Es wird am 14. und 15. Januar 2014
stattfinden; erste Plakate der Regierung verkünden,
ein „Ja“-Votum bei der Volksabstimmung stehe angeblich
für eine Fortsetzung der Revolution von 2011. Schon
seit November läuft eine massive Meinungskampagne für
das „Ja“ zum Referendum, auch wenn die Regierung
offiziell behauptet, überhaupt nichts damit zu tun zu
haben – die Plakate würden durch eine
„unabhängige Gruppe aus Geschäftsleuten, die aus
patriotischem Pflichtgefühl“ heraus handeln,
finanziert und aufgehängt. Ein Plakat, das u.a. in
riesiger Ausführung an einem Gebäude hoch über dem
Tahrir-Platz prangte, sorgte unterdessen für etwas
Aufregung, viel Belustigung und einen kleinen Skandal.
Es zeigt fünf Personen, die angeblich die These
illustrieren, es handele sich um „eine Verfassung für
alle Ägypter“: ein Soldat, ein Geschäftsmann, eine
junge Frau... Nur sind drei der fünf abgebildeten
Personen überhaupt keine Ägypter/innen, sondern zwei
US-Amerikaner und eine Irländerin, deren Portraits
einfach von irgendwelchen Webseiten aus dem Internet
herunter geklaut worden. Und ein viertes Personenbild
auf dem Plakat, das dieses Mal zur Abwechslung
wirklich einen Ägypter zeigt, wurde aus dem Netz
geklaut und ohne Genehmigung verwendet...
Dennoch ist wohl mit
einer breiten Mehrheit für das „Ja“ zu rechnen. Denn eine
Mehrheit der Bevölkerung zeigt sich heute konfliktmüde und
vertritt die Auffassung, ja, der Text weise seine Mängel auf –
aber Hauptsache, der politische Streit darum gehe vorüber. Und
Hauptsache, und Ägypten habe wieder eine Verfassung, nachdem
jene, die durch die Muslimbrüder geschrieben worden war,
„suspendiert“ bleibt.
Den
Entwurf für den (wahrscheinlichen) zukünftigen Verfassungstext
hatte eine fünfzigköpfige Kommission ausgearbeitet, die nach dem
Machtwechsel im Juli 2013 eingesetzt worden war, um die im
Dezember 2012 durch die Muslimbrüder-Regierung unter Präsident
Mohammed Mursi durchgesetzte Verfassung zu ersetzen. Auch
Letztere war durch eine Volksabstimmung, deren Ergebnisse jedoch
umstritten waren, am 15. und 22. Dezember 12 abgesegnet worden.
Laut offiziellen Zahlen damals mit 63,8 % Ja-Stimmen, aber bei
eine Teilnahme von nur 32,9 % der Wahlberechtigten.
Repressive Regeln
Die
Bestimmungen des neue Verfassungstextes ermöglichen es
offiziell, auch künftig wieder Zivilpersonen unter bestimmten
Umständen von Militärgerichten aburteilen zu lassen. Diese
Praxis hatte unter dem SCAF (Hohen Rat der Streitkräfte), der
nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 und
bis zur Präsidentschaftswahl vom Juni 2012 amtierenden
Militärregierung, ausufernde Dimensionen angenommen. Damals
waren insgesamt rund 13.000 Zivilisten und Zivilistinnen von
Militärtribunalen abgeurteilt worden – wegen ungenehmigter
Demonstrationen, unliebsamer Artikel im Internet und ähnlicher
Delikte.
Die Regierungszeit des
SCAF, der seine Macht offiziell Anfang Juli 2012 an Zivilisten –
mit Mursi an der Spitze – übergab, wurde in Ägypten in breiten
Kreisen in negativer Erinnerung behalten. Unter seiner
Herrschaft war es unter anderem zu Massakern an unbewaffneten
Demonstranten gekommen, wie in den Tagen ab dem 18. November
2011 auf der Straße, die vom Tahrir-Platz zum Innenministerium
führt, oder im Monat zuvor an protestierenden Kopten im Kairoer
Viertel Maspero. Zum zweiten Jahrestag der Todesschüsse kam es
Mitte November 2013 erstmals wieder zu stärkeren Zusammenstößen
zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Allerdings kam es
dieses Mal sowohl zu Demonstrationen „für“ als auch „gegen“ die
Armee. Denn nach einem Jahr Muslimbrüder-Regierung hat es
nunmehr seit Sommer 2013 die Armeeführung vermocht, erstmals
wieder Sympathiebekundungen aus der Gesellschaft heraus zu
erwecken, Ägypterinnen und Ägypter für ihre Sache zu
mobilisieren.
Der
neue Verfassungstext erlaubt es in seinem Artikel 204,
Zivilpersonen dann vor Militärgerichte zu stellen, wenn ihnen
„direkte Angriffe auf die Armee, ihre Einrichtungen oder ihr
Personal“ zur Last gelegt werden. Dehnbare Begriffe, denn da die
ägyptische Armee rund ein Drittel der Wirtschaft des Landes
kontrolliert (genaue Zahlenangaben dazu werden nicht
veröffentlicht, die Schätzung umfasst sowohl Unternehmen unter
unmittelbarer Kontrolle des Armeeapparats als auch solche im
Besitz von Generälen und Offizieren), könnte man prinzipiell
auch diverse Arbeitskämpfe und andere Konflikte darunter fassen.
Seit
dem 24. November 2013 ist ferner bereits ein extrem restriktives
neues Versammlungsgesetz in Kraft getreten, das öffentlichen
Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen mit mehr als
zehn Personen strikten Beschränkungen unterwirft. Diese müssen
etwa 72 Stunden zuvor bei der Polizei angemeldet werden und
dürfen dann nur an Orten, für welche die Demonstration oder
Kundgebung genehmigt wird, stattfinden. Beim Festlegen der
Örtlichkeiten legten die Behörden in den letzten Wochen eine
entsprechende „Kreativität“ an den Tag: ein weitab vom Schuss
gelegener, menschenleerer Park als Kundgebungort tut es doch
auch, wunderbar...
Wegen
„Verstößen“
gegen die neuen Regelungen wurden seit Ende November u.a. die
bekannten Demokratie-Aktivisten ‘Alaa ‘Abdel Fatah, Ahmed Maher
und Ahmed Douma durch die Polizei festgenommen (bzw. Ahmed Maher
stellte sich selbst den Behörden), und befinden sich zur Stunde
noch immer in Haft.
In
Haft befindet sich bei Redaktionsschluss dieses Artikels am 19.
Dezember 13 auch der bekannte Aktivist Mohammed ’Adel (von der
2008 gegründeten Protestplattform „Bewegung des 6. April“). Er
war in der Nacht vom 18. zum 19. Dezember bei einer
mitternächtlichen Polizeirazzia und Durchsuchung des „Zentrums
für wirtschaftliche und soziale Rechte“ des prominenten Anwalts
Khalid ’Ali verhaftet worden. Dabei waren noch weitere Personen
vorübergehend festgenommen worden, die jedoch wieder
freigelassen wurden, während Computer und andere Gegenstände
beschlagnahmt bleiben. Dem Aktivisten Mohammed ’Adel werden
jedoch Verstöße
gegen das neue Versammlungsrecht vorgeworfen.
Daneben gibt es inzwischen auch ein neues Anti-Graffity-Gesetz.
- Der Wille der repressiven Staatsorgane, in jeglicher Form die
„Kontrolle über die Straße“
zurückzugewinnen, ist manifest. Dies hätten zu ihrer
Regierungszeit sicherlich auch die Muslimbrüder gerne getan, nur
war es ihnen mitnichten gelungen... Heute ist der Wille zur
Restauration auf jeglichem Gebiet überdeutlich. Ein seit zwei
Jahren durch Arbeiter selbstverwaltetes Unternehmen, dessen
Direktoren mit dem Ende der Mubarak-Ära fortgejagt worden waren,
wurde soeben durch die Regierung einem saudi-arabischen
Geschäftsmann. (Ihm wurde auch gleich das „Recht“ erteilt, alle
seit zwei Jahre getätigten Gewinne abzuschöpfen.) Am 19.
Dezember 13 sprach der ägyptische Justizapparat zwei der Söhne
von Ex-Präsident Hosni Mubarak, ’Alaa und Gamal Mubarak, von
Korruptionsvorwürfen frei. Ebenso wie seinen früheren
Premierminister Ahmed Schafiq (Präsidentschaftskandidat der
„alten Kräfte“ im Juni 2012). Im selben Atemzug hob die Justiz
die Auflösungsverfügung gegen die im März 2011 verbotene
Ex-Staatspartei unter Mubarak, die
National democratic party
NDP, als „verfassungswidrig“ auf.
Armee unkontrolliert & Schari’a dosiert
Ferner erlaubt es der neue Verfassungsentwurf, auch weiterhin
das Budget der Streitkräfte jeglicher Kontrolle durch zivile
Politiker oder Institutionen zu entziehen – wie es bereits
bisherige Praxis war. Und der Text postuliert einerseits, dass
das islamische Recht „Hauptquelle der Gesetzgebung“ sei. Er
enthält dazu den Begriff der Schari’a, die die „wichtigste
Inspirationsquelle“ des Gesetzgebers zu bilden habe – dieser
Begriff ist freilich interpretierbar, denn viele Auffassungen
benennen ausschließlich zivilrechtliche Regelungen
(Personenstands- und Familiengesetzgebung) mit diesem Wort,
während andere Konzeptionen auch strafrechtliche Regelungen, wie
sie in Saudi-Arabien und im Iran einschließlich
Züchtigungsregeln praktiziert werden, darunter fallen lassen.
Auf zivil- und familienrechtlicher Ebene ist die Bezugnahme auf
das islamische Recht allerdings bereits bislang in Ägypten
herrschende Praxis, und die Verfassung von 1971 enthielt bereits
einen ähnlichen Passus zur Schari’a als Interpretationsquelle
der Gesetze wie die jetzt vorgelegte.
Auf
der anderen Seite verbietet der Verfassungstext „auf religiöser
Grundlage gebildete“ Parteien. Es wird präzisiert, politische
Parteien könnten „zwar eine religiöse Identität“ aufweisen,
müssten „aber die zivile und verwaltungsrechtliche Gesetzgebung
respektieren“ (... welche sich ihrerseits auf das islamische
Recht beziehen, siehe oben). Diese Formulierung ähnelt jener in
der 1996 verabschiedeten algerischen Verfassung, die damals
einerseits den Islam als „Staatsreligion“ festschrieb,
andererseits aber als „religiös“ definierte Parteien verbot.
Dies verhindert in Algerien nicht die Existenz islamistischer
Parteien, doch die 1992 aufgelöste „Islamische Rettungsfront“
(FIS) bleibt verboten, welche den damaligen Machthabern als
staatsgefährdend erschienen war.
Allem Anschein nach handelt es sich also bei solchen
Formulierungen darum, missliebige oder zu große Machtansprüche
stellende islamistische Parteien von anderen, „domestizierbaren“
zu unterscheiden.
Ein Rückblick
Im Frühsommer 2013 hatte
sich die Armeespitze in Ägypten dafür entscheiden, die
aufkeimende Massenprotestbewegung gegen die Mursi-Regierung, die
sich aus unterschiedlichen Quellen (von enttäuschten Anhängern
über säkular-nationalistische Kreise bis zur revolutionären
Jugend von 2011) speiste, zu ermutigen und aktiv zu begleiten.
Ja sie sogar zu alimentieren und zu befeuern: In Großstädten wie
Alexandria kam es etwa vor den „heißen Tagen“ zwischen dem 30.
Juni 2013, dem Datum der ersten Massendemonstrationen von
Millionen Menschen zum ersten Jahrestag der Wahl Mursis, und dem
03. Juli (an dem Militärs Mursis Hauptquartier mit Stacheldraht
umgaben und ihn gefangen setzten) zu Versorgungsengpässen bei
Grundbedarfsgütern. Ab Anfang/Mitte Juli 2013 waren die
entsprechenden Waren, wie durch ein Wunder, wieder leicht zu
erwerben. Nichtsdestotrotz hatte sich in den ersten Tagen der
Ereignisse, die zu Mohammed Mursis Sturz führten, eine echte
Massenbewegung manifestiert. Angeblich nahmen dabei 17 Millionen
Menschen an Demonstrationen gegen die damaligen Regierenden
teil; doch Zahlen in dieser Größenordnung – in diesem Falle
wurden sie durch die Armee verbreitet, aber auch durch
Oppositionsbewegungen, die an den Protestzügen teilnahmen –
lassen sich ohnehin nicht überprüfen.
Insofern kann in mancher
Hinsicht die Entmachtung der Muslimbrüder in Ägypten mit jener
des türkischen islamistischen Premierministers Necmettin Erbakan
am 30. Juni 1997 respektive dem Prozess, der dahin führte,
verglichen werden: Auch damals fanden Massenproteste und
Demonstrationen gegen die reaktionäre Regierung des Politikers
der Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) statt, die durch die Armee,
nun ja, wohlwollend begleitet (und manchmal vielleicht auch
initiiert) wurden. Die Situation in Ägypten, die zur Entmachtung
und späteren Gefangensetzung Mohammed Mursis führte, gleich
jedenfalls eher diesem Prozess, der sich im Frühjahr 1997 in der
Türkei abspielte, als dem Armeeputsch in Algerien im Januar 1992
gegen den drohenden Wahlsieg der „Islamischen Rettungsfront“
FIS.
Damals existierten zwar auch politische Kräfte in Algerien, die
das Eingreifen der Militärs flankierten und unterstützten
(französischsprachige Liberale und Ex-Kommunisten), diese waren
jedoch sehr minoritär, und es konnte nicht von einer
Massenbewegung „pro Putsch“ die Rede sein. Eine solche gab es in
Ägypten jedoch wirklich. Sicherlich muss man einen der
Hauptunterschiede zwischen den Situationen in den beiden
nordafrikanischen Ländern auch darin suchen, dass die
Muslimbrüder in Ägypten ein Jahr Zeit hatten, um zu regieren und
sich also „in der politischen Realität zu blamieren“, ihre
Anhänger zu desillusionieren. Auf vergleichbarem Niveau hatte
dies in Algerien noch nicht stattgefunden - trotz ersten
Desillusionierungen in den islamistisch regierten Kommunen,
deren Rathäuser seit den Kommunalwahlen vom 12.06.1990 durch die
„Islamische Rettungsfront“ übernommen worden waren.
Bei den ersten freien,
wirklich pluralistischen und nicht (in wesentlichem Ausmaß)
manipulierten Wahlen in Ägypten – seit der ersten Machtübernahme
durch die Armee 1952 –, welche ab dem 28. November 2011 in
mehreren komplizierten Verfahrensschritten stattfanden, hatten
Muslimbrüder und Salafisten gemeinsam 67 Prozent der
Parlamentssitze errungen. Diese beiden islamistischen Kräfte
waren zwar bereits verfeindet (ein Teil der Salafisten
unterstützte im Sommer 2013 übrigens die Entmachtung Mohammed
Mursis), zogen aber in Grundfragen scheinbar an einem Strang.
Ihre Stimmenzahl, in absoluten Wähler/innen/zahlen, hatte sich
bis zur Präsidentschaftswahl im Juni 2012 – deren Stichwahl
Mursi mit etwas unter 52 % der abgegebenen Stimmen knapp gewann
– halbiert. Und bis zum Referendum über den durch Mohammed Mursi
vorgelegten Verfassungstext im Dezember 2012, den die
Muslimbrüder (bei erheblich gesunkener Wahlbeteiligung) formal
ebenfalls gewannen, bei dem sie jedoch politisch erheblich
angeschlagen wurden, hatte die absolute Stimmenzahl auf ihrer
Seite sich abermals ungefähr halbiert. Es hat also ganz real ein
Ablösungsprozess von ihrer Politik „auf Massenebene“
stattgefunden. Der blanke Hass, der heute mancherorts in der
ägyptischen Gesellschaft gegen sie sichtbar wird, wurzelt zwar
zum Teil in alten Vorbehalten – auch seitens alter Eliten, die
in den Islamisten schon immer „unzuverlässige Emporkömmlinge“
erblickten –, aber eben zum Teil auch in der massiven
Enttäuschung, die nun in wuterfüllte Abneigung umschlug.
Gegenüber den Muslimbrüdern – die nach der mit brutaler Gewalt
erfolgten Niederschlagung ihrer Protestcamps in Kairo ab dem 14.
August 2013 folgenden anderthalb Wochen kosteten 1.000
Todesopfer, mehr als die rund 800 während der Revolutionswochen
von Anfang 2011 – setzt die neue, angeblich provisorische,
Regierung auf nackte Repression. Am
23. September 13 wurde der Muslimbruderschaft formell jedwede
weitere Betätigung verboten. Auch ihre Partei, die Freedom
and justice party (FJP) als de facto verlängerter
politischer Arm der Muslimbruderschaft, wurde am 24. September
aufgelöst. - Eine notwendige Anmerkung dazu: Auch die
Muslimbrüder setzten während ihrer gut einjährigen Machtausübung
selbst Repression gegen politische Gegner ein. Dies wurde im
Dezember 2012 manifest, als den Muslimbrüdern nahestehende
Milizen während der Proteste gegen die von ihnen forcierte neue
Verfassung wüteten, Demonstrierende festnahmen und auch in
eigens eingerichteten Kellern folterten.
Reaktionäre
Golfstaaten pro Putsch
Auf internationaler bzw.
regionaler Ebene unterstützten unter anderem Saudi-Arabien und
andere Golfmonarchien wie Kuwait und die Vereinigten Arabischen
Emirate massiv die ägyptischen Militärs und ihren faktischen
Putsch gegen die Muslimbrüder-Regierung. Dies mag auf den ersten
Blick überraschend klingen, da besonders in Saudi-Arabien eine
sich auf den Islam berufende Staatsideologie in Gestalt des
Wahhabismus herrscht. Jedoch darf nicht verkannt werden, dass
die Muslimbrüder - die sich als überzeugte Anhänger eine
republikanischen Staatsform geben und eine Monarchie wie in den
Golfstaaten ablehnen - trotz der ausgeprägt reaktionären
Elemente ihrer eigenen Ideologie von den Hütern des Wahhabismus
sehr misstrauisch beargwöhnt wüeden. Ferner betrachteten de
Anhänger des Wahhabismus, der die vielleicht extremste und
rückständigste Variante des politischen Islam darstellt – in
Saudi-Arabien regieren sie in einer Art Doppelherrschaft mit dem
Königshaus, den Wahhabiten ist u.a. die Religionspolizei
anvertraut – als Rivalen für die Vormachtstellung im
islamistischen Spektrum.
Dieses weist eine ganze
Palette von unterschiedlich ausgerichteten politischen Kräften
auf, aber es bestehen mehrere Machtzentren oder –pole, die sich
um eine hegemoniale Position streiten. Die Muslimbrüder mit
ihrer internationalen Verästelung (zu ihr zählt u.a. auch die
tunesische Regierungspartei En-Nahdha) bilden eines dieser
Zentren, Saudi-Arabien mit seinem beträchtlichen Einfluss u.a.
auf viele salafistische Strömungen ein anderes. Dies erklärt
(neben ihrem eigenen politischen Opportunismus, traditionellen
Kontakten zur ägyptischen Armee, sowie feindlichen Tendenzen
unter ihrer eigenen Anhängern gegen die Mursi-Regierung) die
eher putsch-freundliche Positionen vieler ägyptischer
Salafisten.
Lediglich Qatar vertrat unter den Golfmonarchien eine
abweichende Position, denn das monarchische Herrscherhaus in
Doha unterhielt seinerseits freundliche Kontakte zu den
Muslimbrüdern, neben anderen islamistischen Strömungen. Doch
auch der qatarische Einfluss bleibt weiterhin in Ägypten
präsent; die dortige Monarchie zeigt sich in ihrer Machtpolitik
„pragmatisch“ und setzt nicht nur auf einen einzigen
Bündnispartner.
Im August 2013 gewährte
Saudi-Arabien allein fünf Milliarden Dollar, und zusammen mit
Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten zwölf Milliarden
Dollar, neuer Finanzhilfe „spontan“ an Ägypten. Dadurch sollte
den neuen Machthabern, nach dem Sturz der Mursi-Regierung,
gegenüber eventuellen sozial und wirtschaftlich motivierten
Unmutsbekundungen der Rücken gestärkt werden. Angesichts einer
zumindest verbal vorgetragenen Kritik aus den USA – denn die
US-Administration fürchtete eine wachsende Instabilität in
Ägypten durch den erzwungenen Abgang der Mursi-Regierung – boten
sich Saudi-Arabien und seine Nachbarn zudem an, einen
eventuellen Ausfall der US-Militärhilfe (1,5 Milliarden Dollar
pro Jahr) umgehend zu kompensieren. Eine Einstellung oder
Verminderung dieser US-Militärhilfe war vorübergehend verbal
angedroht worden, fand dann jedoch nicht statt.
Nach wie vor
protestierten die Muslimbrüder auch im Herbst 2013 immer wieder
gegen die aktuelle Repression mit Straßendemonstrationen. Die
Beteiligung an ihnen nimmt jedoch ab, und viele Ägypter zeigen
sich von den durch die Proteste verursachten Staus (ebenso wie
vom anfänglichen vereinzelten Waffeneinsatz ihrer Anhänger) nur
noch manifest genervt. Im islamistischen Lager hat sich unter
den weiter vom „harten Kern“ entfernten Sympathisanten ein
Anflug von Resignation auszubreiten begonnen, während manche
Ränder dieses harten Kerns in die bewaffnete Untergrundaktion
abdriften könnten – wofür der Bombenalarm in der Kairoer Metro
vom 19. September 2013, der zum Quasi-Totalausfall des
öffentlichen Verkehrs führte, eventuell ein Symptom darstellte.
Andere bewaffnete Islamisten haben die Halbinsel Sinai seit
längerem in ein Anlaufzentrum für Jihadisten unterschiedlicher
Schattierungen verwandelt.
Hässliche Töne auf
mehreren Seiten
Die
Rhetorik, der sich mindestens Teile der Islamisten bei ihrer
Mobilisierung gegen die neuen Machthaber bemühen – die unter
anderem das Gerücht streuten, der starke Mann der neuen
Regierung (General ’Abdelfatah Al-Sissi) sei jüdischer Herkunft,
dasselbe wurde auch über Übergangspräsident ’Adly Mansour
kolportiert –, ist, gelinde ausgedrückt, unschön und soll ans
konfessionell grundierte Ressentiment appellieren. Ebenso
hässlich waren die Angriffe, die vor allem im Laufe des Juli
2013 auf diverse koptische Kirchen besonders in Mittelägypten
stattfanden: Einige enttäuschte Anhänger der Muslimbrüder
„rächten“ sich offenkundig an den koptischen Christen. Ebenso
hässlich, und darüber hinaus brutal, war jedoch die Jagd auf
vermeintliche Muslimbrüder und ihre Sympathisanten nach dem 03.
Juli 2013 in manchen Orten, vor allem in manchen Stadtteilen von
Kairo. Diese lief unter dem meist wenig differenzierten Vorwurf,
bei den neu zur Hatz freigegebenen Muslimbrüder-Sympathisanten
handele es sich eben um „Terroristen“, wie das neue (oder
neu-alte) Lieblingswort im innenpolitischen Diskurs lautet.
Ägyptische TV-Kanäle, private und staatliche Medien schüren
offen eine wahre „Terror“hysterie gegen alles Abweichlerische.
Auch wenn derzeit die Islamisten offiziell im Visier stehen,
kann die solcherart gestaltete Hetze jedoch grundsätzlich auch
gegen andere Kräfte gerichtet werden.
Vielerorts war es ab dem Hochsommer 2013 nicht länger ratsam,
einen Bart oder auch nur einen Schnurrbart als vermeintliches
Erkennungszeichen zu tragen, das nunmehr Prügel einzutragen
drohte. Um die Repression durch die Armee zu unterstützen und zu
flankieren, gründeten sich mancherorts zivile
„Selbstverteidigungskomitees“, die mitunter ihren Stadtteil
unsicher machten – und oft so viel Feuereifer an den Tag legten,
dass es sogar der (neuen) Regierung zu weit ging, die diese
Organe Mitte August d. J. auflösten. Und nicht nur, weil die
Eigeninitiative von Zivilisten respektive „aus den Massen
heraus“ ihr verdächtig erschienen wäre (dies wohl ganz
grundsätzlich auch, aber in dem Falle eher nebenbei), sondern
eher aufgrund der Gefahr von Übergriffen und Exzessen ...
Zuckerbrot neben
Peitsche
Gegenüber sonstigen
Protesten, die aus anderen Ecken kommen, zeigt die von den
Militärs dominierte Regierung sich hingegen bislang eher noch um
Einbindung bemüht. Auch wenn bisweilen die Folterwerkzeuge
ausgepackt und vorgezeigt werden, um zu zeigen, was passiert,
wenn es „nötig“ wird: Am 26. August 2013 fuhren so die Panzer
auf, um einen Streik von 20.000 Lohnabhängigen in der
Textilindustrie in Mahalla (im Nildelta) niederzuschlagen.
In
der dritten Septemberwoche 2013 verkündete die ägyptische
Regierung unterdessen, der Mindestlohn für Staatsbedienstete sei
von umgerechnet 80 auf 150 Euro angehoben worden, und eine
ähnliche Maßnahme für die Lohnabhängigen im Privatsektor befinde
sich „im Überlegungsstadium“. Der amtierende Arbeitsminister,
Kamel Abu Aita, kommt aus den seit 2007 existierenden und seit
2011 verstärkt präsenten unabhängigen Gewerkschaften. Der
Hauptaspekt dabei ist natürlich die Einbindung dieses
Widerspruchspotenzials; Mitte August des Jahres erreichte Abu
Aita immerhin die Freilassung zuvor inhaftierter Streikführer
bei Suez Steel.
Vorerst dominierte also das Element der Integration und
Einbindung potenzieller Widerstände. Dass die harte Repression
sich aber bei Bedarf auch gegen andere Kräfte als die Islamisten
richten kann, belegt die vorübergehende Festnahme eines der
führenden Mitglieder der Revolutionary Socialists – eine
der beiden Hauptströmungen der ägyptischen radikalen Linken –,
Haitham Mohamedain. Vom 05. bis 07. September 2013 wurde er
durch Militärs festgehalten, körperliche Misshandlung wurde ihm
dabei angedroht.
Seine
Gruppe, die Revolutionary Socialists (RS),
positionierte sich zuvor sowohl klar gegen die Muslimbrüder und
ihre Politik – nachdem sie diese 2012 noch tendenziell gegen die
Kräfte des alten Regimes unterstützt hatte – als auch gegen die
brachiale Repression, die nach ihrem Sturz losbrach. Während bei
manch anderen linken Gruppen diese doppelte Abgrenzung sträflich
unterblieb. Auch die RS hatten diese doppelte Abgrenzung nicht
zu jedem Zeitpunkt scharf durchgehalten: 2012 hatten sie noch
tendenziell Mursi gegen die Kräfte des alten Regimes
unterstützt, in dem Bestreben, den Kontakt zu dessen Basis nicht
zu verlieren (und diese ansprechen zu können, wenn die
Desillusionierung über die Regierungsbilanz des
Muslimbrüder-Präsidenten unvermeidlich eintreten würde).
Aber
seit der Jahresmitte 2013 nehmen die RS, mit ihrer nunmehr laut
und explizit vorgetragenen Kritik sowohl an den Islamisten als
auch an den Militärs, die vergleichsweise klarsten Positionen
ein. Im September 2013 konstituierte sich rund um diese
Position, die versucht, eine „dritte Kraft“ neben Islamisten und
Militärs respektive Armeefans zu bilden, ferner eine neue
Bündnisorganisation: die „Front des revolutionären Weges“.
Nicht alle bisher zu den „revolutionären Kräften“ – also
den Erben des Jahres 2011 – gerechneten Organisationen schlossen
sich ihr an. Viele von ihnen neigen dazu, entweder vom Block
rund um die Muslimbrüder oder von jenem rund um die Armee
angezogen zu werden und sich in eine subalterne Position
abdrängen zu lassen.
Beispielsweise übernahmen Kreise um die ägyptische KP – und die
Partei selbst – Positionen, wie man sie von den algerischen
Ex-Kommunisten zu Anfang des Bürgerkriegs in den frühen 1990er
Jahren kennt und die man dort als éradicateurs-(„Entwurzler-“,
„Ausrotter-“)Positionen bezeichnete. Also eine Unterstützung für
die militärische Repression, im Namen der Vorstellung, die
Muslimbrüder seien Faschisten und deswegen sei quasi jegliches
Vorgehen gegen sie irgendwie objektiv fortschrittlich.
Neueste
Entwicklungen
Ende
November und Anfang Dezember 2013 steigerte sich unterdessen die
Repression, welche sich nunmehr wieder verstärkt auch gegen
nicht islamistische Kreise richtet. (Vgl. oben)
Unterdessen kam es auch
zu neuen sozialen Kämpfen. Am 14. Dezember 2013 endete der
Streik im Eisen- und Stahlwerk des Eisen- und Stahlfabrikanten
HADISOLB im Kairoer Vorort Helwan am 19. Tag des Arbeitskampfs
mit einem weitgehenden Erfolg. Die Arbeiter des 13.000
Beschäftigte zählenden Werks hatten u.a. einen Abgang der
bisherigen Direktion, die ihnen verhasst war, sowie die
rückwirkende Auszahlung von sechzehn Monaten Gewinnbeteiligung
gefordert. Theoretisch werden die abhängig Beschäftigten in dem
Unternehmen am Jahresgewinn beteiligt, doch dieser faktische
Lohnzuschlag war in den letzten ein bis anderthalb Jahren in
Wirklichkeit nicht an sie ausgeschüttet worden. Bei diesen
beiden Forderungen hat die Direktion nachgegeben. Über andere
Forderungen der Streikenden, darunter eine Wiedereinstellung von
kürzlich Entlassenen sowie eine Verbesserung ihrer
Arbeitsbedingungen, wurde bei Redaktionsschluss noch verhandelt.
Dies belegt, dass es
trotz der starken Stellung der de facto regierenden Militärs
Ansätze zu gesellschaftlichen Kämpfen, eine soziale (und daneben
eine politische) Opposition gibt. Am selben Tag, an dem der
Arbeitskampf zu Ende ging, am 14. Dezember, wurden unterdessen
die Ergebnisse der Personalvertretungswahlen bei den ägyptischen
Ärztinnen und Ärzten bekannt. Dabei wurde die Hälfte der Sitze
in der Ärztekammer neu besetzt. Die Muslimbrüder, die diese
Berufsorganisation zuvor seit 28 Jahren (seit 1985) führten,
verloren dabei mächtig an Boden. Sie müssen nunmehr die Leitung
der Berufsorganisation abgeben, zugunsten einer Liste unter dem
Titel „Ärzte vom Tahrir-Platz“. Deren Gründer hatten ein gutes
Jahr zuvor den bisher letzten Streik ihrer Berufsgruppe
ausgerufen und gegen heftige Widerstände der Muslimbrüder
durchgeführt. Unmittelbar nach der Neubesetzung der Ärztekammer
rief deren neue Leitung zu einem Streik ab dem 1. Januar 2014
auf, für eine Verbesserung der Löhne (die bei ÄrztInnen in den
ägyptischen Krankenhäusern oft ziemlich tief ausfallen) und
einen Austausch des Direktorenpersonals im Gesundheitswesen.
Während des Arbeitskampfs sind die Ärztinnen und Ärzte dazu
aufgerufen, PatientInnen in den Krankenhäusern kostenlos zu
behandeln.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom
Autor für diese Ausgabe.
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