die Arbeiter

Kraftwerk hatte nur nach Popmäßigkeit recht, denn nicht sie waren die  arbeitenden Roboter, es war nur ihre Attitüde, der Entlastung von der Arbeit, die sie ihre eigene genannt hätten, hätten sie sich geäußert,
denn sie war plattenindustriell aber »künstlerisch robinsonadisch unentfremdet«. "Ja tvoi rabotnik" = russ.  "Ich bin dein Arbeiter" in einheitlich roten Hemden mit schwarzen Krawatten, der Kleidung  des Parteigängers, ist überdies die modegeschichtlich bewusste Falschaussage des Funktionärs in Uniform, dem Arbeiter der keiner mehr ist und nun zwischen Kapital und Arbeit mittelt, dem uniformierten Klassenzugehörigen. Der Bundesvorsitzende von Verdi -- einer der zahlenmäßig stärksten Tarifparteien, die in ihrem Namen Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft schon die angebliche Einheit trägt -- Frank Bsirske sprach am 18. Juni zu den 800 Arbeitern aus Bad Hersfeld und Leipzig, dass mit ihnen umgegangen werde, wie mit Arbeitern zweiter Klasse, würde nun der Geschichte angehören. Die historisch im Techno-Pop vorgezogene Entlastung von der Arbeit qua Roboter verschiebt sich in die Story, wenn der Vorsitzende das Jackett auszieht. Wo die Lohnforderung nötig und zu unterstützen  ist, bestimmt die Spartengewerkschaft die Mehrheiten mit, folglich auch ihr Management des Preises der Arbeit im Onlinehandel.

Der organistische Intellektuelle im TV

Der "freie Autor", der auf dem Onlinevideoportal dieser Instanz fürs Arbeitspreismanagement seine Solidarität mit den Streikenden bekundet, den freien Arbeitern, der Professor für Politikwissenschaften oder Sonstiges, der vielleicht mal ein Stipendium der Kirche oder der Kulturstiftung bekam, der eventuell Mitglied der neuen Sozialdemokratie ist, der mehrere Sprachen spricht, der viel viel  schreibt, dessen Bücher als Ware vielleicht über die Laufbänder in der Amazonstraße gehen, der Intellektuelle ist der organistische Intellektuelle, der auf Klaviaturen spielt, kann nicht der organische sein, der wirklich spricht, da er aus Kenntnis und Position spricht. Er spricht über. Wenn die Firma vor mehr als zwei Jahren den Entschluss bekannt gibt, "das Logistikzentrum Schloss Eichhof in  Bad Hersfeld für weitere zehn Jahre zu betreiben", dann wären es nunmehr noch gut siebeneinhalb Jahre, und die Drohung des Gegenprofessors der Finance, Management & Banking würde wahr. Solidarität also mit dem Akademiker, der seine unbefristete Stelle aufgab, der über Ausnahmezustände oder Beute-Nofreten diskursierte. Aus den Armeen der Arbeitsreserve fluten sich hier und da, über vierzigjährig, Fachbereiche der Universitäten. Workflow ist kein natürlicher Fluss.[2]

Anmerkungen

[1] Schon bisher konnte durch das Bundesarbeitsgericht das  Spezialitätsprinzip vom Mehrheitsprinzip abgelöst werden, wenn kein fachlicher Vorrang eines Tarifvertrages festgestellt werden  konnte, denn dann fand derjenige Tarifvertrag Anwendung, der die meisten Arbeitsverhältnisse im Betrieb erfasst. Vermassung ist so oder so Prinzip, Fachspezifität schier oktroyierte  "Mitbestimmung".

[2] Das Material dieses Artikels kann ohne Weiteres recherchiert werden, ohne den Arbeitsplatz zu verlassen, externe Gedächtnisse am Netz bieten Journal, Gewerkschaftsbüros koennen angerufen  werden.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.