Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Amoklauf in Paris

12-2013

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Die Spur der Schüsse u.a. auf die linksliberale französische Tageszeitung ,Libération’ führte zu einem ehemaliger Anhänger der Pariser Autonomen. Dessen Durchknall-Aktion steht auch im Zusammenhang mit verrückten Konzeptionen einer randständigen politischen ,Szene’.

Zum Glück ist es kein Araber, sonst würden wir wieder unser Fett abkriegen!“ So lautete zu Anfang der dritten Novemberwoche d.J. die Reaktion vieler Migranten, aber auch antirassistisch eingestellter Französinnen und Franzosen, als die Suchmeldung nach dem Amokläufer vom Montag, den 18. November 13 bekannt gegeben wurde. Der Schütze, der einen 23jährigen Fotographen in der Redaktion von Libération lebensgefährlich verletzt hatte und am selben Vormittag von außen auf das Gebäude einer Bank – der Société Générale – im Geschäftsviertel La Défense feuerte, wurde im Fahndungsaufruf als „Europäer, circa vierzigjährig“ beschrieben. Es klang nach einem psychisch kranken Attentäter oder einem einsamen „Werwolf“, aber mitnichten nach einem islamistischen Anschlag. Im aktuell stark rassistisch aufgeladenen Klima in Frankreich wurde dies von vielen als Erleichterung erlebt, glaubte man doch, deswegen nicht mit einer zusätzlichen Welle übler Äußerungen konfrontiert zu werden.

Drei Tage später folgte dann ein Anflug von Enttäuschung: Doch ein arabischsprachiger Name. Am Donnerstag früh (21. November 13) ging der Name des festgenommenen Amokschützen über die Bildschirme: Abdelhakim Dekhar. Der in Lothringen geborene, 48jährige Sohn eines aus Algerien stammenden Stahlarbeiters war durch den Vergleich seines DNA-Materials mit den Spuren an den Tatorten zweifelsfrei überführt worden. Er wird ferner dafür verantwortlich gemacht, am Freitag, den 15. November 13 kurz vor sieben Uhr früh einen Chefredakteur des Fernsehsenders BFM TV mit vorgehaltener Waffe bedroht zu haben. Damals nahm Dekhar allerdings noch, nach wenigen Sekunden, die Munition aus dem Lauf und ließ sie zu Boden fallen - jedoch mit den Worten: „Das nächste Mal verfehle ich Euch nicht!“ Das Wochenende über blieb Dekhar daraufhin verschwunden, bevor er am Montag darauf bei Libération und vor dem Bankenhochhaus der Société Générale wieder in Aktion trat. Ihm wird ferner auch zur Last gelegt, am selben Tag einen Rentner in Les Puteaux, unweit des Geschäftsviertels La Défense, mit der Waffe bedroht zu haben. Der Amokläufer verlangte von ihm, im Auto mitgenommen und auf den Champs-Elysées abgesetzt zu werden. Dort verschwand er, zunächst spurlos, in der Menschenmenge.

Doch am Donnerstag, den 21. November war es dann vorbei. Am Vorband hatten Polizeibeamte ihn gegen 19 Uhr in halbkomatösem Zustand in einem Auto, welches in einer Garage in einem Pariser Vorort abgestellt worden, aufgefunden. Dekhar hatte größere Mengen an Schlafmitteln und Medikamenten geschluckt. Allem Anschein nach handelte es sich um einen Suizidversuch.

Den entscheidenden Hinweis hatten die Ermittler von einem 32jährigen Bekannten Abdelhakim Dekhars erhalten, der ihn seit zwanzig Jahren mehr oder weniger vage kannte und ihn in den Tagen zuvor beherbergt hatte. Ihm gegenüber hatte Dekhar am Montag, den 18. November erklärt: „Heute habe ich eine Dummheit begangen. Hoffentlich ist die Polizei mir nicht auf der Spur.“ Und er war seinem Gastgeber verdächtig erschienen. Auf dessen Computer wurden auch zwei inhaltlich wirre Abschiedsbriefe gefunden, die Dekhar dort getippt hatte. Zwei ähnliche Schreiben sind inzwischen auch in einem Hotelzimmer aufgetaucht, das der 48jährige am vorvergangenen Wochenende belegt hatte. Dort tauchten ferner auch ein Koffer mit persönlichen Gegenständen und einem Ausweis Dekhars auf.

Nun ist Dekhar zwar arabischer oder arabisch-berberischer Herkunft, aber beileibe kein Islamist. Dagegen spricht auch, dass er in seinen letzten Tagen in Freiheit sturzbetrunken aus einem Hotel im 1. Pariser Bezirk hinausgeworfen wurde, wo er für eine Nacht abgestiegen war.

Seine wirren politischen Auslassungen, die sich in den insgesamt vier gefundenen Abschiedsbriefen widerspiegeln, zeugen eher von unverdauten Versatzstücken einer linksradikalen Ideologie oder jedenfalls eines linksrevolutionär klingenden Sprachduktus. Wiederholt fällt darin das Wort vom „Faschismus“ oder ist von einem „faschistischen Komplott“ die Rede, gegen das Dekhar anscheinend zu kämpfen glaubt. Darin spielen dem Verfasser der Briefe zufolge die „Journal-Nutten“ (journa-putes, womit er Journalisten und Journalistinnen meint) eine Rolle. Auch empört er sich über das Einpferchen von Menschen in Hochhaussiedlungen in den Pariser Trabantenstädten, was an & für sich nachvollziehbar wäre - würde Dekhar nicht wörtlich hinzufügen, es handele sich um einen „genozidalen“ Vorgang. Aus einer nachvollziehbaren Kritik wird dadurch eine gründlich irre Behauptung. Manches von dem, was er schreibt, klingt paranoid – anderes wie ein Stück aus dem Tollhaus oder aus der Rubrik GAU, für „gröbster anzunehmender Unfug“. So behauptet er: „Der Markt ist von seinem Wesen her faschistisch.“ (Sic!) Alles in allem kann man festhalten, dass Dekhar von der Gesellschaft und der Kritik an ihr nicht viel verstanden hat, aber eine Menge kräftig klingender Begriffe benutzt, die irgendwie sozialkritisch erscheinen.

Für die französische Polizei und Justiz war Abelhamid Dekhar kein Unbekannter. Er war im Oktober 1994 im Zusammenhang mit der „Rey-Maupin-Affäre“ festgenommen worden. Es ging dabei um eine Schießerei, die fünf Menschen das Leben kostet: einen Taxifahrer, drei Polizisten und den Tatbeteiligten Audry Maupin. Die 19jährige Florence Rey und ihr 22jähriger Freund, Maupin, hatten damals einen Abstellplatz für Autos an der Grenze zwischen Paris und der Vorstadt Pantin überfallen. Die Polizei deponiert dort die Autos, die aufgrund von Parkverstößen oder Verkehrsdelikten abgeschleppt worden sind und kostenpflichtig ausgelöst werden müssen. Der irre Plan der beiden jungen Leute bestand darin, die dort ihren Dienst verrichtenden Polizisten zu überfallen, um ihnen ihre Waffen abzunehmen und sie bei späteren Banküberfällen zu benutzen. Das Jagdgewehr, das die beiden mit sich führten, hatte zuvor Abdelhakim Dekhar gekauft, unter Vorlage seines Personalausweises. Deswegen wurde er wegen Beihilfe verhaftet, saß vier Jahre in Untersuchungshaft und wurde 1998 zu einer vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die durch die U-Haft abgegolten war. Daraufhin verschwand er für anderthalb Jahrzehnte nach London, wo ein Bruder und eine Schwester lebten, arbeitete dort in einem Restaurant und führte zwei gescheiterte Ehen.

Die Affäre, die damals vorübergehend die Debatte um eine Wiedereinführung der – 1981 abgeschafften – Todesstrafe aufflammen ließ, hatten einen im weiteren Sinne politischen Hintergrund. Denn Rey und Maupin zählten zur autonomen Szene. Zum besseren Verständnis muss man jedoch darauf hinweisen, dass dieser Begriff in Frankreich eine völlig andere Realität bezeichnet als in vielen Nachbarländern. In Italien waren die Autonomen in den 1970er Jahre Teil einer linken Massenbewegung mit sehr realer Verankerung in der Arbeiterschaft. In Westdeutschland waren sie zehn Jahre später zumindest die stärkste Kraft auf der radikalen Linken, bevor sich die autonome Bewegung in den Neunzigern sehr stark auszudifferenzieren begann. Dagegen ist das gleichnamige Spektrum in Frankreich ein hochgradig marginales Milieu, weil es andere Kräfte auf der radikalen Linken gibt, die einen vergleichbaren gesellschaftlichen Platz bereits besetzen: libertäre Kommunisten, Trotzkistinnen oder organisierte Anarchokommunisten. Was als Autonome im engeren Sinne bezeichnet wird, ist ein in hohem Maße gewaltaffines Spektrum, das stark von Polizeispitzeln und Psychopathen durchsetzt ist und von Individuen, die am Rande der gewöhnlichen Kriminalität stehen.

Florence Rey hat ihre Haftstrafe seit 2009 abgesessen: Sie war zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden und musste davon fünfzehn absitzen, bevor sie wegen „außerordentlich guter Führung“ frei kam. Im Jahr 2010 spielte als Schauspielerin in einem Film von Jacques Ricard mit. Zu Anfang der vorletzten Novemberwoche Woche ließ sie über ihren Anwalt, den prominenten Menschenrechtler Henri Leclerc, mitteilen, sie sei ungehalten über das häufige Auftauchen ihres Fotos in den Zeitungen der letzten Tage: Sie habe „ihre Schuld an die Gesellschaft bezahlt“ und jeglichen Kontakt zu Dekhar abgebrochen. Sie bedauere, dass „diese finstere Persönlichkeit nicht ihrerseits alle Lehren aus den schrecklichen Ereignissen vom Oktober 1994 gezogen hat, sondern sich dazu entschied, erneut in schwerwiegende kriminelle Aktionen einzutauchen“.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.