Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Wenn Marine Le Pen sich für Nelson Mandela hält...
...und frischgebackene Überläufer ihrer Partei, dem Front National, entsetzt wieder den Rücken kehren

12-2013

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Das nennt man Kreide fressen. In voller Sanftmut präsentiert sich Marine Le Pen – scheinbar - in einem Pressekommuniqué, das am 06. Dezember 13 veröffentlicht wurde. Dessen Gegenstand ist das Ableben von Nelson Mandela, im stolzen Alter von 95 Jahren, in der Nacht vom 05. zum 06. Dezember dieses Jahres. Die Chefin des Front National urteilt (offiziell) über ihn in ihrem Kommuniqué: „Mit dem Tod Nelson Mandelas ist eine große Stimme Afrikas verstummt. Marine Le Pen gedenkt dem Mann und früheren Präsidenten Südafrikas, der es aus Patriotismus und Liebe zu seinem Volk schaffte, sein Land aus dem Bürgerkrieg herauszuführen und es vor der Zerrissenheit zu bewahren. Durch seine Autorität hat Nelson Mandela Frieden und Versöhnung durchsetzen können (...)“

Der Teufel steckt zwar im Detail. Beispielsweise enthält die Formulierung, Mandela habe „sein Land aus dem Bürgerkrieg herausführen“ können, die Behauptung, vor seiner Freilassung 1990 oder vor seiner Wahl zum Präsidenten 1994 habe in Südafrika ein Bürgerkrieg geherrscht. Eine falsche Aussage, denn im damaligen Südafrika spielte sich kein Bürgerkrieg ab, sondern ein (teilweise bewaffnet und teilweise mit zivilen Mitteln durchgeführter) Befreiungskampf gegen ein Rassistenregime, das sich auf einen Teil der weißen Minderheit stützte und über die schwarze Bevölkerungsmehrheit herrschte. Allerdings ist der vorgebliche Gruß an den verstorbenen Nelson Mandela dennoch, vordergründig, fast erstaunlich positiv. Eine eher ungewöhnlich anmutende Geste von Seiten einer Partei, von der man - aus fundierten Gründen - vielleicht andere Töne erwartet hätte. Auch wenn offensichtlich ist, dass die FN-Chefin an Nelson Mandela und dessen Vita vor allem jene (vorgeblichen) Eigenschaften lobt, die sie an sich selbst zu entdecken glaubt: „Patriotismus“, „Liebe zu seinem (/ihrem) Volk“ und „Autorität“... Ein klassisches Prozedere bei Nachrufen für politische und/oder historische Persönlichkeiten. Besonders, wenn ihnen durchsichtige zeitgenössische Motivationen zu Grunde liegen.

In Wirklichkeit jedoch soll die öffentliche Stellungnahme von Marine Le Pen vor allem jene Positionen vergessen machen, die der damalige Front National unter ihrem Vater Jean-Marie Le Pen zu Südafrika und zur dort herrschenden Apartheid eingenommen hatte. Heute, da das Leben und das Werk Nelson Mandelas (im Nachhinein) in weiten Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit positiv wahrgenommen werden, erscheint der Rückblick auf diese Positionen wie ein Gang ins Gruselkabinett. Doch anders als heute, da die Geschichte definitiv das Urteil über das Apartheid-Regime gesprochen zu haben scheint, hatte dieses – solange es noch nicht überwunden war – zu seiner Zeit durchaus seine Verteidiger. In Westdeutschland etwa in einem Spektrum, das von der NPD bis zum damaligen CSU-Chef Franz-Josef Strauß reichte. (Letzterer verstarb im Oktober 1988 und war deswegen bereits tot, als Nelson Mandela im Februar 1990 aus langjähriger Haft freikam.)

Jean-Marie Le Pen reagierte besonders rabiat auf die Freilassung Mandelas. Am 09. Mai 1990 wurde er in der TV-Sendung L’Heure de vérité danach befragt, ob er bei diesem historischen Ereignis eine positive Emotion verspürt habe. Und antwortete: „Nein. Es hat mich weder bewegt noch erfreut. Zunächst, weil ich eine Art von Misstrauen gegenüber Terroristen hege.“ Doch es kam noch „besser“. Am 13. Juni 1990 besuchte Nelson Mandela das Europäische Parlament in Strasbourg, wo auch Jean-Marie Le Pen Abgeordneter war. Aus diesem Anlass kam es zu einer Prügelei zwischen Leibwächtern des Front National-Chefs und Begleitern eines Schweizer Sozialistenpolitikers, welcher ebenfalls auf Besuch weilte – und dabei rief Le Pen (Vater) aus: „Wer ist dieser Hund Mandela?“ Dies geht aus einer Kurzmeldung in der taz hervor, die der Verfasser in seinen Archiven auffand. Am Abend desselben Tages ging die Sache noch weiter. In einem Restaurant in Strasbourg stritten Jean-Marie Le Pen und sein Abgeordnetenkollege Bernard Antony (von 1984 bis 2006 Mitglied beim FN) sich mit einem belgischen und einem luxemburgischen sozialistischen Abgeordneten, Robert Krieps und José Happart. Krieps hatte den FN-Chef danach befragt, ob die Rede Mandelas im EP ihm „nicht den Appetit verdorben“ habe. Im weiteren Verlauf spuckte Jean-Marie Le Pen dem Belgier Happart ins Gesicht, und Antony verpasste ihm eine Ohrfeige(1).

Nun könnte man einwenden, die französische rechtsextreme Partei habe sich seit damals vielleicht verändert, und Marine Le Pen erinnere sich eventuell gar nicht an solche einstigen Positionen ihres Vaters. Allerdings: Bei der Aufzeichnung der TV-Sendung vom Mai 1990 mit Jean-Marie Le Pen saß dessen Tochter Marine, damals knapp 22 Jahre alt, im Publikum in einer der vorderen Reihen. Daran wurde sie anlässlich einer Rundfunksendung im Juni 2013 erinnert, nachdem sie bei Radio France Inter nicht etwa behauptet hatte, ihre Partei habe sich geändert und bedauere frühere Positionen – sondern, es habe diese nie gegeben, und Jean-Marie Le Pen habe „niemals“ Negatives über Mandela geäußert(2). Woraufhin Marine Le Pen nahezu ausrastete, und den öffentlich-rechtlichen Rundfunksender erregt als Radio bolcho (Bolschewikenradio) bezeichnete...

Andere Figuren ihrer Partei nehmen noch heute weitaus schärfere Positionen in der Sache ein. Ihr Herausforderer bei der Wahl zum Parteivorsitz im Winter 2010/11, Bruno Gollnisch - auch heute noch Europaparlaments-Abgeordneter des FN - veröffentlichte etwa am 06. Dezember 13 erneut einen Artikel, den er bereits im Juni 2013 ins Internet gestellt hatte, als Viele bereits mit dem bevorstehenden Tod Nelson Mandelas rechneten. Unter dem Titel Le rêve fracassé de Nelson Mandela („Der zerbrochene Traum des Nelson Mandela“) lässt Gollnisch sich darin über den angeblichen Exodus der armen, geplagten weißen Minderheit in Südafrika aus. Er schreibt u.a.: „Heiliggesprochen von den Aposteln einer ,Regenbogengesellschaft’, wie die herrschende Kaste sie gerne auf den ganzen Planeten ausdehnen würde, ist Nelson Mandela in Wirklichkeit eine komplexe Persönlichkeit (...) deren lebenslanges Engagement nicht das Chaos, den Anstieg der Gewalt und des Elends seit dem offiziellen Ende der Politik getrennter Entwicklung (,Apartheid’) vergessen machen kann.“

Konsensbrecher?

Die offiziellen, moderat klingenden Töne von Parteichefin Marine Le Pen zum Gedenken an Nelson Mandela sollen zur von ihr so getauften dédiabolisation (ungefähr: „Entdämonisierung“) des rechtsextremen Front National beitragen.

Der FN muss grundsätzlich aufpassen, zwar einerseits nicht als „völlig normalisierte Partei wie alle anderen“ zu erscheinen – er würde drohen, sein pseudo-rebellisches Image (gegen das „Establishment“) einzubüßen -, aber andererseits auch nicht jegliche gesellschaftliche Konsensfähigkeit zu verlieren. Die Reputation von Marine Le Pen musste beispielsweise vorübergehend einige Federn lassen, als sie sich jüngst außerhalb des nationalen Betroffenheitskonsens stellte, nachdem am 29. Oktober 13 mehrere französische Ex-Geiseln nach mehrjähriger Gefangenschaft in der Sahara im Norden Malis zurückgekehrt waren. Sie waren von den dort aktiven bewaffneten Islamisten freigelassen worden, nachdem französische Unternehmen wie AREVA und Vinci (ihre Arbeitgeber) mutmaßlich zwanzig Millionen Euro Lösegeld bezahlt hatten. Marine Le Pen ließ sich jedoch in einer ersten öffentlichen Reaktion spöttisch darüber aus, dass die vier Männer aus ihrer mehrjährigen Gefangenschaft mit langen Bärten und einer Chèche – einem bei den Tuareg getragenen Schal – um den Hals zurückgekehrt seien. Wohl unter dem Einfluss der unter extremen Rechten dermaßen beliebten Verschwörungstheorien, denen zufolge stets „die Wahrheit im Verborgenen zu suchen ist“, suggerierte sie vor laufenden Mikrophonen, die vier seien zum Islamismus konvertiert worden und also als Agenten der Gegenseite zurückgekehrt(3).

Darüber wurde kurzzeitig erregt diskutiert - es ist nur stark zu befürchten, dass die öffentliche Meinung den kurzen Ärger darum bereits wieder vergessen hat. Solche Ausfälle drohen Marine Le Pen jedoch im Prinzip, und sei es vorübergehend, außerhalb des „Konsensfähigen“ zu stellen. Auch ihre Attacken gegen die französische Fußballnationalmannschaft(4), auch nachdem diese sich jüngst – im Rückspiel gegen die Ukraine am 19. November 13 – doch noch für die WM in Brasilien qualifizieren konnte, tendieren in diese Richtung. Auch wenn ihre Vorbehalte gegen die Mannschaft (in ihren Augen eine geldgierige Mischtruppe) auch von manchen betont rechten Konservativen wie Lionnel Luca geteilt werden.

Pfiffe am nationalen Gedenktag

Am 11. November 13 wurde Präsident François Hollande an zwei Orten ausgebuht und ausgepfiffen, auf den Champs-Elysées in Paris und einige Stunden später in der Kleinstadt Oyonnax. Seine Auftritte standen in Verbindung mit einem Gedenk- und gesetzlichen Feiertag in Frankreich: Am 11.11. ist aus Andenken an das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 arbeitsfrei, denn an dem Tag wurde in einem Waggon in Compiègne der Waffenstillstand zwischen der Französischen Republik und dem damaligen Deutschen Reich abgeschlossen. Das historische Gedenken fällt heutzutage (mit gewachsenem zeitlichem Abstand zum Ersten Weltkrieg) normalerweise nicht weiter auf – außer dass an dem Tag arbeitsfrei ist –, aber aufgrund des bevorstehenden einhundertjährigen Jubiläums zum Kriegsbeginn (1914 -> 2014) fand es in diesem Jahr doch einige Beachtung. Von vornherein, denn durch die Pfiffe gegen den amtierenden Präsidenten wuchs die Aufmerksamkeit dann noch zusätzlich.

Der rechtslastige erste Kanal des französischen Fernsehens, TF1 – der Sender wurde 1987 durch den damaligen Premierminister Jacques Chirac privatisiert und steht im Eigentum von Nicolas Sarkozys Duzfreund, dem Konzernerben Martin Bouygues – hat den Eindruck unterdessen noch verstärkt: TF1 hat inzwischen zugegeben, die Abfolge von Bild und Ton leicht manipuliert zu haben. Durch eine Verschiebung der Tonsequenz um vier Sekunden gegenüber dem Ablauf der Bilder wird künstlich der Eindruck erweckt, das Pfeifkonzert sei besonders hell erklungen, als François Hollande aus dem Auto gestiegen sei. In Wirklichkeit erklangen die Pfiffe eher wenige Sekunden vor seinem Austritt aus dem Wagen und hatten ihren Höhepunkt bereits überschritten, als Hollande auf den Asphalt trat (und dann auch ein bisschen Beifall erklang). Der rechte Sender wurde also bei einer politischen Manipulation ertappt, auch wenn er behauptet, es handele sich um ein „technisches Versehen“.

Die Urheber der Störaktion kamen aus dem Umfeld des harten Kerns der Homosexuellen-Gegner einerseits, und aus dem Kreis der organisierten Neofaschisten andererseits. Zuvor war von ihrer Seite im Internet und bei Facebook für eine Aktion am 11. November um 11.11 Uhr geworben worden – nein nein, es bestand keine Verbindung zum rheinischen Karneval, nein. 73 Personen aus ihren Reihen wurden vorübergehend festgenommen; drei von ihnen wurden im Nachhinein der Justiz vorgeführt.

Unter ihnen befindet sich David Van Hemelryck, ein 33jähriger Jungunternehmer, der dadurch bekannt wurde, dass er den ganzen August 2013 über ein Segelflugzeug mit dem Transparent „Hollande, Rücktritt!“ über den Urlauberstränden am Atlantik steuerte. Er kommt aus dem harten Kern der Bewegung gegen die Homosexuellenehe, ebenso wie jene drei Personen, die am 09. November 13 den ersten Sabotageakt gegen eine Ökosteuer-Mautstelle für LKWs auf der Pariser Ringautobahn verübten.

Im Nachhinein erklärte der Front National (in Gestalt seiner Vorsitzenden Marine Le Pen) im Übrigen, man verurteile die Störaktionen durch „Hitzköpfe“, da man an einem nationalen Gedenktag nicht stören dürfe – beschwerte sich aber auch darüber, der Spitzenkandidat der eigenen Partei zur Pariser Rathauswahl und ein paar andere Parteigänger seien am 11. November ebenfalls festgenommen worden. Marine Le Pen sprach diesbezüglich sogar von „Methoden wie in totalitären Ländern“. Ihr Pariser Spitzenkandidat für die Pariser Rathauswahl vom März 2014 ist Wallerand de Saint-Just, seit 1987 Rechtsanwalt von Jean-Marie Le Pen. Er wurde am diesjährigen 11. November in der Nähe der Place Charles de Gaulle-Etoile (wo auch die Störaktion stattfand) mit einer Handvoll Getreuen in polizeilichen Gewahrsam genommen. Natüüüüürlich befand er sich jedoch reiiiiiin zufällig dort, na klar, selbstverständlich.

Kandidat/inn/en futsch

An anderer Stelle (vgl. Der Front National zwischen Bemühen um „Respektabilität“ und faschistischer Natur) berichteten wir bereits über Nadia und Thierry Portheault, die einen Ausflug zum Front National unternommen hatten – mit Madame in der Rolle der Spitzenkandidatin zur Kommunalwahl in Saint-Alban, im Umland von Toulouse -, bevor sie entsetzt ihren Abschied nahmen(5).

Inzwischen haben noch weitere „Überläufer/innen“, die von anderen Parteien kamen und eine Kandidatur für den Front National angenommen hatten, ihren Austritt aus der Partei respektive (falls sie keinen Mitgliedsausweis hatten) ihren Rücktritt von der Liste erklärt. Dies gilt etwa für den früheren Lokalpolitiker der bürgerlich-konservativen UMP, Arnaud Cléré. Er war im Mai 2013 durch seine frühere Partei ausgeschlossen worden, nachdem er zuvor die erste Bündnisliste aus örtlichen UMP-Mitgliedern und Angehörigen der extremen Rechten aufgestellt hatte. Cléré war daraufhin nicht direkt dem FN beigetreten, sondern einer Minipartei, die seit zwei Jahren mit dem Front National liiert ist und gemeinsame Listen mit ihm zusammen aufstellt: dem SIEL (Kürzel für Souveraineté, indépendance, libertés – „Souveränität, Unabhängigkeit, Freiheit“). Es handelt sich um eine rechtskonservative und EU-feindliche Splitterpartei unter Paul-Marie Coûteaux(6).

Doch Mitte Oktober 2013 nahm Cléré dann an einem Treffen von Kommunalwahlkandidat/inn/en des FN in Hénin-Beaumont (im früheren Bergbaurevier) in Nordostfrankreich teil. Hénin-Beaumont ist für den FN nicht „irgendeine“ Stadt: Bei den Kommunalparlamentswahlen von 2008, die dort im Juli 2009 wiederholt werden mussten, sowie bei den Parlamentswahlen im Juni 2012 schrammte Marine Le Pen dort jeweils nur knapp an einer absoluten Mehrheit vorbei. Die jetzige Parteichefin des FN beackert dort seit zehn Jahren das örtliche Terrain, wo sie günstige Voraussetzungen für ihre Kandidatur witterte. Laut eigenen Angaben will Arnaud Cléré bei dem Treffen, an dem 130 Spitzenkandidaten des FN teilnahmen, jedoch „Hakenkreuztätowierungen auf den Unterarmen von zwei Personen“ gesehen und „rassistische Sprüche“ gehört haben. FN-Generalsekretär Steeve Briois – der selbst aus Hénin-Beaumont kommt und die Partei vor Ort anführt – entgegnet darauf allerdings, er halte die Fotos aller an dem Treffen beteiligten Spitzenkandidaten für die Presse bereit, niemand unter ihnen trage Hakenkreuztätowierungen. (Vielleicht andere Personen, die am Rande des Treffens anwesend waren?) Am 24. November 13 erklärte Cléré, er kehre dem FN den Rücken, und er werde wahrscheinlich durch seine frühere Partei wieder aufgenommen. Marine Le Pen behauptet unterdessen, es handele sich um eine Manipulation durch die UMP, und macht deren Chef Jean-François Copé direkt dafür verantwortlich(7).

Eine andere Kandidatin, die bislang für den FN zu den Rathauswahlen antreten wollte und nun jüngst „die Brocken hinschmiss“, ist Anna Rosso-Roig. Die Dame mit dem schicken Doppel-R erklärte am 25. November 13 ihren Rücktritt von der Kandidatur auf einer Liste des Front National in Marseille. Sie hätte auf dem Listenplatz Nummer Zwei zu einem der Marseiller Bezirksrathäuser kandidieren sollen. Die Besonderheit ihrer Bewerbung war, dass Rosso-Roig eine Überläuferin vom Front de gauche („Linksfront“, ungefähr Entsprechung zur deutschen Partei DIE LINKE) war, für den sie noch zur Parlamentswahl im Juni 2012 kandidiert hatte, und aus einer kommunistischen Familie kommt.

Im Frühjahr 2013 war Rosso-Roig vom Front de gauche zum Front National übergewechselt, weil die gläubige Katholikin – wie sie erklärte – gegen die Homosexuellenehe eingestellt war (deren Einführung durch die oppositionelle „Linksfront“ unterstützt wurde) und sich vor einer „Islamisierung Frankreichs“ fürchtete. Doch im Laufe der Wochen zeigte sie sich über rassistische Sprüche bei Parteiversammlungen, ständige Ausfälle gegen „das Gesindel“ oder Äußerungen von Sexismus bestürzt. Durch ein Gespräch mit der linksliberalen Tageszeitung Libération erklärte sie ihren Abschied(8).

Antirassistische Mobilisierungen

Infolge der sich häufenden rassistischen Ausfälle besonders gegen die schwarze Justizministerin Christiane Taubira (vgl.Frühling im Oktober/November für den Front National? und  Der Front National zwischen Bemühen um „Respektabilität“ und faschistischer Natur ) kam es, wie in der vergangenen Ausgabe angekündigt, zu antirassistischen Protestmobilisierungen. Im Vergleich zu früheren Perioden – etwa gegen das damals verschärfte Ausländergesetz im Januar/Februar 1997, gegen den FN-Kongress in Strasbourg Ende März 1997, oder gegen den Einzug Jean-Marie Le Pens in die Stichwahl um die Präsidentschaft im April/Mai 2002 – blieben diese allerdings bislang relativ bescheiden.

Am Samstag, den 30. November d.J. demonstrierten in Paris laut unseren Schätzungen 6.000 bis 8.000 Menschen in guter Stimmung gegen Rassismus. Dabei waren u.a. antirassistischen Organisationen (LICRA, MRAP, SOS Racisme), die „Liga für Menschenrechte“ – LDH -, Vereinigungen von Karibikfranzosen und Selbstorganisationen „illegalisierter“ Einwanderer (Sans papiers). Im Anschluss an die antirassistische Demonstration sprachen die Polizei von „3.900“, die Veranstalter/innen von „25.000“ Teilnehmer/inne/n; beide Angaben sind unrealistisch.

Auch manche Gewerkschaftsverbände, konkret eher vom „moderateren“ oder sozialpartnerschaftlich orientierten Flügel (CFDT, UNSA) sowie die linken Basisgewerkschaften SUD/Solidaires, hatten dazu mobilisiert. Hingegen blieb die CGT als mit Abstand stärkster Gewerkschaftsverband nur schwach vertreten: Sie bewahrte ihre Kräfte vielleicht für die Demo der „Linksfront“ gegen die Anhebung der Mehrwertsteuer zum Jahreswechsel, an welcher am 01. Dezember d.J. in Paris laut realistischen Schätzungen 20.000, vielleicht 25.000 Menschen teilnahmen (Polizei: „7.000“, Veranstalter/innen: „100.000“).

Am darauffolgenden Samstag, den 07. Dezember demonstrierten rund 2.000 Menschen, dieses Mal eher aus Migrantenvereinigungen, gegen Rassismus. Anlass für diese seit längerem geplante Demonstration war der dreißigste des „Marschs gegen Rassismus und für Gleichheit“, der vom Oktober bis Dezember 1983 stattfand: Gut fünfzig Söhne und Töchter von Einwanderern hatten damals Frankreich von Marseille über Lyon bis Paris zu Fuß durchquert, bei ihrer Ankunft in Paris demonstrierten damals knapp 100.000 Menschen. Von solcher Mobilisierungsfähigkeit sind wird in der aktuellen Periode allerdings weit entfernt. Am Sonntag, den 08. Dezember nahmen wiederum rund 1.000 Menschen in Paris an einem „Marsch der Demokraten“ statt, zu dem vor allem studentische Organisatoren unter reichlich staatstragend-unkritischen Vorzeichen aufgerufen hatten. Er sollte das Mitte-Links- ebenso wie das Mitte-Rechts-Milieu ansprechen und Protest u.a. gegen die rassistische Ausfälle zu Justizministerin Taubira, aber auch gegen die Pfiffe vom 11. November zum Ausdruck bringen. Zuvor hatten 46.000 Personen bei Facebook ihre „Unterstützung“ erklärt. Einmal mehr erwies sich allerdings, dass virtuelle Unterstützung nicht reale Mobilisierung bedeutet.

Der FN zwischen Vereinnahmungsversuchen gegenüber Konservativen und politischem Außenseitertum

Das gesellschaftliche Klima in Frankreich ist von einer weit verbreiteten Unzufriedenheit geprägt. Angesichts einer real als Mitte-Rechts-Politik zu bezeichnenden Wirtschaftspolitik hat die sozialdemokratisch geführte Regierung, aber haben auch die ihr gegenüber oft sträflich passiv bleibenden Gewerkschaften ihre breite Basis verloren. Unter ihren bisherigen Anhänger/inne/n überwiegen oft Frustration und Desorientierung Dagegen kann die Regierung diesen Vertrauensverlust nicht im konservativen Lager wettmachen: Von Anfang an wurde ihr als angeblich „linkem Regime“ von Teilen der politischen Rechten her bestritten, überhaupt legitim den Staat führen zu können. Seien die Sozialisten doch Zerstörer von Staat, Werten und Nation. Diese Vorwürfe haben sich radikalisiert, seitdem die breite rechte Protestbewegung gegen die Homosexuellenehe in den ersten Jahresmonaten 2013 mit teilweise apokalyptischen Worten die „sozialistische Diktatur“ anklagte.

Eine vor allem durch „Mittelständler“protest und kleinbürgerlichen Antifiskalismus (= Ablehnung von Steuern) dominierte, diffuse und in vielen Teilen rechtsgewirkte Protestbewegung machte in den letzten Wochen auf sich aufmerksam(9). Kommentatoren diskutieren unterdessen kontrovers über die Frage, ob „eine soziale Bewegung von rechts“ existiert(10), und Beobachter/innen sprechen über „eine neue protestorientierte Rechte, welche sich der Kontrolle durch die Parteiführungen entzieht“(11). Dabei fällt mitunter auch der Begriff „einer ,Tea Party’-Bewegung à la française“, sei es in deskriptiver oder in affirmativer Absicht; zu den begeisterten Befürwortern zählt etwa der ultrarechte Journalist Ivan Rioufol(12).

Aber auch die stärkste Oppositionspartei, die konservativ-wirtschaftsliberale UMP, profitiert derzeit (trotz Versuchs) kaum oder nicht von der aufgeheizten Stimmung(13). Unter anderem, weil die Partei von inneren Machtkämpfen zerrissen bleibt. Und weil ihre eigene Regierungszeit (zuletzt von Mai 2002 bis Juni 2012) noch zu frisch in Erinnerung bleibt – viele der jetzt umkämpften Vorhaben gehen noch auf ihr eigenes Konto, bspw. brachte die UMP die Ökosteuer ab 2007 und die Mehrwertsteuererhöhung erstmals 2007 und erneut ab Januar 2012 ins Gespräch.

Von den Konservativen zum FN

Doch ihr ungeklärtes, gespaltenes Verhältnis zur extremen Rechten macht der konservativ-wirtschaftsliberalen Partei ebenfalls zu schaffen. An, mal mehr und mal wesentlich weniger prominenten, Überläufern zum Front National (FN) mangelt es nicht; ebenso wenig an Repräsentanten der UMP, die sich eben mal die Bündnisfrage stellen. Am 06. November 13 wurde bekannt, dass Philippe Martel, der frühere engste Mitarbeiter des ehemaligen RPR-Chefs Alain Juppé (der neogaullistische RPR war die wichtigste Vorläuferpartei der 2002 gegründeten UMP) in den Jahren von 1980 bis 1994, zum FN übergetreten sei. Alain Juppé war u.a. französischen Außenminister in den Jahren 1993 bis 95, danach Regierungschef – Premierminister von 1995 bis 97 – und zuletzt 2011-12 abermals Außenminister. Er gilt heutzutage im bürgerlichen Block als „moderat“ und „pro-europäisch“. Der frühere Ministerialbürokrat Philippe Martel behauptet von sich, seine früheren politischen Ansichten – u.a. auch zur Einwanderung – „um keinen Haaresbreit verändert“ zu haben; mit einer Ausnahme: seiner Position gegenüber der Europäischen Union. Seit dem Referendum vom 29.05.2005 über den damals geplanten „Verfassungsvertrag“ sei er zunehmend zu EU-kritischen Positionen übergegangen. Ansonsten beruft er sich darauf, schon 1983 Wahlkämpfe mit dem Thema „(gegen) Einwanderung“ geführt zu haben, und benutzt ungeschminkt den rechtsextremen Begriff vom angeblich laufenden „Bevölkerungsaustausch“(14).

Die bürgerliche Rechte wird in gewisser Weise auch „geplündert“, was ihre Symbole betrifft. Am 09. November 13 nahm ein führender Parteifunktionär des FN an der Kranzniederlegung zum Todestag des Gründers der Fünften Republik, Charles de Gaulle, in Colombey-les-deux-Eglises (Lothringen) teil. Er hatte sich bereits im November 2012 dorthin begeben. Philippot kandidiert(e) zu den Parlamentswahlen 2012 und zu den Kommunalwahlen 2014 im Norden der Region Lothringen, in Forbach. In diesem Jahr rief seine Anwesenheit dort ein wenig Widerspruch hervor. Der konservative Abgeordnete und frühere Parlamentspräsident Bernard Accoyer (UMP) meldete Protest an und berief sich darauf, dass „die extreme Rechten den General de Gaulle hasst“. Dies trifft durchaus zu – aufgrund der Rolle de Gaulles im Zweiten Weltkrieg, wie auch aufgrund seiner Akzeptanz der Entkolonisierung Algeriens, nachdem er diese zuerst bekämpft hatte. Bevor er zur Einsicht gelangte, der Versuch, diese militärisch aufzuhalten, sei zum Scheitern verurteilt. Jean-Marie Le Pen und andere Neofaschisten betrachteten de Gaulle als „Verräter“, die rechte Terrororganisation OAS versuchte ihn 1962 zu ermorden. Doch Parteichefin Marine Le Pen erwiderte Accoyer öffentlich, es seien seine Parteifreunde, die de Gaulle verraten hätten, durch „den Ausverkauf der Souveränität Frankreichs“(15). Streit gab es unterdessen nicht durch die Anwesenheit des Rechtsextremen Philippot am 09. November d.J. am Grabe de Gaulles, sondern auch durch jene der sozialdemokratischen Pariser Rathauskandidatin Anne Hidalgo. Auch ihre Partei war dereinst politisch gegen Präsident de Gaulle gewesen...

Staatsbürgerschaftrecht: UMP unternimmt symbolische Schritte auf den FN zu

Am 22. Oktober 13 kündigte UMP-Chef Jean-François Copé vor der Presse an, seine Partei werde bis zum Jahresende 2013 im Parlament einen Gesetzesvorschlag für ein verschärftes Staatsbürgerschaftsrecht vorlegen. Zuvor hatte der Parteivorstand der UMP einstimmig einen „Plan für eine neue Einwanderungspolitik“ angenommen. Copé erklärte dazu: „Es geht nicht dazu, das Ius soli (Bodenrecht im Staatsbürgerschaft) in Frage zu stellen. Aber wenn man in Frankreich als Kind illegal im Land sich aufhaltender Eltern geboren wurde, ist man nicht dazu berufen, dort zu bleiben. Und man kann nicht die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Die Kindern von legal sich in Frankreich aufhaltenden Eltern können nicht automatisch die Staatsbürgerschaft erwerben, sie müssen sie beantragen.“(16)

Bei seinen öffentlichen Auftritten erweckte Copé daraufhin den Eindruck, den in Frankreich geborenen Kindern – auch denen von „illegalen“ Einwanderern – werde die Staatsbürgerschaft geradezu nachgeworfen, was es ihren Familien erlaube, sich eine Aufenthaltsberechtigung sozusagen zu erschleichen. In Wirklichkeit wird die Staatsangehörigkeit den Betreffenden natürlich keineswegs „hinterher geworfen“. Auch wenn sie auf französischem Boden geboren sind, können die Kinder ausländischer Eltern (ob „legale“ oder „illegale“ Einwanderer) frühestens ab dem Alter von 13 Jahren und auf Antrag der Eltern hin französische Staatsbürger/innen werden. „Illegale“ Zuwanderer können also – nach geltendem Recht, d.h. der letzten Gesetzesnovelle zum Thema vom 16. März 1998 – nicht wirklich darauf hoffen, durch ihre französischen Kinder zu einer Aufenthaltserlaubnis dank Familienbanden kommen: Dies würde im Prinzip voraussetzen, dass sie sich auch 13 Jahre nach ihrer Geburt noch in Frankreich aufhalten. Ohne Antrag der Eltern werden die in Frankreich geborenen Kinder (unter der Voraussetzung mehrjährigen ununterbrochenen Aufenthalts) im Alter von 18 Jahren automatisch Staatsbürger/innen. Die damalige konservative Regierung hatte diesen Erwerb unter den Vorbehalt eines ausdrücklichen Antrags gestellt, die sozialdemokratische Regierung von 1997/98 hatte Letzteren wieder abgeschafft.

Die Forderung, dass in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern möglichst nicht französische Staatsbürger/innen werden dürfen, und die Infragestellung des „Bodenrechts“ zugunsten des „Blutsrechts“ (Staatsbürgerschaft wird vorwiegend durch Abstammung vererbt) ist seit 30 Jahren einer der Kernpunkte des Parteiprogramms des Front National. Entsprechend wurde der jüngste Vorstoß des UMP-Chefs als Schritt auf die extreme Rechte zu gewertet. Auch wenn Copé sich bemühte, diesem Vorwurf formal zu widersprechen. Sein Einwand lautete: „Frankreich wird durch schwere kommunitaristische Spannungen“ – diese Formulierung soll so viel bedeuten wie: Ansprüche stellende und rebellierende Ausländer – „auf der einen Seite, und durch die extreme Rechte andererseits erschüttert. Nur die UMP kann eine Lösung bringen“, also gewissermaßen die Gegensätze überbrücken. Auch in den darauffolgenden Tagen hielt die Kampagne aus den Reihen der UMP zum Thema an. Am 25. Oktober 13 hinterlegte der Abgeordnete Guillaume Larrivé – er steht Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der vor der Präsidentschaftswahl 2017 auf die politische Bühne zurückkehren möchte und folgerichtig mit den aktuellen UMP-Anführern Copé und François Fillon rivalisiert – einen eigenen Gesetzesvorschlag dazu(17).

Doch versuchte Copé das Ruder herumzuwenden, als er bemerkte, dass die rassistische Kampagne seiner eigenen Partei aus der Kontrolle läuft – und Gegenreaktionen hervorrief. Nach der Parlamentssitzung, bei der die Regierungsfraktionen Christiane Taubira stehend applaudiert hatten, sprach er von einer „gelungenen Medienmanipulation“. Das Regierungslager wolle „von den eigentlichen, wahren Problemen der Franzosen“ ablenken. Ferner habe es nicht reagiert, als er selbst, Copé, jüngst zum Opfer antisemitischer Attacken aus den Reihen der extremen Rechten geworden sei(18). Dadurch wollte der gewiefte Polit-Taktierer Copé einerseits den antirassistischen Stellungnahmen des Regierungslagers die Legitimität entziehen und eine Art Opferkonkurrenz aufbauen.

Anderseits hatte er in der Sache insofern nicht Unrecht, als es tatsächlich auch gegen Copé einzelne Angriffe von Mitgliedern des FN gab, die man als antisemitisch charakterisieren muss. Der örtliche Spitzenkandidat des Front National in Mitry-Mory (nordöstlich von Paris, in der Nähe von Meaux, wo Copé Bürgermeister ist), der 23jähige Adrien Desport, hatte sich über ihn im Internet ausgelassen: Sein wahrer Name sei „Copolevic“ – so hieß Copés rumänischer Großvater. Und der Mann glaubte hinzufügen zu müssen: „Bei diesen Leuten isst man kein Schweinefleisch.“ Die Anspielung auf seine jüdische Abstammung war überdeutlich(19). Über einen Rückzug seiner Kandidatur zur Kommunalwahl ist dem Verfasser bis zum Redaktionsschluss nichts bekannt. Bei Redaktionsschluss dieses Artikels am 19. Dezember 13 firmierte Adrien Desport auf seiner Facebook-Seite jedenfalls noch als „Spitzenkandidat“.

 

Anmerkungen

1 Vgl. http://archives.lesoir.be/le-pen-crache-sur-happart-a-strasbourg_t-19900614-Z02T98.html 

5 Vgl. auch ihr jüngst in der Tageszeitung Libération publiziertes Porträt: http://www.liberation.fr/politiques/2013/12/05/nadia-et-thierry-portheault-revenus-du-front_964430
9 Aus Platzgründen verweisen wir an der Stelle auf unseren ausführlichen Artikel zum Thema: http://www.trend.infopartisan.net/trd1113/t471113.html (Teil 1) und http://www.trend.infopartisan.net/trd1113/t481113.html (Teil 2).
 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.